Italien hat ein eher ruhiges und erfolgreiches Jahr hinter sich. Ministerpräsident Mario Draghi gelang es, die Wirtschaft zu beleben und dem Land – trotz Corona – Zuversicht und Vertrauen zurückzugeben. Doch es ist ein zartes Pflänzchen, das da wächst. Das Land ist längst noch nicht über dem Berg. Alles könnte bald wieder in Scherben liegen.
Nachdem der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi im vergangenen Februar die Regierung von Giuseppe Conte gestürzt hatte, ist es Mario Draghi gelungen, etwas Vernunft in den stürmischen Politbetrieb zu bringen. Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) zimmerte eine Koalitionsregierung, an der alle grösseren Parteien – ausser den postfaschistischen «Fratelli d’Italia» – beteiligt sind.
Draghi beruhigte die Märkte und die Investoren. Wirtschaftlich geht es endlich wieder aufwärts. Der «Economist» krönte Italien vorvergangene Woche zum «Country of the Year». Das ist Balsam auf die geschundene italienische Seele.
Jetzt bräuchte es Kontinuität
Der Ministerpräsident hat ein solches Gewicht, dass es die Leithammel der grossen Parteien kaum wagten, ihm die Stirn zu bieten. Draghi wusste das: Er regierte so, wie er es für gut fand, ohne Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der Parteichefs. Und er hatte Erfolg.
Jetzt bräuchte es Kontinuität. Riesige Aufgaben warten auf die Regierung. Vieles ist aufgegleist, aber das meiste zeigt noch keine Wirkung. Ein schwer beschädigtes, wirtschaftlich darniederliegendes Land kann nicht innerhalb eines Jahres aufgerichtet werden.
Das braucht Zeit. Nötig wäre, dass der national und vor allem auch international geachtete Draghi noch weiterregieren würde. Doch da wird es kompliziert.
Will Draghi Staatspräsident werden?
Im Januar oder Februar wählen die beiden Kammern des italienischen Parlaments einen neuen Staatspräsidenten. Sergio Mattarella, der bisherige «Präsident der Republik», ist 80 Jahre alt und tritt zurück. Wer wird sein Nachfolger?
Die grosse Frage ist: Will Mario Draghi das Amt des Ministerpräsidenten aufgeben und Staatspräsident werden? Es gibt Anzeichen, dass er will, und es gibt Anzeichen, dass er nicht will.
Würde er Staatspräsident, müsste das Amt des viel wichtigeren Ministerpräsidenten neu besetzt werden. Und da beginnt das Problem – und vor allem: die Schlammschlacht der Alphatiere. Wer würde Regierungschef oder Regierungschefin?
Wenn Draghi geht, hackt jeder dem anderen wieder die Augen aus.
Bei der Wahl des Staatspräsidenten geht es also um mehr als um die Besetzung des höchsten Amtes im Staat. Es geht um die Frage: Wer führt die künftige Regierung an – Draghi wie bisher oder jemand, der sich, wie immer in Italien, mit einem zersplitterten und sich selbst lähmenden Parlament herumschlagen muss?
Unter Draghi galt ein ungeschriebenes Stillhalteabkommen zwischen den Parteien. Wenn Draghi geht, wird dieses hinfällig, dann hackt jeder dem anderen wieder die Augen aus.
Rückfall ins Politschlamassel?
Eine neue, schwache Regierung ohne Draghi an der Spitze könnte das Erreichte schnell wieder zerschlagen. Das Land könnte dann erneut ins alte Politschlamassel zurückfallen. Dann könnte die Zeit des relativen Aufschwungs und der etwas künstlich erzeugten Zuversicht zu Ende gehen. Das Jahr 2022 könnte weniger ruhig und erfolgreich verlaufen als das Jahr 2021.
Zu einer möglichen Kandidatur von Draghi gibt es verschiedene Positionen – nicht etwa, weil jemand an seiner Autorität und seinen Fähigkeiten zweifeln würde. Sondern weil man sich fragt, wo er dem Land besser dienen kann: als Staats- oder als Ministerpräsident. Manche glauben, er könne als Regierungschef zur Zeit nicht ersetzt werden.
Viele jedoch sind nicht dieser Meinung. Alle kochen jetzt ihr eigenes Süppchen – und wechseln ständig die Meinung.
Lavieren und lavieren
Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen und rechtspopulistischen «Fratelli d’Italia», die wichtigste Rechtspartei, ist einmal für Draghi, dann wieder für Berlusconi – ebenso Matteo Salvini, der Anführer der ebenso rechtspopulistischen Lega.
Die Protestpartei «Cinque Stelle» laviert wie immer und ist sich – wie immer – uneinig. Die einen wollen Draghi, die anderen Berlusconi, und wieder andere wollen eine Frau im höchsten Amt des Staates sehen.
Matteo Renzi, der frühere sozialdemokratische Regierungschef, spielt wie immer ein undurchsichtiges Spiel. Und vor allem spielt er sich als Zünglein an der Waage auf.
Wie kann verhindert werden, dass die Rechtspopulisten die Macht in Italien übernehmen?
Einzig die Sozialdemokraten, die zur Zeit stärkste Partei in Italien, sprechen sich mehrheitlich deutlich dafür aus, dass Draghi als Ministerpräsident seine Arbeit fortsetzen soll.
Oder nicht – im Hintergrund steht für viele die Frage: Wie kann verhindert werden, dass die Rechtspopulisten die Macht in Italien übernehmen? Die Postfaschistin Giorgia Meloni hat klipp und klar gemacht, dass sie eine künftige Regierung führen will.
