Der Zürcher Albert Welti (1862–1912) zählte zu den bekanntesten Schweizer Malern seiner Generation. Das Zürcher Kunsthaus präsentiert seine Druckgrafik. Welti nutzte sie als Freiraum für seine skurrilen Phantasien.
Viele Schweizerinnen und Schweizer kennen Albert Welti – selbst jene, die ihn nicht kennen. Von ihm stammt die Wandmalerei, welche im Ständeratssaal im Bundeshaus in Bern die Wiege der schweizerischen Demokratie feiert: «Die Landsgemeinde» (1907–1914), ein farbenprächtiges, patriotisches und in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens oft gezeigtes Bild.
Albert Weltis andere meist kleinformatigen Malereien fristen in der Schweizer Museumslandschaft eher ein Dasein im Verborgenen, und seine Druckgrafik bleibt, lichtgeschützt, in der Schublade. Jetzt allerdings rückt eine Ausstellung im Zürcher Kunsthaus diese Druckgrafik ins Blickfeld. Ihr Titel: «Albert Welti und die Grafik des Fantastischen». Kuratiert hat sie Jonas Beyer, der Welti den «grossen Unzeitgemässen» der Schweizer Kunst nennt, weil er Wege abseits des Üblichen suchte und selten dort andockte, wo es alle Welt getan hat.
Weit gespannter Bogen
Jonas Beyer spannt den Bogen weit und bezieht zahlreiche weitere Künstler zum Vergleich in sein Konzept ein: Eugène Delacroix, Giovanni Piranesi, Francisco Goya, Rodolphe Bresdin, Odilon Redon, Félicien Rops, Max Klinger und andere sind mit einzelnen oder mehreren Blättern in der Ausstellung vertreten. Darunter sind Koryphäen internationalen Formats auszumachen. Welti hält sich in dieser Gesellschaft gut, auch wenn für ihn Goya unerreichbar bleiben muss. Das ist das eine. Das andere: Dass es mehrheitlich Künstler sind, die eine oder gar mehrere Generationen vor Welti geboren wurden, ist kein Zufall. Der Böcklin-Schüler Welti war, was man heute einen «Retrokünstler» nennen mag, ein Künstler also, der die Rückschau liebte, sich in seiner Malerei – auch in technischer Hinsicht – an Vergangenem orientierte und dabei mitunter in lustvolles Fabulieren verfiel. Mehr noch als in den Gemälden widmete er sich in seiner Druckgrafik mit Könnerschaft privaten Fantastereien und Traumwelten, wie sie im 19. Jahrhundert gerne gepflegt wurden.
Es entsteht der Anschein, als hätten sich manche von Weltis Kollegen, aber auch er selbst in der Druckgrafik ein sicheres und geschütztes Refugium vorbehalten, das ihnen ein Ausspielen ihrer Fantasieausbrüche nicht nur gestattete, sondern geradezu förderte. Beigetragen dazu haben auch die oft gerade alchemistisch anmutenden druckgrafischen Techniken mit ihren Abstufungen der Tonwerte und ihren fein ziselierten und sich verästelnden Linienführungen.
Fabulierlust
Weltis Sujets sind Hexen, Pegasus, Amazonen und andere mythologische Gestalten, Gespenster, Kobolde und anderweitig Zwielichtiges. Ein geradezu fulminantes, aber auch doppelbödiges Blatt nannte er «Faunsjagd». Es misst nur 9 auf 14 cm und zeigt skizzenhaft hingeworfen ein galoppierendes Pferd. Eine zerzauste Gestalt zieht es vorwärts und eine zweite hält es zurück. Was der Inhalt des Blattes ist, lässt sich nicht genau ausmachen. Liess der Künstler sich von Witz- und Unterhaltungsblättern anregen? Ging es ihm nur um Eskapade und Exaltiertheit? Wichtig schien ihm aber in erster Linie der Gaul selbst in extremer Position – eine Erinnerung vielleicht an den väterlichen Pferdetransport-Betrieb Welti-Furrer in Zürich, für den sich Welti mitunter als Werbegrafiker betätigte. Die «Faunsjagd» gestattete ihm aber eine weit exzentrischere Zeichnung als die Reklame. Der Gedanke an private Fantasien oder an die reine Lust am Fabulieren, die keiner Rechtfertigung bedarf, drängt sich auf.
