In seiner neuesten Studie diagnostiziert Andreas Reckwitz einen Einbruch des Fortschrittsoptimismus. Verlusterfahrungen prägen die Stimmung in unserer Gegenwart. Den zentralen Verlust spart Reckwitz allerdings aus: den Ausfall einer gesellschaftlichen Alternative.
In seinem neuen Buch «Verlust – Ein Grundproblem der Moderne» (Suhrkamp 2024) legt der Soziologe Andreas Reckwitz den Fokus auf die sich verdüsternden Horizonte unserer Spätmoderne. Dabei charakterisiert er zuerst den Fortschrittsglauben bzw. den «Fortschrittsimperativ», der das industrielle Zeitalter im Westen getaktet hat und registriert in der Folge einen Bruch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, den Umschwung zu einer eher pessimistischen Erwartungshaltung, zumindest was die kollektive Zukunft betrifft.
Der letzte Teil der Studie bietet eine Auslegeordnung von Verlusterfahrungen, die sich in den letzten fünfzig Jahren gehäuft und intensiviert haben. In diesem Zusammenhang kommen auch die verschiedenen Diskurse zur Sprache, welche auf die Bewältigung – zum Teil auch die Verdrängung – solcher Erfahrungen abzielen. Auffällig ist die strenge wissenschaftliche Zurückhaltung, die sich Reckwitz auferlegt. Er wählt ein rein deskriptives Vorgehen, das sich politischer Folgerungen enthält, wodurch es aber auch blinde Flecke erzeugt.
Der Fortschritt und sein Schatten
Nach Reckwitz ist der Fortschrittsglaube gekennzeichnet durch ein grosses Versprechen: Fortschritt soll die Lage der Menschen insgesamt verbessern, indem er Verluste abwendet, die bislang fatalistisch hingenommen wurden. Und wenn man die Entwicklungen in Technik, Medizin und staatlicher Vorsorge betrachtet, dann ist dieses Versprechen ja auch weitgehend eingelöst. Was die materielle Lage betrifft, leben wir in den Gesellschaften des Westens gewiss in der besten aller Welten.
Doch der Fortschritt wirft auch einen Schatten, denn die permanenten Umwälzungen, die er verlangt, erzeugen eine neuartige Form von Verlusten. Nichts darf beim Alten bleiben, das Bessere ist der Feind des Guten (Voltaire). So wird Disruption zu einer Art Dauerzustand. Es sind primär technische Neuerungen, welche die Arbeitswelt fortwährend umgestalten und so Arbeitsformen, ja ganze Gewerbezweige verschwinden lassen. Das aber bedeutet auch den Verlust von Lebenswelten und identitätsstiftenden Kulturen.
Die Einführung der Fabriken am Anfang des 19. Jahrhunderts brachte eine Abwanderung vom Land in die Städte, welche viele damalige Zeitgenossen als Entwurzelung empfunden haben. Vergleichbares geschah bei der Deindustrialisierung, deren Zeitzeugen wir waren und immer noch sind. Auch sie lässt ganze Arbeitsfelder untergehen und mit ihnen die entsprechenden Selbstverständnisse und Werthaltungen. Einmal mehr sehen viele sich aus ihrer geistig-kulturellen Heimat vertrieben und gezwungen, sich existenziell völlig neu zu orientieren. Man könnte also mit Recht von einer Dialektik des Fortschritts sprechen, sofern der ehrwürdige philosophische Begriff nicht zu einem roten Reizwort geworden wäre.
Bewältigungsdiskurse
Im Fortschrittsimperativ versteckt sich im Grunde ein säkularisiertes Heilsversprechen: Ziel ist das Paradies auf Erden, ein Zustand, der Verlusterfahrungen eigentlich ausschliessen soll. Dem stehen aber die unabweisliche Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen gegenüber. Sie werden im Rahmen des Fortschrittsglaubens zu einem Skandalon, vergleichbar der Existenz des Bösen unter der Herrschaft eines guten Gottes. Und wie die Theologie sich bemühte, den Widerspruch wegzuerklären, so hat auch die Moderne Narrative entwickelt, die Verlusterfahrungen relativieren oder über sie hinwegtrösten sollen.
