Mario Draghis Chancen, nächster Staatspräsident zu werden, sind noch immer intakt. Doch es wird keine einfache, schnelle Wahl. Die Rechtsparteien möchten, dass Draghi Ministerpräsident bleibt. Noch ist alles möglich.
Der parteilose 74-jährige Mario Draghi, früher Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), ist offenbar bereit, die Nachfolge von Staatspräsident Sergio Mattarella anzutreten. Bei den Wahlen, die am Montag beginnen, ist er im Moment der einzige ernsthafte Kandidat.
Draghi liegt auch in Meinungsumfragen vorn. In einer am Samstag vom «Corriere della sera» veröffentlichten Erhebung schneidet er klar am besten ab – vor Marta Cartabia, der früheren Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts und Justizministerin im Kabinett Draghi. Sie wäre die erste italienische Staatspräsidentin. Ihre Wahl ist zwar eher unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen.
Doch nicht Meinungsumfragen bestimmen, wer Staatspräsident wird, sondern die 1008 Parlamentarier und Regionaldelegierten.
Feilschen, Intrigieren, Drohen, Taktieren
Berlusconi tat sich schwer, das Feld zu räumen. In den ersten drei Wahlgängen gilt das Zwei-Drittel-Mehr. Berlusconi hatte gehofft, genügend Stimmen zu sammeln, um im vierten Wahlgang, wenn nur noch das absolute Mehr gilt, gewählt zu werden. Doch offensichtlich gelang es ihm nicht, mindestens 505 Parlamentarier und Delegierte zu überzeugen, für ihn zu stimmen.
Natürlich ist es eine Schande, dass die drei Rechtsparteien, die im Parlament über die Mehrheit verfügen, sich tagelang von Berlusconi gängeln liessen und keine valable Kandidatur präsentieren konnten. Die Rechte ist alles andere als in Minne vereint.
Am Wochenende geriet das Feilschen, das Intrigieren, das Drohen und Taktieren in die heisse Schlussphase. Doch bisher gelang es den grossen Parteien nicht, sich auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu einigen.
Nicht eine, sondern zwei Wahlen
Diesmal ist diese Wahl besonders wichtig, denn es geht nicht nur um das neue Staatsoberhaupt: Es geht auch darum, wer die Regierung führt. Also darum: Welchen Weg Italien künftig einschlagen wird. Deshalb ist die Wahl auch für Europa wichtig.
Und deshalb auch stehen ab diesem Monat in Rom nicht eine, sondern zwei Wahlen an. Eine direkte und eine indirekte.
Konkret geht es darum: Soll Ministerpräsident Mario Draghi Regierungschef bleiben – oder soll er Staatspräsident werden?
Berlusconis Groll auf Draghi
Draghi ist weit herum respektiert. Die «Financial Times» lobte den 75-Jährigen diese Woche über den grünen Klee. Und der «Economist» hatte Draghis Italien zum «Land des Jahres» gekürt. Zweifellos ist es dem Ex-Zentralbanker gelungen, das Land in ruhigere Fahrwasser zu steuern. Italien ist international wieder respektiert, das BIP steigt: Wieder wird investiert. Das Land hat neuen Mut gefasst. Die lethargische Stimmung ist verflogen.
Doch nicht überall entfacht Draghi Begeisterungsstürme. Silvio Berlusconi hat noch eine offene Rechnung mit ihm. Im Herbst 2011 war Berlusconi gestürzt worden. Der vierfache Ministerpräsident wirft Draghi noch heute vor, am Sturz mitgewirkt zu haben. Tatsächlich hatte Draghi, der damals neue EZB-Präsident, Berlusconi ultimativ aufgefordert, seine Wirtschafts- und Finanzpolitik «endlich in den Griff zu bekommen».
Doch nicht nur Berlusconi hat Vorbehalte. Für einige ist Draghi allzu «pro-europäisch», und einige Vertreter der Linken sehen vor allem den «Kapitalisten» und «Zentralbanker Draghi». Doch das sind Minderheiten.
