Ist es wirklich ein Zeichen des "guten Geschmacks" oder des "Sprachgefühls", wenn wir uns immer wieder mit sprachlichen Entgleisungen beschäftigen? Man kann das auch einfacher sagen: Was bringt es, sich über das alltägliche Gequatsche aufzuregen?
Da lesen wir selbst in den sogenannten Qualitätszeitungen wie der FAZ in Überschriften immer wieder das Wort „Selbstversuch“. Zumeist jüngere Autoren wollen damit sagen, dass sie selbst etwas ausprobiert haben. Sie kommen gar nicht erst auf den Gedanken, dass mit „Selbstversuch“ etwas völlig anderes gemeint ist, nämlich ein Versuch, den Wissenschaftler, vornehmlich Ärzte, an sich selber vorgenommen haben. Anstatt also irgendwelche ahnungslose Patienten dem Risiko des Versuchs auszusetzen, sind sie es selbst eingegangen – und nicht selten daran gestorben. Das ist etwas anderes, als einen neuen Ski oder ein neues Mineralwasser auszuprobieren.
Oder nehmen wir das Wort „dramatisch“ Bislang wurde es im Zusammenhang mit negativen Entwicklungen verwendet, also mit Tendenzen, die auf ein Drama hinauslaufen. Seit ein paar Jahren wird „dramatisch“ aber auch für positive Entwicklungen in Anspruch genommen. So lesen wir: «„Finanzinnovationen haben die Möglichkeiten der Diversifikation, des Risikotransfers und des Risikomanagements dramatisch verbessert“, erklärte Timothy F. Geithner kürzlich, der Chef der Federal Reserve Bank of New York.» So stand es in der FAZ am 24.10.2004, und inzwischen ist Geithner Finanzminister der USA – und die Lage an den Finanzmärkten wieder einmal – dramatisch.
Aber wozu regen wir uns auf? Der Soziologe Niklas Luhmann hätte uns ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Es hätte uns bescheinigt, dass wir uns selbst zu Erziehern aufschwingen, ohne dazu bestimmt worden zu sein, also ohne einen „Auftrag“ dazu zu haben. Feinsinnig bemerkte er: „Wenn Erzieher nicht aufhören können zu erziehen, so deshalb, weil sie nie autorisiert waren zu beginnen. (Dasselbe gilt für Exegeten, Interpreten, Hermeneuten jeder Art.)“ (1)
Diese Bemerkung sitzt. Und Luhmann selbst? Er sagte gern: "Ich weiss zwar nicht, was guter Geschmack ist, aber schlechter Geschmack fällt mir auf."
(1) Zwischen Anfang und Ende, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1990, S. 17
S.W.
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