Wir leben im Westen in Demokratien – noch. Viele von uns verspüren instinktiv eine Bedrohung, eine Erosion unserer Werte. Etwas läuft schief, einige blicken sorgenvoll in die Zukunft. Warum lassen wir uns von wortgewaltigen Populisten oder autoritären Nationalisten beeindrucken?
Schon einmal, vor rund 80 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs, blickten viele Menschen auch in unserem Land sorgenvoll in die Zukunft. Diese wird nichts Gutes bringen, wie sie dachten, nach all den negativen Vorzeichen, nach den kriegerischen Gebärden und einschüchternden Drohungen politischer «Führerfiguren», die damals die medialen News prägten.
Was passiert in der Gegenwart?
Was passierte in den darauffolgenden Jahren? Graduell verdrängte das Blau des Himmels das vormals Graue, die dunklen Wolken verzogen sich, Anzeichen einer sich aufhellenden Stimmung wurden sichtbar. Was folgte, war ein jahrzehntelanger, positiver Trend in ein andauerndes Konjunkturanstiegs-Phänomen. Die Menschen atmeten durch, packten die sich bietenden Gelegenheiten am Schopf, freuten sich über diese nicht erwartete Wendung zum Besseren.
Die Wiederwahl Trumps zum nächsten Präsidenten der USA lieferte tagelang die Schlagzeilen unserer Medien. Nachher gingen diese wieder zum medialen Alltag über: Berichte über Kriege auf der ganzen Welt, politische Horrorszenen, klimaerwärmungsbedingte Katastrophen. Viel Platz beanspruchen redegewandte, populistische Heilsverkünder mit ideologisch verbrämten Rezepten für eine andere, «bessere» Politik.
Diese Art von News, die Konzentration auf das Negative und die Überflutung mit Gewaltszenen aus der ganzen Welt, hinterlässt in unseren Köpfen ein falsches Bild der Gegenwart. Es ist nachvollziehbar, dass die permanente Berieselung mit bedrohlichen Ereignissen auf die Stimmung drückt. Viele junge Paare kommen gar zur Einsicht, dass sie – unter diesen Vorzeichen – lieber keine Kinder bekämen. Genau dasselbe dachten und sagten jene besorgten Eltern – damals vor 80 Jahren. Zum Glück kam alles anders …
Dämmerzustand der Demokratien
Warum dieser Trend zu Autoritarismus und Nationalismus, zu Politik mit dem Holzhammer respektive Gewalteinsatz, auch militärisch? Warum diese Drohungen von selbsternannten Machthabern, Autokraten, Generalsekretären, «Präsidenten»? 2020 gab eine intelligente Frau, Kolumnistin und Pulitzerpreis-Gewinnerin, Anne Applebaum, in ihrem Buch «Twilight of Democracy»1 Antworten, die mithelfen können, besser zu verstehen und zu realisieren, was mit unseren Demokratien passiert. Sie erklärt, warum heute so viele einst überzeugte Demokratinnen und Demokraten (also auch Schweizerinnen und Schweizer) empfänglich sind für Botschaften von Ideologen, Milliardären oder Märchenerzählern oder anderswo: von Lügnern und Verbrechern. Sie warnt eindrücklich vor dieser Entwicklung. Mehr dazu im nächsten Beitrag.
Einfache Botschaften, vor allem solche, die den Zuhörerinnen und Zuhörern bessere Zeiten versprechen und die nationalen, eigenen Vorzüge gegenüber allen andern auf dieser Welt loben und beschwören, sind Schlüsselbotschaften. «Genau, das ist es!», rufen die begeisterten, loyalen Fans. Ist es aber natürlich nicht.
Süffige Verschwörungstheorien, nostalgische Bilder
Despotische Führernaturen scharen gleichgesinnte Menschen um sich, umgeben sich mit loyalen Politikerinnen und Politikern, auch mit Journalistinnen und Journalisten, die sich persönlichen Benefit dessen, was sie in die Welt hinausposaunen, versprechen. Sie alle finden sich in Volksparteien zusammen, dort wo man ihnen mehr persönlichen Reichtum und Erfolg verspricht.
