Keine Sorge, lieber Leser, hier soll nicht noch einmal die Kontroverse um das unselige „Gedicht“ von Günter Grass zu den dubiosen Drohkulissen der israelischen und iranischen Atompolitik aufgekocht werden. Hier geht es allein um ein Sprachbild im Grass'schen Text „Was gesagt werden muss“, der so viel Wirbel ausgelöst hat.
Grass formuliert ungefähr in der Mitte seines Elaborats so:
„Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.
Sprachlich apart ist die Formel: „gealtert und mit letzter Tinte“. Insbesondere die Worte „mit letzter Tinte“ werden in den unzähligen Stellungnahmen und Auseinandersetzungen zum Grass-Gedicht auffallend häufig zitiert. Offenkundig hat der Autor hier eine griffige, einprägsame Formulierung produziert, die sich viele Kritiker und Leser gemerkt haben.
Fragt sich nur, in welchem Sinne die Sentenz „mit letzter Tinte“ die Leser des Grass-“Gedichts“ beeindruckt hat. Da dürften die Meinungen weit auseinandergehen. Die einen werden die Formulierung originell finden, als Anklang zumindest an die einst mit Recht gerühmte Grass'sche Fabulierlust und barocke Sprachkraft. Andere werden das Bild von der „letzten Tinte“ als peinliches Pathos mit weinerlichem Beigeschmack abtun. Sie werden die Formulierung deshalb nur im negativen oder jedenfalls ironischen Sinne zitieren.
Doch ob positiv oder negativ eingestuft – ich vermute, dass der Grass'sche Spruch „mit letzter Tinte“ das Zeug hat, zum geflügelten Wort zu mutieren. Geflügelte Worte sind „solche Worte, welche von nachweisbaren Verfassern ausgegangen, allgemein bekannt geworden sind und meist wie Sprichwörter angewendet werden“ – so lautet die Definition im Vorwort zur Zitatensammlung von August Georg Büchmann, die unter dem Titel „Geflügelte Worte" berühmt geworden ist.
Geflügelte Worte, heisst es schon bei Homer, sind Worte, die vom Mund des Redners zum Ohr des Angesprochenen fliegen. Im Englischen nennt man solche Sentenzen „Winged Words“. Es gibt sie in allen möglichen inhaltlichen und stilistischen Abstufungen – vom Shakespearischen „To be or not to be“ über Schillers „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“ bis zum ironischen Filmtitel „Zur Sache Schätzchen“, Sepp Herbergers Diktum „Der Ball ist rund“ oder Adolf Ogis populärem Klassiker „Freude herrscht“. Was immer Günter Grass mit seinem seltsamen Israel-Iran-„Gedicht“ sonst erreicht haben mag – sein Spruch „mit letzter Tinte“ könnte den Sprung in den Zitatenschatz der geflügelten Worte schaffen. Aber kaum in dem vom Autor intendierten erhabenen Sinne.
R. M.
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