Eine erste derartige Erzählung stellt die Verluste als Kosten für den Fortschritt dar, die angeblich nur temporär auftreten und durch positive Effekte auf lange Dauer mehr als kompensiert werden. Diese Sicht entschärft Schmerz und Trauer bei Betroffenen, nimmt deren Leid, aber auch die politische Relevanz. Wenn letztlich alles gut wird, so gibt es keinen Grund mehr, sich über negative Folgen einer Veränderung aufzuregen und allenfalls gar am System zu zweifeln.
Dann ist da das meritokratische Märchen, dass jeder Erfolg der Lohn grosser Leistungen sei. Im Umkehrschluss wird ein Scheitern als Folge eines persönlichen Versagens interpretiert. Wer bei der aktuellen Umwälzung nicht mitkommt, muss sich das selbst zuschreiben, hat es eben an Einsatz, an Opferwillen oder Flexibilität mangeln lassen. Auch dieses Narrativ entzieht die Verlusterfahrungen dem öffentlichen Raum, macht sie zu einer Privatsache, die keinen Anlass mehr gibt, sich gemeinsam über einen allgemeinen Missstand zu empören.
Reckwitz führt auch eigens den therapeutischen Diskurs auf, der dazu dient, persönliche Enttäuschungen zu bewältigen und aus lebensgeschichtlichen Sackgassen herauszufinden. Die Krux besteht aber auch hier in der Individualisierung erlittener Verluste. Wenn ich erst auf der Couch liege oder Antidepressiva einwerfe, dann habe ich die Schuld für mein Leid bereits auf mich genommen und den Anspruch auf eine Veränderung der Umstände aufgegeben. Letztlich ist diese Adressierung von Unglück an Einzelne womöglich die effektivste Form spätmoderner Theodizee, also der Rechtfertigung von Unglückserfahrungen.
«Verlustschübe» oder der Fortschrittsglaube in der Krise
Es war die Aufklärung, welche Fortschrittsglauben und Fortschrittsimperativ in die Welt setzte. Eine erste Hochkonjunktur erlebten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als neue Erkenntnisse in Thermodynamik und Elektrizitätslehre bahnbrechende technische Neuerungen ermöglichten. Den zweiten Peak verortet Reckwitz in den dreissig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht nur die friedliche Nutzung der Atomkraft sowie Erfolge in der Raumfahrt brachten, sondern auch eine beispiellose Flutung des Alltags mit technischem Gerät.
Dann aber erhielt der Fortschrittsoptimismus einen ersten Knacks: Eine Studie des Club of Rome (1972) zeigte die «Grenzen des Wachstums» auf, und nur ein Jahr später folgte die Probe aufs Exempel, als nämlich die arabischen Staaten nach dem vierten Nahostkrieg die Ölproduktion drosselten und damit die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise stürzten. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks brach zwar noch einmal ein goldenes Jahrzehnt an: Die Demokratie schien über die Diktaturen gesiegt zu haben, es kam zu einer globalen wirtschaftlichen Öffnung und in deren Gefolge zu einem Börsenhype. Bis die Anschläge vom 9.11.2001 sowie die darauf folgende Korrektur an den Finanzmärkten der Spassgesellschaft ein Ende bereiteten.
Seither häufen sich die Hiobsbotschaften: Die Bankenkrise von 2008 und die Beben, die sie auslöste, erschütterten das Vertrauen in die Finanzstabilität; zusammen mit einem mauen Wirtschaftswachstum erzeugte sie auch Wohlstandsverluste – oder liess diese zumindest als Drohung am Horizont aufscheinen. Das wiederum führte zu jenen Zweifeln am System, welche aktuell die populistischen Bewegungen befeuern und so eine «politische Regression» (Reckwitz) und die Spaltung der westlichen Gesellschaften bewirken. Und als wäre das noch nicht genug, lassen Unwetterkatastrophen in Serie immer deutlicher die Folgen des Klimawandels ins Bewusstsein treten. Es geht offensichtlich nicht mehr aufwärts, zumindest nicht, was die gemeinsame Zukunft betrifft.
