Schafft er es doch noch, Staatspräsident zu werden? Vor einigen Tagen sah es gar nicht so schlecht für ihn aus. Jetzt allerdings, wenige Tage vor der Wahl, könnten ihm die Felle davonschwimmen.
Ab dem kommenden Montag treten die beiden italienischen Kammern im Römer Palazzo Montecitorio zusammen und wählen in geheimer Abstimmung einen Nachfolger für den weitherum respektierten Staatspräsidenten Sergio Mattarella. Die siebenjährige Amtszeit des jetzt 80-Jährigen geht am 3. Februar zu Ende. Die Wahl des neuen Staatsoberhauptes könnte sich über mehrere Tage hinziehen.
Italien hat ein relativ ruhiges politisches Jahr hinter sich. Doch das könnte sich bald ändern. Das eben begonnene Jahr hat Potential für turbulente politische Zeiten. Vorzeitige Neuwahlen sind nicht ausgeschlossen. Wird das Land wieder dem traditionellen politischen Hick-Hack verfallen?
Gerade in schwierigen Zeiten bräuchte es eine starke moralische Instanz: einen Vermittler, einen Moderator, einen Brückenbauer, einen Schlichter, der das Land zusammenhält – eine moralisch integre Person. Deshalb ist jetzt entscheidend, wer neuer Staatspräsident wird.
60 Prozent der Italiener und Italienerinnen hassen ihn.
Die meisten in Italien sind sich einig, dass Silvio Berlusconi, der frühere vierfache Ministerpräsident, diese Voraussetzungen nicht mit sich bringt. Er ist ein Spalter, ein Demagoge, ein Egozentriker, ein Lügner, ein verurteilter Steuerbetrüger, ein Populist – und mindestens 60 Prozent der Italienerinnen und Italiener hassen ihn. Vor dem Parlament wird zum Wahlauftakt am kommenden Montag eine Anti-Berlusconi-Demonstration stattfinden. Wie soll einer wie er das Land zusammenhalten?
Doch Berlusconi glaubt, ihm stehe jetzt das höchste Amt im Staat zu – als Krönung seiner fast dreissigjährigen turbulenten Karriere. Er kämpft dafür wie ein Löwe. Und seine Chancen waren bisher intakt.
Keine absolute Mehrheit
Es gelang ihm, zumindest vordergründig, die drei rechtspopulistischen Parteien (Matteo Salvinis «Lega», Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia» und seine eigene «Forza Italia») hinter sich zu scharen. Diese drei Parteien verfügen im Parlament über die Mehrheit – allerdings nicht über die absolute Mehrheit. Und da liegt das Problem für Berlusconi.
Wahlberechtigt sind die 630 Mitglieder des Abgeordnetenhauses (Camera dei deputati), die 320 Senatoren und 58 von den Regionalräten bestimmte Personen. Also insgesamt 1008 Wahlmänner und Wahlfrauen.
Berlusconi fehlen 52 Stimmen
Während der ersten drei Wahlgänge ist die Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich: Ein Kandidat oder eine Kandidatin müssen also mindestens 673 der 1008 Stimmen erhalten, um in den ersten drei Durchgängen gewählt zu werden. Ab dem vierten Wahlgang gilt nur noch das absolute Mehr. Es wird dann so lange gewählt, bis ein Kandidat oder eine Kandidatin mindestens 504 der 1008 Stimmen erhält. Das kann dauern. (Die Präsidenten von Senat und Abgeordnetenkammer nehmen nicht an der Wahl teil.)
Berlusconi hofft, im vierten Wahlgang, wenn nur noch das absolute Mehr zählt, gewählt zu werden. Die drei rechtspopulistischen Parteien verfügen zusammen über 451 Stimmen. Berlusconi fehlen also 52 Stimmen.
Bearbeitet, flattiert, bekniet
Seit Tagen kämpft der 85-jährige sechsfache Milliardär wie ein Besessener um Stimmen. Ununterbrochen telefoniert er. Vor allem die gut hundert Parlamentarier und Parlamentarierinnen, die ideologisch wenig gefestigt sind und einmal nach links und einmal nach rechts tendieren, werden von ihm bearbeitet, flattiert, bekniet und mit Versprechen gelockt.
Nicht genug: Diese Woche will er von seiner Villa Arcore bei Mailand nach Rom fahren und Dutzende Parlamentarier persönlich treffen. «Berlusconis letzter Tanz» schreibt die Mailänder Zeitung «Corriere della sera». (Im letzten Moment hat er seine Reise nach Rom abgesagt.)
