Donnerstagvormittag. In der Bahnhofstrasse ereignet sich eine Kollision. Die Trams müssen umgeleitet werden. Dann die Entwarnung: „Die Strecke ist wieder normal befahrbar“, heisst es in der Ansage, die über Lautsprecher in allen Trams und Bussen verbreitet wird. .
In meinem Briefkasten liegt eine Zeitung, die ich nicht kenne und auch nicht kennen will: „jesus.ch-print“. Auf der Frontseite klebt ein Kleber: „Eine einmalige Verteilung in Zürich. Danke für Ihr Verständnis!“.
Da setzt man voraus, dass ich Verständnis habe. Habe ich aber nicht. Man dankt mir für etwas, das ich nicht aufbringen will. Ich will die Zeitung im Briefkasten nicht und habe kein Verständnis, dass ein Unbedarfter in der Bahnhofstrasse in ein Tram hineinfährt.
Ein Kollege kriegt einen Brief mit der Schlussfloskel: „Es tut uns leid, Ihnen keine positive Antwort zu geben und danken für Ihr Verständnis“. Der Kollege hat kein Verständnis, dass er eine negative Antwort erhält.
Stau auf einer deutschen Autobahn. Zwei Stunden für 18 Kilometer. Am Ende der Baustelle ein Schild: „Gute Fahrt, danke für Ihr Verständnis“. Mein Freund hat kein Verständnis, dass hier seit zwei Jahren gebaut wird und kein Ende in Sicht ist.
Eigentlich ist das Nötigung. Man fragt uns gar nicht, ob man Verständnis hat. Man setzt es voraus. Man nötigt uns, etwas zu haben, was man vielleicht nicht haben will.
Eine Kollegin kriegt eine Mail von einem Klempner: „Mein Mitarbeiter hat leider die Grippe. Deshalb ist es uns unmöglich, die Reparaturarbeiten bei Ihnen am kommenden Mittwoch auszuführen. Wir danken für Ihr Verständnis“. Die Kollegin hat aber null Verständnis dafür, dass sie erneut warten muss, bis die Geschirrspülmaschine repariert wird.
„Danke für Ihr Verständnis.“ „Danke für Ihr Entgegenkommen.“ „Danke für Ihre Mithilfe“ „Danke für Ihr wohlwollendes Prüfen unseres Anliegens.“ „Danke für ihre Breitwilligkeit.“ „Danke, dass Sie diese Unannehmlichkeit entschuldigen.“ „Danke für Ihre Rücksicht.“ „Danke für Ihre Nachsicht.“
Auf Englisch ist alles nicht besser. Der Aufruf einer Internet-Seite funktioniert nicht. "The site is currently not available due to technical problems. Please try again later. Thank you for your understanding." Wir haben keinerlei Verständnis für diese technischen Probleme.
Wir werden nicht gefragt, ob wir Entgegenkommen zeigen, ob wir das Anliegen wohlwollend prüfen wollen, ob wir die Unannehmlichkeit entschuldigen möchten. Man setzt das alles voraus. Man unterstellt uns stillschweigend etwas.
Korrekt wäre: Wir bitten Sie um Verständnis. Da kann ich entscheiden, ob ich Verständnis haben will oder nicht.
Korrekt wäre auch: „Bitte entschuldigen Sie die Störung“. Auch da kann ich selbst entscheiden, ob ich das entschuldigen will oder nicht.
Am Nachmittag im Tram Nummer 11. Im Lautsprecher wird eine Kollision im Westen der Stadt gemeldet. In der Ansage heisst es: „Die Linie 17 wird umgeleitet. Busse sind im Einsatz. Wir bitten um Verständnis“.
Als ob der Lautsprecher-Mann diese Kolumne schon gelesen hätte…
(hh)
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