Auch das kleine Blatt «Einladung zur Schlusskneipe der Klinicisten» (1887) mit Skelett links und Bier trinkendem Studenten rechts mischt allerhand Fantastereien auf, bleibt allerdings im thematischen Umfeld der Auftraggeber, einer studentischen Verbindung angehender Mediziner. Nahe bei Auftraggebern und ihren privaten Interessen und Vorlieben blieb er auch, wenn es um «Exlibris»-Gestaltungen für Freunde und Bekannte ging.
Hohe Könnerschaft, sowohl technisch in den Tonwerten zwischen Hell und Dunkel als auch in der inhaltlichen Komplexität zeigt sich auch im respektabel grossen Blatt «Die Fahrt ins 20. Jahrhundert», in dem sich Welti auch als Meister des «Wimmelbildes», der Choreografie der Massen, profiliert. Ähnlich «Die Mondnacht» von 1896: Die Radierung mutet beinahe gespenstisch an. Fast die Hälfte des Blattes ist schwarz. Auf dem Bett liegen ein Mann und eine Frau. Der Mond wirft sein milchiges Licht auf die Beine des Paars, das draussen einen Reiter vorbeiziehen sieht. Albert Welti scheint uns in Ansätzen eine Geschichte zu erzählen, die er uns weiterzuspinnen einlädt, ohne uns aber zu verraten, welche Richtung er einzuschlagen gewillt ist. Alles bleibt in der Schwebe. Ungehemmt bricht des Künstlers Fabulierlust auf an den Rändern eines undatierten Blattes, auf die Welti verschiedene Probeätzungen appliziert. Hier scheinen die zeichnerischen Einfälle des Künstlers keine Grenzen zu kennen. Da setzt Welti feinste Linien, Rasterungen und Tonwerte ein, um das Experimentieren auf die Spitze zu treiben. In der Neujahrskarte für 1903 mit von Männern bestaunten Frauen glänzt er mit dem heute nicht mehr ganz stubenreinen Spruch «Die Weiblein sind die Freuden, die vom alten Jahr ins neue kommen ohne Gefahr».
Albert Welti und Ferdinand Hodler
Die Ausstellung von Weltis Druckgrafik gibt Einblick in eine gerade in ihrer Intimität faszinierende Kunst abseits grosser Ströme. Sie regt die Entdeckerfreude an und lockt zum Vergleichen und Abwägen. Als Kontrast dazu lohnt sich ein Zurückkommen auf die fünfteilige grosse «Landsgemeinde»-Malerei im Ständeratssaal. Welti war unter den Schweizer Malern der Jahrhundertwende ein angesehener Künstler – allerdings nicht, weil er ein Meister des monumentalen Grossformates war. Er war, im Gegenteil, Spezialist für das mit Hingabe gemalte Kleine, wie es im Zürcher Kunsthaus in den Sammlungsräumen des Moser-Baus zu besichtigen ist. Man mag ihn gar einen Spezialisten für das Kleinste nennen, wie es die Ausstellung seiner teils briefmarkenkleinen Druckgrafik zeigt. Da manifestiert sich eine der vielen Absurditäten schweizerischer Kulturpolitik: Sie machte den «Miniaturisten» Albert Welti zum Wandbildmaler (und stellte ihm den in diesem Fach bewanderten Wilhelm Balmer zur Seite). Umgekehrt liess man den auf Monumentales spezialisierten Ferdinand Hodler im Bundeshaus leer ausgehen – und entschädigte ihn mit dem Auftrag für die erste Banknoten-Serie der Schweizerischen Nationalbank, mit Kleinformatigem also. Immerhin hatte damit (fast) jeder Schweizer mit einem Fünfernötli einen «echten Hodler» im Portemonnaie.
Albert Welti, *1862 in Zürich, abgebrochene Ausbildung zum Fotografen, Akademieaufenthalt in München, 1885 Bekanntschaft mit Arnold Böcklin, der Weltis Vater von der künstlerischen Begabung seines Sohnes überzeugt. Bald erste Radierungen und Eintritt als Schüler ins Atelier Böcklins. Weiterbildung im Radieren in München. Erfolge in Deutschland und einige öffentliche Aufträge in der Schweiz, darunter für das Wandbild im Ständeratssaal und andere Malereien im Bundeshaus. Welti gilt zu Lebzeiten als der bekannteste Maler der Schweiz. 1912 Ehrendoktor der Universität Zürich. Im gleichen Jahr Tod in Bern.
Kunsthaus Zürich, Moser-Bau. Bis 9. Februar. Publikation 30 Franken.