In einem Prozess wegen Veruntreuung öffentlicher, europäischer Gelder gegen 27 Politikerinnen und Politiker des rechtsextremen «Rassemblement National» hat die Staatsanwaltschaft in Paris dieser Tage gesalzene Strafen gefordert – besonders auch gegen die Gallionsfigur der Partei, Marine Le Pen. Ihr drohen fünf Jahre Gefängnis, davon drei auf Bewährung, eine Geldstrafe von 300’000 Euro und, vor allem, der Entzug des passiven Wahlrechts für die nächsten fünf Jahre.
Man möchte wahrlich nicht in der Haut der Richter des Pariser Strafgerichts stecken. Denn nach diesem spektakulären und für die extreme Rechte im Grunde vernichtenden Prozess wegen Veruntreuung von EU-Geldern in grossem Massstab müssen die Richter im Lauf der kommenden Monate de facto auch darüber entscheiden, ob die dreifache Präsidentschaftskandidatin des rechtsextremen «Rassemblement National» im Frühjahr 2027 ein viertes Mal den Versuch unternehmen darf, für das Präsidentenamt zu kandidieren oder nicht.
Ende der politischen Karriere?
Denn sollten die Richter in einigen Monaten dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft folgen, so wäre die politische Karriere von Marine Le Pen zumindest vorübergehend, vielleicht aber auch definitiv zu Ende.
Und dies just zu einer Zeit, da sie und ihre Partei sich ungeahnter Höhenflüge erfreuen, inzwischen tatsächlich vor den Toren zur Macht stehen und gut ein Drittel der französischen Wähler hinter sich vereinen können – in den letzten zwei Jahren haben bei verschiedensten Wahlen zwischen 11 und 13 Millionen Französinnen und Franzosen für Marine Le Pen und ihre Partei gestimmt.
Gewiss: Das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmass hat es in sich, liegt, de facto und nüchtern betrachtet, aber nur im mittleren Bereich dessen, was das Antikorruptionsgesetz für Politiker aus dem Jahr 2016 vorsieht.
Es ist ein Gesetz, welches vor acht Jahren unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande – nach einem Skandal in seinem eigenen politischen Lager – von allen Parteien gutgeheissen und mit den Stimmen aller dieser Parteien in der Nationalversammlung verabschiedet worden war. Auch 85% der Franzosen stimmten diesem Gesetz laut Meinungsumfragen zu.
Nun aber, da dieses Gesetz zur Anwendung kommt und ernste Konsequenzen drohen, ist das Geschrei bei der extremen Rechten geradezu ohrenbetäubend laut.
Marine Le Pen verstieg sich in einem Interview der abendlichen Hauptnachrichtensendung des Fernsehsenders TF1 an diesem Freitag gar zu der Aussage, bei dem «empörenden Strafantrag» handle es sich um «die politische Todesstrafe», die Staatsanwaltschaft wollten nichts anderes, als ihren, Marine Le Pens politischen Tod und mindestens elf Millionen Franzosen daran hindern, bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu wählen, wen sie wollen.
Der europäische Goldesel
Im Grunde aber haben Marine Le Pen und ihre Partei sich ihre missliche Lage – trotz allem Geheule über die parteiische, politische und viel zu strenge Justiz – selbst zuzuschreiben. Denn sie haben, auch wenn sie bis heute so tun, als seien sie sich keinerlei Schuld bewusst – mit Kalkül und über Jahre hinweg – gründlich Unfug getrieben mit öffentlichen EU-Geldern.
Alles begann zu einer Zeit, im Jahr 2004, als es der Partei finanziell ausgesprochen schlecht ging. Damals sass Parteigründer Jean-Marie Le Pen, heute 96 und aus gesundheitlichen Gründen vom Prozess befreit, noch fest im Sattel. Es war eine Zeit, als dem «Front National» offensichtlich alle Mittel Recht waren, um die riesigen Löcher in der Parteikasse zu stopfen.
Zum einen nahm man damals Kredite bei Putin nahestehenden Banken in Russland auf, zum anderen begann man, sich geradezu hemmungslos in den Kassen des europäischen Parlaments zu bedienen.