Rechtspopulistischer Konkurrenzkampf
Sie hofft, dass – sollte Draghi Staatspräsident werden – sich die Parteien nicht darauf einigen können, wer Ministerpräsident wird. Dann, so spekuliert sie, gäbe es Neuwahlen. Nach jetzigem Stand der Meinungsumfragen würden die drei Rechtsparteien (die «Fratelli», die Lega und Berlusconis Forza Italia) zusammen etwa 47 Prozent der Stimmen erhalten. Sie wären damit die klar stärkste Formation im Parlament und könnten den Ministerpräsidenten bestimmen. Und da Melonis Fratelli als stärkste der drei Rechtsparteien aus den Wahlen hervorgehen könnte, würde sie den Anspruch stellen, Ministerpräsidentin zu werden.
Noch ist allerdings längst nicht sicher, ob Melonis Partei stärkste Rechtsformation wird. Matteo Salvinis Lega folgt ihr auf dem Fuss. Würde die Lega stärkste Rechtspartei, würde Salvini seine Ansprüche anmelden. Zwischen Meloni und Salvini, die ideologisch kaum zu unterscheiden sind, herrscht vordergründig eitel Einigkeit, im Hintergrund jedoch schwelt ein zäher Konkurrenzkampf.
Drohender Verlust von Diäten
Doch ob es bald zu Neuwahlen kommt, ist längst noch nicht sicher, denn solche wollen die meisten Parlamentarier vermeiden. Die Italiener und Italienerinnen hatten vor gut einem Jahr in einer Volksabstimmung entschieden, dass beide Kammern des Parlaments um je einen Drittel verkleinert werden sollten. Bei Neuwahlen müssten also viele Abgeordnete und Senatoren fürchten, nicht mehr gewählt zu werden. Dann würden sie ihre stolzen Diäten und Spesen verlieren. So wollen sie lieber bis zum Ende der Legislatur im Frühjahr 2023 durchhalten.
Die Erfahrung zeigt, dass es im Belpaese Unsinn ist, Prognosen zu stellen, die über eine Zeitspanne von drei Monaten hinausreichen.
Meloni muss also vielleicht noch mindestens ein Jahr – bis zu den nächsten ordentlichen Wahlen – warten, bis ihr Traum Wirklichkeit wird.
Doch vielleicht kommt alles ohnehin ganz anders. In Italien kann innerhalb eines Jahres sehr viel geschehen. Die Erfahrung zeigt, dass es im Belpaese Unsinn ist, Prognosen zu stellen, die über eine Zeitspanne von drei Monaten hinausreichen.
Ausgewiesene Kandidaten und Kandidatinnen
Vielleicht will ja Draghi Ministerpräsident bleiben. Am 3. Januar wird Roberto Fico, der Präsident der Abgeordnetenkammer, den Kalender für die Präsidentschaftswahl vorlegen. Es ist anzunehmen, dass das Parlament am 18. oder 20. Januar mit der Wahl des Staatsoberhaupts beginnen wird. Wie lange die Wahl dauert, hängt davon ab, wie viele Wahlgänge nötig sind. Es ist nicht mit einer schnellen Wahl zu rechnen. Mehrere ausgewiesene Kandidaten stehen zur Verfügung.
Auch Kandidatinnen, so Paola Severino, die frühere Justizministerin, oder Marta Cartalbia, eine hochgeschätzte Verfassungsrechtlerin oder Letizia Moretti, frühere Ministerin für Bildung, Hochschule und Forschung oder Elisabetta Belloni, Diplomatin, Politikwissenschaftlerin, Generalsekretärin im Aussenministerium.
Berlusconi intensiviert seinen Wahlkampf
Silvio Berlusconi ist bisher der Einzige, der offen seine Kandidatur angemeldet hat. Unaufhörlich posaunt er ins Land hinaus, dass er im Parlament genügend Stimmen für sich gesichert habe. Inzwischen hat er seinen Wahlkampf intensiviert und versucht, die Reihen in seiner Forza-Italia-Partei zu schliessen. Seit Weihnachten hat er Dutzende Parlamentarier angerufen. Am 10. Januar will er in seiner Römer Residenz, der Villa Grande, alle einflussreichen Rechtspolitiker zu einem «Gipfelgespräch» empfangen und sie von seiner Kandidatur überzeugen.
Doch der Widerstand gegen ihn beginnt sich zu formieren, sowohl im Parlament als auch auf der Strasse. Am 4. Januar findet in Rom eine grosse Anti-Berlusconi-Demonstration statt. Dennoch ist nicht ganz ausgeschlossen, dass er im letzten Moment doch noch gewählt wird. Sollte Draghi nicht «Presidente della Repubblica» werden, würden Berlusconis Chancen steigen.
Schweigegelder?
Ironie der Geschichte: Exakt zur Zeit, da das Parlament im Januar einen neuen Staatspräsidenten wählen wird (mit Berlusconi als Kandidaten), muss derselbe Berlusconi am 21. Januar in Bari vor Gericht erscheinen. Die uralte Bunga-Bunga-Affäre holt ihn wieder ein. Es geht um die damals minderjährige «Ruby Rubacuori», der er etwas nahe gekommen ist – ebenso um junge Prostituierte, die in seinen Villen verkehrt sind.
Berlusconi wird vorgeworfen, den Unternehmer Gianpaolo Tarantini mit einer halben Million Euro zu Falschaussagen angestiftet zu haben. Tarantini war es, der Berlusconi Dutzende Frauen zugeführt hat. Der damalige Ministerpräsident sei fest überzeugt gewesen, so Tarantini, es habe sich um «elegante Damen» gehandelt.
Und nicht um teils minderjährige junge Frauen, die von Berlusconi einige Gunsterweisungen erhofften.