Reckwitz konstatiert aber auch, dass dieser Pessimismus nicht auf die individuellen Erwartungen durchschlägt. Als ob die Einzelnen den Verlust einer kollektiven Perspektive im Privaten kompensieren wollten, setzen sie alle Hoffnung in ihr persönliches Fortkommen – und damit in Hoffnungen, die sehr leicht enttäuscht werden können und letztlich die Empfindlichkeit gegenüber Verlusten noch erhöhen.
Der blinde Fleck
Die Zeitdiagnose von Reckwitz ist umfassend, und trotzdem haftet ihr ein Manko an. Es besteht darin, dass sie ausschliesslich auf die materiellen Verspechen des Fortschritts fokussiert ist und ausblendet, was einmal die politische Vision der Aufklärung war: Die versprach in erster Linie Mündigkeit, was die Möglichkeit der Menschen einschliesst, ihre Lebensverhältnisse bewusst und selbstbestimmt zu gestalten. Es ging darum, eine alte Ordnung zu stürzen und die Gesellschaft von Grund auf neu aufzubauen, und zwar in einer Weise, welche die grösstmögliche Mitbestimmung aller ermöglicht.
Dieses grundlegende Freiheitsversprechen wurde in der Spätmoderne in den Hintergrund gerückt. Sie hat den Freiheitsbegriff auf die konsumistisch verzwergte Form der Optionenvielfalt geschrumpft. Man hat zwar eine riesige Auswahl, kann sich praktisch alles kaufen; aber um sich das leisten zu können, muss man im Hamsterrad mitlaufen, das der Fortschritt aus der Arbeitswelt gemacht hat. Hinzu kommt auch noch die Qual der Wahl, die schlichte Überforderung durch zu viele Möglichkeiten.
Was zudem fehlt, ist die Perspektive auf eine Veränderung der Grundspielregeln, mit anderen Worten: eine politische Alternative. Die Boomer sind die letzte Generation, welche an der Revolution wenigstens noch geschnuppert hat, und die, als diese an den politischen Verhältnissen abprallte, wenigstens die kulturellen umgestalten konnte. Doch mittlerweile ist die Unkonventionalität der Achtundsechziger ihrerseits etabliert, der Individualismus zur Konvention geworden. Wohin also mit den politischen Energien?
Kein Wunder, beginnen die Menschen an den demokratischen Institutionen zu zweifeln. Weil diese keine wirkliche Veränderung zulassen, nimmt man sie als eine Art überflüssiger Folklore wahr und träumt vom grossen Ausbruch. Die Corona-Proteste, die Reichsbürgerbewegung, aber auch die konservative Revolution der Populisten sind vor diesem Hintergrund zu sehen: als Phantom-Revolten, die über den empfundenen Mangel an Selbstbestimmung hinwegtrösten und etwas wie Bewegung wenigstens simulieren sollen. Dabei haben sie den Effekt, das System noch zu stabilisieren.
Zurück zur Aufklärung – Tell und der Rütlischwur
TINA – There is no alternative. Dieses Diktum der eisernen Lady ist zur tristen Wahrheit über die Spätmoderne geworden. Sie impliziert einen zentralen Verlust, den Reckwitz ausspart: nämlich den Verlust einer wirklichen politischen Selbstbestimmung, die vor dem Bruch mit dem Bestehenden nicht zurückscheut. Ein entsprechendes Modell hat Friedrich Schiller mit einem Drama geliefert, welches eigentlich die Französische Revolution idealisiert, das dann aber die Schweizer zu ihrem Nationalmythos erkoren haben.