Konkret sind Marine Le Pen und 26 Mitangeklagte in diesem spektakulären Prozess, der auf zwei Monate angesetzt ist, mit dem Vorwurf konfrontiert, zwischen 2004 und 2016 mit EU-Geldern reihenweise parlamentarische Assistenten beschäftigt zu haben, welche in keinster Weise für die jeweiligen EU-Abgeordneten des «Front National», später «Rassemblement National», sondern ausschliesslich für die Partei gearbeitet haben.
Da hat z. B. ein EU-Abgeordneter innerhalb von acht Monaten mit seinem Assistenten gerade mal eine einzige SMS ausgetauscht, ein anderer einen Assistenten ohne jedes Bewerbungsgespräch angestellt. Da wurde kaum einer der angeblichen Assistenten jemals an seinem eigentlichen Arbeitsort in Strassburg oder in Brüssel gesichtet und sogar die Pariser Bürochefin als auch der Leibwächter von Marine Le Pen wurden über dieses Scheinbeschäftigungssystem finanziert.
Ein System
Jeder EU-Abgeordnete verfügt monatlich über beachtliche 21’000 Euro, um Assistenten anzustellen. Multipliziert mit einer beträchtlichen Anzahl von Abgeordneten und den stolzen zwölf Jahren, in denen dieses System funktionierte, ergibt das eine Summe von 4,3 Millionen Euro, die von Marine Le Pen und ihrer Partei zweckentfremdet ausgegeben wurden.
Während des gesamten Prozesses vermittelten sämtliche Angeklagten den Eindruck, als hätten sie nie daran gedacht, mit den Scheinbeschäftigungen etwas Ungesetzliches zu tun und dafür bestraft werden zu können.
Die Staatsanwaltschaft spricht in der Begründung ihres Strafantrags von «einem System der Veruntreuung öffentlicher Gelder von bislang unbekanntem Ausmass», das über einen bislang nie da gewesenen Zeitraum hinweg funktioniert habe. Ein System, das von der Parteiführung organisiert und überwacht worden sei und allein den Interessen der Partei und ihrer führenden Persönlichkeiten gedient habe.
Le Pens Verteidigung
Marine Le Pen stürzte nach Bekanntgabe des geforderten Strafmasses letzten Mittwoch höchst persönlich und sichtlich echauffiert auf die wartende Journalistenschar im Pariser Justizpalast zu und empörte sich, innerlich kochend, über eine «politische Justiz, die angetreten ist, den Wählerwillen von Abermillionen Franzosen zunichte zu machen. Die geforderten Strafen zeigen, dass man die Franzosen daran hindern will zu wählen, wen sie wollen».
Marine Le Pen, obwohl selbst von Beruf Rechtsanwältin, hatte während der Verhandlungen mit einer Mischung aus Nonchalance und Arroganz argumentiert, einem EU-Abgeordneten stehe schliesslich frei mit der ihm zugestandenen Geldsumme für parlamentarische Assistenten zu machen, was er wolle. Dabei spielte sie untergründig die Melodie, wonach es sich bei den veruntreuten Summen schliesslich um europäisches Geld handle, was die französische Justiz ja im Grunde nichts angehe.
Ja, sie spielte sogar die Naive und argumentierte vor Gericht tatsächlich, sie sei sich in der ganzen Zeit keiner Schuld bewusst gewesen, da das Europäische Parlament über ein Jahrzehnt lang am Umgang ihrer Partei mit den Geldern für Parlamentsassistenten nichts auszusetzen gehabt und ihr keinerlei Vorwürfe gemacht habe.
Und schliesslich liess Marine Le Pen bei ihrer Verteidigung immer wieder einfliessen, dass sie letztlich ja überhaupt nur vor Gericht stehe, weil dieser böse Martin Schulz, dieser Sozialdemokrat und ehemalige Präsident des EU-Parlaments von 2012 bis 2017, der die gerichtlichen Untersuchungen veranlasst hatte, ihr natürlich feindlich gesinnt gewesen sei und ihr Böses gewünscht hätte. Kurzum: Dieser Prozess sei von hinten bis vorne ein politischer Prozess, nichts mehr und nichts weniger.
Respekt vor der Justiz ?
Noch bis vor nicht allzu langer Zeit galt auch in Frankreich: Eine Gerichtsentscheidung oder ein laufendes juristisches Verfahren werden von der Politik nicht kommentiert. «Politiker, Maul halten und basta!» lautete die gute Devise.