Draghi muss «an der Spitze der Regierung bleiben»
Viele allerdings möchten ihn auf dem Posten des Regierungschefs behalten, denn als solcher, heisst es, könne er Italien dienlicher sein und mehr ausrichten als im Amt des Staatspräsidenten mit seinen doch eher repräsentativen Funktionen. Auch die drei Rechtsparteien haben sich am Samstagabend nach dem Rückzug von Berlusconi auf diese Linien geeinigt: Draghi soll Ministerpräsident bleiben. Mit ihm als Regierungschef, heisst es, wäre eine Kontinuität der bisherigen produktiven Politik gewährleistet. Ohne Draghi nicht.
Die drei Rechtsparteien werden «einen gemeinsamen Vorschlag für das Amt des Staatspräsidenten machen, der den grösstmöglichen Konsens finden kann», heisst es am Samstagabend in einer Erklärung der Rechtsparteien. Draghi müsse «an der Spitze der Regierung bleiben». Wen die Rechtsparteien vorschlagen werden – darüber wird spekuliert.
Wer würde Ministerpräsident?
Trotzdem: Draghi erscheint im Moment als der einzige ernsthafte Kandidat. Sollte er – nach langem Feilschen – dann doch gewählt werden, wer nimmt dann seinen bisherigen Platz als Ministerpräsident ein? Wer wird dann die Regierung führen, wer wird die künftige italienische Politik bestimmen? Diese Frage ist genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als die Frage, wer Staatspräsident wird.
Zwar hat der Staatspräsident in Italien keineswegs nur repräsentative Funktionen wie in vielen anderen Ländern, doch den Regierungskurs bestimmt weitgehend der Ministerpräsident.
Deshalb kann die Wahl des Staatspräsidenten nicht gesondert betrachtet werden, sondern muss immer in Zusammenhang mit der neuen Regierungsbildung gesehen werden.
Ein Lega-Innenminister?
Schon hat das Feilschen begonnen. Matteo Salvini, der Chef der rechtspopulistischen «Lega», hatte sich bisher gegen Draghi als Staatspräsidenten ausgesprochen. Jetzt lässt er durchblicken, dass er dazu bereit sein könnte – unter der Bedingung dass die Lega in der künftigen Regierung den wichtigen Posten des Innenministers besetzen kann. Die Linke schreit schon auf.
Die drei rechtspopulistischen Parteien (Matteo Salvinis «Lega», Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia», Silvio Berlusconis «Forza Italia») verfügen im Parlament und in den Meinungsumfragen über eine Mehrheit. Sie werden also sicher den Anspruch erheben, die neue Regierung zu führen. Ob sie jedoch in der Vertrauensabstimmung genügend Stimmen erhalten, ist nicht sicher. Dann gäbe es Neuwahlen, so wie es Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen «Fratelli d’Italia» seit langem fordert.
Die Regierung an die Leine nehmen?
Mario Draghi war es gelungen, die wichtigsten Parteien (ausser den «Fratelli») in einer Art grossen Koalition zusammenzuhalten. Deshalb hat Italien ein recht ruhiges, produktives Jahr hinter sich. Es ist anzunehmen, dass diese Koalition bei einer Wahl Draghis ins Staatspräsidium schnell in Brüche geht. Wird dann Italien wieder von den traditionellen, unproduktiven politischen Streitereien erfasst werden?
Viele der 13 bisherigen italienischen Staatspräsidenten haben vor allem repräsentative Funktionen wahrgenommen und sich aus dem Regierungsgeschäft herausgehalten. Viele hoffen, dass Draghi, sollte er Staatspräsident werden, starken Einfluss ausüben und den Ministerpräsidenten – wer das dann auch immer ist – an die Leine nimmt. So wie es Emmanuel Macron in Frankreich vormacht.
Ob das dann gelingt, ist eine andere Frage.