Die Lega zögert
Gelingt es ihm, die fehlenden Stimmen zu erhalten? Matteo Salvini, der Chef der rechtspopulistischen Lega, ist sich da plötzlich nicht mehr so sicher. Er verlangt von Berlusconi die definitive Zusicherung, dass er auf genügend Stimmen zählen kann. Nur dann will die Lega ab dem kommenden Montag für ihn stimmen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Berlusconi mit viel Geld Parlamentarier besticht.
Für Salvini geht es um viel. Wenn er sich mit seinem ganzen Prestige für Berlusconi ins Zeug legt und dieser dann doch nicht gewählt wird, steht auch der Lega-Chef mit abgesägten Hosen da.
Diese Tage werden also entscheidend sein, ob es dem «Kaiman», wie ihn der Filmemacher Nanni Moretti nannte, doch noch gelingt, mindestens 503 Stimmen zu sichern. Linke Politiker weisen darauf hin, dass es nicht das erste Mal wäre, dass Berlusconi mit viel Geld Parlamentarier besticht. Doch mehr als 50 Politiker bestechen – das wird nicht einfach sein.
Salvini in Nöten
Jedenfalls denkt Salvini offen über einen Plan B nach. Vor Journalisten sagte er am Montag, er könnte einen Kandidaten oder eine Kandidatin vorschlagen, der oder die «für viele, wenn auch nicht für alle, überzeugend sein wird». Diese Ankündigung schlug bei den Berlusconianern wie eine Bombe ein. Heisst das, dass sich Salvini von Berlusconi abgewendet hat?
Offenbar glaubt der Lega-Chef nicht mehr, dass es Berlusconi schaffen wird. Auch im eigenen rechten Lager gibt es Anzeichen, dass der Ex-Regierungschef vielleicht doch nicht mit dem Amt des Staatspräsidenten gekrönt werden sollte. So beginnt sich zum Beispiel die Mitte-rechts-Partei «Coraggio Italia», die immerhin 31 Sitze im Parlament hat, diskret von Berlusconi zu distanzieren.
Favorit Mario Draghi
Wer denn sonst, wenn nicht der Medienmogul? Natürlich bleibt Mario Draghi, der bisherige Ministerpräsident, der Favorit. Doch viele möchten, dass der weit herum respektierte Draghi Regierungschef bleibt, denn als solcher kann er dem Land mehr dienen denn als Staatspräsident. Draghi hat sich bisher noch nicht geäussert. Noch immer ist unklar, ob er überhaupt Staatspräsident werden will.
Natürlich ist alles ein undurchsichtiges Spiel: Es wird taktiert, gefeilscht, falsche Fährten werden ausgelegt.
Politiker und Medien präsentieren immer neue mögliche Kandidaten und Kandidatinnen. Die meist gut informierte Römer Zeitung «La Repubblica» sieht ein Kandidatenfeld von zwölf Personen. Dazu gehören neben Draghi und Berlusconi der Zentrumspolitiker Pier Ferdinando Casini, der frühere Ministerpräsident Giuliano Amato, der frühere Ministerpräsident und heutige EU-Kommissar Paolo Gentiloni, Marta Cartalbia, eine hochgeschätzte Verfassungsrechtlerin oder Letizia Moretti, frühere Ministerin für Bildung, Hochschule und Forschung, Senatspräsidentin Maria Elisabetta Casellati, aber auch der frühere EU-Chef Romano Prodi oder Kulturminister Dario Franceschini, und Walter Veltroni, der frühere Bürgermeister von Rom und Parteivorsitzender der Sozialdemokraten.
Rechte Kreise, auch Salvini, brachten jetzt neben Letizia Moretti auch Marcello Pera, einen 79-jährigen Hochschullehrer und toskanischen Senator von Forza Italia, ins Spiel.
«Berlusconi ist traurig, er denkt über einen ehrenvollen Ausweg nach.»
Möglich ist, dass das Parlament im letzten Moment einen Aussenseiter als Kompromisskandidaten hervorzaubert. Und wenn auch das nicht funktioniert? Wird dann der bisherige Staatspräsident Mattarella, so wie einst Napolitano – als Übergangslösung – noch zwei Jahre an seine siebenjährige Amtszeit anhängen? Mattarella hat das klar ausgeschlossen.
Im Moment dreht sich noch alles um Berlusconi. Nicht ausgeschlossen ist, dass er einsieht, dass er keine Chance hat und sich schliesslich als Königsmacher aufspielt. Er könnte dann von seiner Kandidatur zurücktreten und Draghi – oder jemand anderen – als Staatspräsidenten vorschlagen. Einiges deutet darauf hin.
Die italienische Nachrichtenagentur Ansa zitierte am Dienstagabend einen engen Berater des Forza-Italia-Kandidaten: «Berlusconi ist traurig, er denkt über einen ehrenvollen Ausweg nach.»
Vielleicht tanzt der 85-Jährige in diesen Tagen tatsächlich seinen letzten Tanz.