Inzwischen aber zieht das Getöns gegen eines der Grundprinzipien der Aufklärung, der Gewaltenteilung, das bislang in Frankreich der extremen Rechten vorbehalten war, durchaus weitere Kreise.
Das öffentliche und politische Klima scheint mittlerweile derart heruntergekommen, dass selbst Politiker aus dem traditionellem konservativen Lager plötzlich ganz offen Entscheidungen der Justiz kritisieren. So etwa der langjährige Innenminister unter Präsident Macron, Gerald Darmanin.
Einer, der über Jahre hinweg eines der wichtigsten Ministerämter bekleidet hat, sagte jetzt doch tatsächlich: «Es wäre zutiefst schockierend, wenn Marine Le Pen nicht mehr wählbar wäre, sich nicht mehr der Wahl der Franzosen stellen könnte. Madame Le Pen muss in den Wahlurnen bekämpft werden und nirgendwo anders.»
Doch der ehemalige Innenminister Macrons, übrigens ein verbriefter Sarkozy-Boy, blieb mit seiner Kritik nicht der einzige im bürgerlichen Lager. Auch Christian Estrosi, der konservative Bürgermeister von Nizza, sah sich zu einer ähnlichen Äusserung bemüssigt: «Ich bin ein entschiedener Gegner von Marine Le Pen, aber sie muss in den Wahlurnen bekämpft werden und nicht im Gerichtssaal. Wenn sie verurteilt werden muss, dann sei dem so, aber die demokratische Auseinandersetzung darf nicht verhindert werden.»
«Es darf nicht sein, dass der normale Gang der Demokratie dem Wähler ein weiteres Mal entzogen wird», lautete der Kommentar des ehemaligen Parteichefs der konservativen «Les Républicains», Eric Ciotti. Einer, der sich bei den letzten, von Macron provozierten Parlamentswahlen mit der extremen Rechten verbündet hatte.
Sein Satz ist eine Anspielung auf das Schicksal von Ex-Premierminister François Fillon, der in seiner langen politischen Karriere über zwei Jahrzehnte hinweg seine eigene Frau als Parlamentsassistentin auf Staatskosten eingestellt hatte, ohne dass diese jemals die Pariser Nationalversammlung betreten hätte oder auch nur irgendeine Tätigkeit für den Abgeordneten Fillon hätte vorweisen können.
Dieser Skandal war wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen 2017 ans Licht gekommen und hatte François Fillon – inzwischen definitiv schuldig gesprochen und u. a. für zehn Jahre als unwählbar erklärt – damals den Einzug in den entscheidenden zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen gekostet.
Heuchlerische Empörung
Für Marine Le Pen wird es angesichts ihrer so heftigen Proteste gegen das Strafmass der Pariser Staatsanwaltschaft allerdings reichlich mehr als peinlich, wenn man in den Radio- und Fernseharchiven früherer Jahre stöbert. Damals liess Marine Le Pen keine Gelegenheit aus, die allzu nachlässige, die allzu lasche Justiz ihres Landes aufs Korn zu nehmen und das Establishment sowie die traditionellen Parteien in schärfsten Tönen anzuklagen, sich in den öffentlichen Kassen zu bedienen und allesamt mehr oder weniger korrupt zu sein .
Im Jahr 2004, zum Beispiel, als sie in der Partei noch nicht mehr war als die erfolgsversprechende Tochter des Parteigründers des «Front National», Jean Marie Le Pen, tönte sie in einer Talkshow des Fernsehens: «Die Franzosen haben genug von all diesen Affären und genug davon, dass Abgeordnete öffentliche Gelder veruntreuen. Das ist ein Skandal.»
Diese Äusserung tat Marine Le Pen, nachdem der konservative Spitzenpolitiker Alain Juppé, damals durchaus ein möglicher Präsidentschaftskandidat der Rechten für die Wahlen 2007, wegen eines Systems der Scheinbeschäftigung zugunsten der konservativen RPR-Partei von Jacques Chirac angeklagt und verurteilt worden war. Juppé hatte, wenn man so sagen kann, mit Würde für den damals noch amtierenden Präsidenten Chirac den Kopf hingehalten. Sein politisches Gewicht sollte nach Verbüssen seiner Strafe, zumindest landesweit, nie mehr dasselbe sein wie zuvor.
