Freitagabend 19.38 Uhr. Im Gerichtssaal in Palermo wird applaudiert. Soeben ist Matteo Salvini, der rechtspopulistische italienische Vize-Ministerpräsident, freigesprochen worden. Im «Open Arms»-Prozess war er der verweigerten Hilfe für Notleidende angeklagt. Seine Anhängerschaft feiert ihn als «Märtyrer» und Kämpfer gegen die «Massenimmigration».
«Dies ist ein Sieg für die Lega und für Italien», kommentierte Salvini den wartenden Medienvertretern. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von sechs Jahren gefordert. Das Urteil der zweiten Strafkammer des Gerichts von Palermo unter dem Vorsitz von Richter Roberto Murgia fiel nach achtstündiger Beratung.
Sommer 2019: Salvini, Chef der rechtspopulistischen und teils rassistischen Partei «Lega», war damals Innenminister. Als solcher verweigerte er einem Rettungsschiff der spanischen Nichtregierungsorganisation «Open Arms» das Anlegen auf der italienischen Insel Lampedusa. An Bord des Schiffs hatten sich 147 völlig erschöpfte, teils kranke, traumatisierte, schiffbrüchige Migranten befunden. Die Flüchtlinge hatten sich in seeuntüchtigen Schlauch- und Holzbooten von der libyschen Küste aus auf den Weg nach Italien gemacht – und drohten zu kentern.
Salvini hatte im Wahlkampf 2019 versprochen, er schliesse alle italienischen Häfen für Mittelmeer-Flüchtlinge. Insgesamt waren in den letzten zehn Jahren im Mittelmeer rund 33’000 Bootsflüchtlinge ertrunken. Auch in diesem Jahr starben (Stand: Ende November) fast 2000 Migranten. Viele der von Open Arms aufgefischten Flüchtlinge hatten einen langen Weg in Afrika hinter sich, bevor sie an die libysche Küste gelangten, wo sie in die Fänge von Schleppern gerieten. Mehrere waren in den libyschen Flüchtlingscamps misshandelt worden.
Opfer der «Kommunisten»
Da Salvini dem Open-Arms-Boot keine Landeerlaubnis gab, harrten die Migranten zwanzig Tage lang bei zum Teil brütender Hitze auf dem Rettungsschiff aus. Dann setzte sich die italienische Staatsanwaltschaft gegen Salvinis Willen durch und entschied, das Boot in Lampedusa einlaufen zu lassen.
Im Juli 2020 hob das italienische Parlament Salvinis Immunität auf, was den jetzigen Prozess ermöglichte. Angeklagt war er des Amtsmissbrauchs und der Freiheitsberaubung. Alles sei ein politisches Spiel der «in Italien herrschenden kommunistischen Linken», sagte er. Es gehört zu den Rechtspopulisten – nicht nur in Italien – sich als Opfer der «herrschenden Klasse», «der Medien», der «Linken» und der «Kommunisten» zu präsentieren und sich als Märtyrer aufzuspielen. Die Lega bildet zusammen mit Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia» und der von Aussenminister Antonio Tajani geführten Ex-Berlusconi-Partei «Forza Italia» die italienische Regierung.
Die drei Staatsanwälte, Marzia Sabella, Geri Ferrara und Giorgia Righi forderten für Salvini im vergangenen Frühjahr eine sechsjährige Haft. Der Lega-Chef konterte: «Ich habe die Grenzen verteidigt, ich habe Italien verteidigt.» Und: «Ich würde es wieder tun.» «Ich bekenne mich schuldig, Italien und die Italiener zu verteidigen. Ich bekenne mich schuldig, mein Wort zu halten.»
Die Anklage
Die Anklage argumentierte, Salvini habe die Grundrechte der Menschen – Recht auf Leben, Recht auf Gesundheit, Recht auf persönliche Freiheit – verweigert. Diese Rechte würden über allen anderen Rechten stehen, einschliesslich der Verteidigung der Grenzen durch die einzelnen Staaten. Laut internationalen Konventionen müssen Schiffe mit notleidenden Menschen den nächstliegenden Hafen anlaufen dürfen. «Die Menschenrechte haben Vorrang vor der Verteidigung der Grenzen», heisst es im ersten Kapitel der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Palermo.
«Internationale Konventionen erlegen den Staaten Verantwortung auf, insbesondere wenn es sich bei den zu rettenden Migranten um Minderjährige handelt: Es besteht «eine Verpflichtung zur Seenotrettung». Salvini, so die Anklage, habe mit seinem Verbot, einen italienischen Hafen anzulaufen, «vorsätzlich und wissentlich gegen die Vorschriften verstossen». So habe er, hiess es in dem 237-seitigen Memorandum der Staatsanwaltschaft, «das Image eines unnachgiebigen Politikers» fördern wollen.
Die Verteidigung
Verteidigt wurde Salvini von der resoluten Lega-Senatorin und Anwältin Giulia Bongiorno. Sie behauptete, nicht Salvini, sondern die Organisation Open Arms selbst habe die Migranten als Geiseln genommen. Ziel sei es gewesen, Salvini zu stürzen. Das Schiff habe «zahllose Gelegenheiten» gehabt, «die Schiffbrüchigen an Land zu bringen, in Tunesien, Malta und Spanien». Aber es «lungerte» im Wasser herum, weil es nur in Italien anlegen wollte, um Salvinis Politik der «geschlossenen Häfen» zu unterlaufen. Während des gesamten Zeitraums sei den Migranten an Bord der Open Arms geholfen worden. Sie seien medizinisch und mit Lebensmitteln versorgt worden.