Süffige Verschwörungstheorien und polarisierende politische «Erfolgsrezepte» mögen Menschen anzuziehen, zu fesseln, zu begeistern. Nostalgische Bilder aus einer besseren Vergangenheit werden gemalt, in Medien und vor allem auf Social Media. Finanziert werden diese grossen Aufwendungen hierzulande von Milliardären, anderswo durch Zugriff auf Staatsgelder, eigentlich Eigentum der Bevölkerung.
Anne Applebaum verteidigt vehement Pluralismus und Offenheit unserer Demokratie gegenüber dem zeitgemässen Trend, einfachen Antworten und dem Ruf nach starker Führerkraft nachzugeben. Dies unterminiert unsere demokratischen Werte, stabiles Fundament unseres Erfolgs als friedliche Nation.
Negativität ist kein Wegweiser in die Zukunft
Es ist nicht zu leugnen, dass der prägende Fortschrittsglaube der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, nachdem die Grenzen des ewigen Wachstums aufgezeigt worden waren, vielerorts verschwunden ist. In letzter Zeit verbreitet eine Anhäufung von weltweiten Krisen Pessimismus. Es wird diskutiert, ob dieser vermehrt auftritt, weil die Religionen nicht mehr den einstigen persönlichen Halt zu geben vermögen. Ebenso wird die Frage aufgeworfen, ob wir es heute mit einer Verlusteskalation zu tun haben, die das Strukturmerkmal moderner Gesellschaften – den Fortschrittsimperativ – abgelöst hat (NZZ).
Wie dem auch sei, Klagen und Verzweifeln bringt uns nicht weiter. Können wir uns motivieren, offensiv mit diesen negativen Themen umzugehen?
Stärkung unserer Konzentration?
Von einem positiven, übergeordneten Sinn unseres Lebens im effektiv gelebten Alltag getragen zu werden, könnte sich als hilfreich erweisen. Persönlich neige ich zur Meinung, dass dieser in Arbeit, Mühe, Engagement, Eigenmotivation begründet ist und mit Dankbarkeit, Zufriedenheit und Lebensfreude entgolten wird. Dies steht allerdings in offenem Widerspruch zur zeitgemässen, trendigen Massen- und Konsumstruktur.
Die «Explosion digitaler Inhalte» (NZZ) prägt den Alltag; Aufmerksamkeit für Umwelt und Mensch hat darin keinen Platz mehr. Wer mit starrem Blick aufs Handy durch die belebte Strasse stürmt, wird durch eine Scheinwelt von der realen abgeschnitten – sein Ersatz für Mitgefühl und Zugehörigkeit sind Klicks. Man kann sich fragen, wieweit dieser Lebensstil dazu beiträgt, dass Schwarz-Weiss-Denken eine Renaissance erlebt und dass an ideologische Botschaften «geglaubt» wird. Diskursfähigkeit und Selbsterkenntnis drohen auf der Strecke zu bleiben, Narzissmus ersetzt Argumente durch Gefühle. Diese Entwicklung kann täglich beobachtet werden: Was ein Individuum als gut befindet und fühlt, ist wahr, wer anderer Meinung ist, wird beschimpft, ausgegrenzt oder gar bedroht. Leider ist das auch im politischen Alltag ein Muster.
Unsere helvetische Kultur hat sich bewährt
Verstehen wir das? Können wir neu denken?2 Neu denken heisst auch, sich unserer Wurzeln zu vergegenwärtigen, wenn wir verstehen wollen, warum wir als Nation so erfolgreich waren. Die Gefährdung unseres gelebten Alltags durch politische Parolen reicher, alter, weisser Männer, ebenso durch Klicks und Likes, sollte durchschaut werden. Unsere helvetische Kultur hat sich bewährt, ist einmalig (sagen und denken nicht wenige hierzulande), sie erträgt modische Irrungen und Verwirrungen und entsorgt sie zur gegebenen Zeit.
Was wollen wir? Können wir erkennen, was die zweite Wahl Trumps, unterstützt durch den reichsten Mann der Welt, Elon Musk, für unser Land, für unsere Demokratie bedeutet? Dieses Ereignis sollte als Augenöffner für uns funktionieren. Auch in der Schweiz sind Sympathisanten dieses demokratieverachtenden, mit diabolischem Charisma ausgerüsteten, unaufhörlich lügenden «Präsidenten» auszumachen. (Fortsetzung folgt)
1 Applebaum, Anne: «Twilight of Democracy», 2020
2 Zollinger, Christoph: «Besser verstehen? Neu denken!», 2023