Doch im Unterschied zu heute hatten Alain Juppé und seine Partei das Urteil der Justiz in jenem Jahr 2004 ohne polemische Kommentare und ohne künstliche Empörung schlicht und einfach akzeptiert und nicht weiter kommentiert.
Kleines Detail am Rande: Im Grunde haben Marine Le Pen und ihre Partei in ihrer Affäre mit Geldern des EU-Parlaments nur kopiert, was ihnen Jacques Chirac in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits vorexerziert hatte. Damals hatte man auf Kosten der Stadt Paris, deren Bürgermeister Jacques Chirac hiess, ein paar Dutzend Mitarbeiter angestellt, die de facto nie – wie vorgegeben – für die Stadt Paris gearbeitet hatten, sondern einzig und allein für die RPR-Partei des Vorsitzenden Jacques Chirac, welche für jenen als Wahlkampfmaschine zur Eroberung des Élyséepalastes in den 90er Jahren unerlässlich gewesen war.
Opferrolle auf Hochtouren
«Dura lex, sed lex» – Marine Le Pen und Konsorten versuchen dieser Tage alles, um dieses uralte Prinzip in Vergessenheit zu bringen und tun so, als dürfe die Justiz eine potentielle Präsidentschaftskandidatin einfach nicht belangen, so als geniesse man, auch nur als mögliche Kandidatin, bereits automatisch Immunität.
Und natürlich gibt es aus der Sicht dieser extremen Rechten kaum etwas Besseres, als sich als Opfer des Systems, des Establishments und einer politisierten Justiz darzustellen, nach dem Motto: Seht her, die Justiz, diese linken Staatsanwälte und Richter, wollen uns zum Schweigen bringen.
Und leider ist das Klima auch in Frankreich mittlerweile so, dass dieser Dreh mit der Opferrolle, gepaart mit dem massiven Verbreiten von Unwahrheiten, bestens funktioniert.
Gleich am Tag nach dem Verlesen des Strafantrags hat die rechtsextreme Partei eine grossangelegte Kampagne gegen die Justiz und zur Unterstützung ihrer von gehörigen Strafen bedrohten Politiker lanciert. Eine Petition im Internet unter dem Titel «Rettet die Demokratie – unterstützt Marine» soll am ersten Tag bereits über 100’000 Mal unterzeichnet worden sein.
«Die Justiz will nicht nur einer Partei Fesseln anlegen, sondern der Demokratie schlechthin. Zeigen wir denjenigen, die Marine Le Pen zum Schweigen bringen wollen, dass sie nicht alleine ist», so die Kernsätze der Petition. Es gehe der Staatsanwaltschaft nicht um Gerechtigkeit, schimpfte der Parteivorsitzende, Jordan Bardella, in den sozialen Netzwerken, sondern darum, sich auf Marine Le Pen einzuschiessen und sich an ihr zu rächen.
Der «Rassemblement National» verhält sich in seinen Reaktionen auf den Strafantrag grenzenlos heuchlerisch und glänzt durch ausgesuchte Doppelzüngigkeit. Alles, was Marine Le Pen und ihre Partei seit zwei Jahrzehnten lautstark kritisiert und empört an den Pranger gestellt hatten, soll seit dem 14.11.2024 und dem Verlesen des Strafantrags gegen Verfehlungen und Delikte ihres eigenen politischen Lagers plötzlich nicht mehr gelten – ihre lautstarke Kritik vergangener Jahre an der herkömmlichen Politikerklasse, die in Dutzende Affären verstrickt war und sich an öffentlichen Geldern schadlos gehalten hatte, fliegt Marine Le Pen nun um die eigenen Ohren. Plötzlich ist das Einschreiten der Justiz in den Augen von Le Pen & Co. sogar nichts anderes als ein einziger Skandal, ja ein Komplott gegen sie.
Marine Le Pen hat mit diesen Tiraden gegen die Justiz ihres Landes die jahrelangen Bemühungen, ihre Partei hoffähig zu machen, quasi von heute auf morgen über den Haufen geworfen und zunichte gemacht. Seit der Verkündung des Strafantrags gegen sie und 26 Mitangeklagte ihrer Partei hat sie alle Masken fallen lassen und ein Verhalten an den Tag gelegt, welches dem eines Donald Trump nicht unähnlich ist.