Die Geschichte ist bekannt: Gebeutelt von fremden Vögten, tun sich die drei Waldstätten zusammen, schicken ihre Abgesandten aufs Rütli, wo sie einen Bund schliessen mit dem Zweck, die Fremdherrschaft abzuschütteln und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Eine neue Ordnung soll errichtet werden, und zwar gemeinsam, denn nur so kann der Neuanfang gelingen. Selbst Tell, der sich zuerst abseits hält, fügt sich schliesslich ein, nachdem er durch den Tyrannenmord das Fanal zum Aufstand gegeben hat. Und erst dieser Anschluss an die revolutionäre Volksbewegung rechtfertigt seine Tat. Tell hatte Gessler ja nicht aus politischen Erwägungen umgebracht; es war pure Rache für die Demütigung durch den Apfelschuss. Bliebe es dabei, würde Tell als frustrierter Einzeltäter – im Grunde als Terrorist – dastehen.
Natürlich zeichnet Schiller im «Wilhelm Tell» ein idyllisches Bild der Revolution, vor allem wenn man das historische Vorbild mit seinen Bluträuschen in Betracht zieht. Aber Schillers Zeichnung enthält alle Komponenten einer legitimen Revolte: Leidensdruck durch eine Willkürherrschaft, Solidarität unter den Aufständischen und einen Gegenentwurf zum Bestehenden, der insgesamt einen Zuwachs an Freiheit in Aussicht stellt.
Was es braucht
Sehen wir uns die aktuelle Situation im postindustriellen Westen an, so ist allerdings keine dieser Bedingungen erfüllt. Leidensdruck mag vorhanden sein, aber gewiss nicht durch Übergriffe der Staatsgewalt; Macht wird hier sehr viel subtiler ausgeübt, dazu der Schmerz durch Überkonsum sediert. Die Solidarität und den Blick fürs Ganze haben die Vereinzelungsschübe der letzten Jahrzehnte den Menschen grundsätzlich ausgetrieben. Vor allem aber fehlt es an konkreten Visionen für ein alternatives Wirtschaftssystem, das die Güter gerechter verteilt und nicht länger dem Wachstumszwang unterliegt.
Es besteht objektiv also definitiv keine revolutionäre Situation. Das heisst aber keineswegs, dass eine grundlegende Veränderung nicht nottäte. Natürlich sind die Zwänge, denen wir unterliegen, nicht so direkt und drängend wie die Übergriffe eines selbstherrlichen Vogtes, natürlich geht es uns, materiell betrachtet, immer noch gut. Doch die ungleiche Verteilung der Güter schafft Zwist, und der Planet sendet deutliche Signale, dass er das Treiben der Menschen nicht länger hinnimmt.
Aktuell stellt sich die Welt jenseits des Spätkapitalismus allerdings als ein Schwarzes Loch dar, das vor allem Angst macht und die Menschen gerade dadurch bei der Stange hält. Nach dem Scheitern der politischen Revolte von 68 haben sich die progressiven Kräfte kulturellen Feldern zugewandt; Fragen der politischen Ökonomie wurden ausgeklammert, wenn man von sozialistischer Nostalgie einmal absieht. Dafür rückten weichere Themen ins Zentrum: die Dekonstruktion einer rigiden Moral, Integration von Minderheiten und ganz besonders die Befreiung der Individuen von jeglichen Homogenisierungszwängen.
«Das Ganze ist das Unwahre» (Adorno). Aber genau diese Diffamierung einer Gesamtschau sowie die darauf basierende Vereinzelung der Perspektiven haben die Gesellschaften des Westens politisch sterilisiert. Wenn wir Glück wie Unglück nur noch uns selbst zuschreiben, verlieren wir die Sicht auf Bedingungen, die beidem zugrunde liegen und eventuell insgesamt einer Korrektur bedürften. Wer zurück will zum Mündigkeitsversprechen der Aufklärung, der müsste zuerst einmal den Blick aufs Ganze vom Ruch des Totalitarismus befreien, müsste darüber hinaus Solidarität einfordern, vor allem aber bereit sein, sich an harten Realitäten abzuarbeiten.
Es wird die Aufgabe von kritischen Denkern der heutigen Generation sein, ein Versorgungssystem – jenseits von Marx und Keynes – zu entwerfen, mit dem die planetare Gemeinschaft nicht gegen die Wand fährt. Im Zeichen einer solchen Vision könnten dann progressiv Gesinnte durchaus wieder zusammenfinden und einen gemeinsamen Aufbruch wagen.