Dabei wird er sich vielleicht „neu erfinden“. Damit geht er den Weg so vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die aus der blanken Not eine Tugend machen wollen.
Wann sucht jemand eine „neue Herausforderung“? Wenn er an einem Problem gescheitert ist. Das muss nicht einmal sein Versagen sein – jemand kann zum Beispiel das Opfer von Mobbing werden. Das Scheitern aber muss um jeden Preis mit dem Wort „neu“ in Verbindung mit „Herausforderung“ schöngeredet werden. Mit „Herausforderung“ wird Freiwilligkeit suggeriert, denn es liegt vermeintlich in der eigenen Wahlfreiheit, eine Herausforderung anzunehmen oder nicht. Das Ganze hat etwas Sportives. Entsprechend wäre unsere durch Krisen und Arbeitslosigkeit gebeutelte Welt einfach nur sportlicher geworden.
Dazu gehört, dass jemand sich oder etwas ständig „neu erfindet“. Dass man etwas nicht „alt erfinden“ kann, liegt auf der Hand. Wozu dann das Wort „neu“? Es verweist auf das eigene kreative Potenzial, etwas pathetisch ausgedrückt: auf die eigene Schöpfungsmacht. Demnach ist jeder ein kleiner Lee Iacocca, der, nachdem er von Henry Ford II aufgrund persönlicher Differenzen entlassen worden war, beim Konkurrenten Chrysler als „One-Dollar-Man“ neu anfing – natürlich mit einem Riesenerfolg für Chrysler.
Im Wort „erfinden“ steckt das Wort „finden“. Nicht alles aber, was gefunden wird, passt einem in den Kram. Davon könnte der Bundespräsident ein Lied singen. Mit dem Wort „neu“ wiederum werden die Schotten zur Vergangenheit dicht gemacht. Wenn das keine Wohltat ist!
S. W.
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