«Sind wir eine Bananenrepublik, haben wir keine Gewaltentrennung?»
Schnell war klar, dass eine Verurteilung Salvinis zu schweren Unruhen in Italien führen würde. Die Anhängerinnen und Anhänger der rechtspopulistischen Regierung Meloni, zu der Salvini gehört, drohten mit Strassendemonstrationen und Strassenschlachten. Auch die Ministerpräsidentin selbst mischte sich in den Fall ein und verlangte einen Freispruch Salvinis.
«Sind wir eine Bananenrepublik, haben wir keine Gewaltentrennung?», hiess es in oppositionellen Kreisen. Nicht nur die Linke fand es unakzeptabel, dass die Regierung massiven Druck auf die Justiz ausübte, um einen Schuldspruch zu verhindern. «Lasst die Justiz ihre Arbeit machen», hiess es. Und natürlich erhielt Salvini sofort die Unterstützung von Marine Le Pen und Viktor Orbán. Der ungarische Präsident Viktor Orbán bezeichnete den Lega-Chef als «unseren Helden». Auch Elon Musk fühlte sich einmal mehr berufen, sich in italienische Justizverfahren einzumischen. Schon vor der Urteilsverkündung lobte er den Vize-Ministerpräsidenten. «Gut gemacht, Matteo Salvini! Dieser verrückte Staatsanwalt sollte ins Gefängnis für sechs Jahre und nicht du.» Am 6. Oktober, beim Lega-Fest in Pontida in der Lombardei, fand eine Massendemonstration für Salvini statt. «Er wird als Erlöser gefeiert», spottete ein Journalist.
Beim jetzt abgeschlossenen Verfahren in Palermo handelte es sich um einen Prozess der ersten Instanz. Wäre er verurteilt worden, hätte er Berufung eingelegt. Bei der chronisch überlasteten italienischen Justiz hätte es wieder Jahre gedauert, bis ein Urteil gefällt worden wäre. Ob die Staatsanwaltschaft Berufung einlegen wird, ist noch nicht bekannt.
Der einst erfolgreichste Rechtspopulist
Der jetzt 51-jährige Salvini war vor fünf Jahren noch der erfolgreichste Rechtspopulist in Italien, einer, der seine klar rassistischen Züge nicht verbarg. Für Immigranten sei in Italien kein Platz, sagte seine Entourage: für Moslems schon gar nicht. Im Europawahlkampf 2019 versprach er, gegen die «Migrantenflut» mit allen Mitteln zu kämpfen.
Und er hatte Erfolg. Unvergessen bleiben die Szenen, die sich im Sommer 2019 an den Adria-Stränden abspielten. Salvini, mit braungebrannter Brust, liess sich auf der «Papeete Beach» in Milano Marittima von Dutzenden schönen Frauen und Kameras auf Schritt und Tritt begleiten. Es war der Sommer des Matteo Salvini. Bei den Europawahlen erzielte er ein Spitzenergebnis: Europawahlen 2019: 34,33 Prozent (ein Gewinn von über 28 Prozent). Fratelli d’Italia kamen auf nur 6,5 Prozent. Salvini sah sich schon als nächsten Ministerpräsidenten. Doch daraus wurde nichts.
Meloni stahl ihm die Show. Sie graste bei seiner Anhängerschaft. Er verlor mehr und mehr Stimmen zugunsten der aufstrebenden Fratelli-Frau. Jetzt versuchte der Rechtspopulist Salvini noch rechtspopulistischer zu sein und Meloni rechts zu überholen. Das funktioniert kaum. Heute liegt Salvinis Lega bei rund 8 Prozent und Meloni bei rund 29 Prozent.
«Speerspitze gegen die Migration»
In den drei Jahren der Anhörungen wurden 45 Zeugen vernommen, darunter der ehemalige Verbündete und Ministerpräsident Giuseppe Conte und der ehemalige Aussenminister Luigi Di Maio. Und Salvini selbst. Sie alle waren aufgerufen, die damaligen Ereignisse zu schildern und ein ausreichend klares Bild zu liefern, um die beiden gegensätzlichen Positionen von Anklage und Verteidigung zu stützen.
Hunderte seiner Anhängerinnen und Anhänger hatten sich an diesem Freitag vor der Aula des Pagliarelli-Gefängnisses in Palermo versammelt, um ihrem Idol Mut zu machen. Ein Teil der Hochsicherheitsanstalt dient auch als Gerichtssaal. Salvini wartete seit dem Morgen mit seiner Verlobten in einem Einkaufszentrum auf das Urteil.
Als er unter strömendem Regen vor dem Gericht ankam, sagte er: «Ich bin absolut stolz auf das, was ich getan habe, ich habe meine Versprechen gehalten, ich habe die Masseneinwanderung bekämpft. Wie auch immer das Urteil ausfällt, für mich ist heute ein guter Tag, denn ich bin stolz darauf, mein Land verteidigt zu haben.» Und seine anwesenden Fans, unter ihnen mehrere rechtsgerichtete Abgeordnete, jubelten ihm zu. Sie feiern jetzt Salvini als europäische Speerspitze gegen die Migration. Seine Politik mache in mehr und mehr Ländern Schule, freuen sie sich. «Danke Matteo», hiess es auf einem Transparent in Palermo.