Der frühere Zuger Nationalrat und GSoA-Aktivist Jo Lang befürwortet als bekennender Verantwortungspazifist westliche Waffenlieferungen zur Verteidigung der Ukraine. Er unterscheidet sich damit vom Berliner Philosophieprofessor und Pazifisten Olaf Müller, der wegen des Atomkriegsrisikos eine Waffenhilfe ablehnt. Beide distanzieren sich aber von politischen Propagandisten à la Wagenknecht, Weidel oder Köppel, die Putins Verantwortung für den Ukraine-Krieg ausblenden.
Reinhard Meier hat für Journal 21 mit dem Friedenspolitiker Jo Lang das folgende Gespräch geführt.
Journal 21: Der Ukrainekrieg und die westlichen Waffenlieferungen an die von Russland überfallene Ukraine sind seit bald drei Jahren dominante Themen in der Politik. Du befürwortest auch als Schweizer Pazifist und grüner Politiker diese Waffenlieferungen. Der deutsche Philosophieprofessor Olaf Müller vertrat unlängst in einem langen Interview mit der Wochenzeitung «Die Zeit» einen anderen pazifistische Standpunkt. Er ist gegen Waffenlieferungen, obwohl er gleichzeitig Putin die Alleinverantwortung für die ukrainische Kriegstragödie vorwirft. Wie erklären sich diese unterschiedlichen pazifistischen Positionen?
Jo Lang: Olaf Müller vertritt eine nuklearpazifistische Position. Er befürchtet, Putin könnte auf den roten Knopf drücken, wenn Russland wegen westlichen Waffenlieferungen zu stark unter Druck gerät. Diese Gefahr ist im konkreten Fall höchst unwahrscheinlich, weil ein Atomkrieg Russland am schwersten heimsuchen und Putins Herrschaft beenden würde. Trotzdem sind die Atomwaffen für die russische Kriegsführung bedeutend. Mit seinen Drohungen setzt Putin die öffentliche Meinung, insbesondere in Deutschland, unter Druck. Zudem hebt er ein Tabu auf, das während Jahrzehnten gegolten hat: Mit Atomwaffen wird nicht gedroht. Und das erhöht weltweit die atomare Gefahr. Deshalb gibt es gegen diese nur eine Lösung: Atomwaffen abschaffen. Aus diesem Grund haben wir eine Volksinitiative gestartet für den Beitritt der Schweiz zum Uno-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen.
Du und Olaf Müller definieren sich als «Verantwortungspazifisten» – im Unterschied zur Kategorie der «Gesinnungspazifisten». Wie unterscheiden sich diese beiden Haltungen grundsätzlich?
Der Gesinnungspazifismus beruft sich auf das 5. Gebot: «Du darfst nicht töten.» Er geht von der individuellen Verantwortung aus und fokussiert auf die Frage der Waffen, also der Mittel. Der Verantwortungspazifismus geht von der politischen Verantwortung aus und fokussiert auf die Frage des Ziels. Wie lässt sich eine Gesellschaft ohne Gewalt und eine Welt ohne Krieg schaffen? Das 1901 geschaffene Kunstwort «pacifisme» setzt sich zusammen aus den lateinischen Wörtern «pax» und «facere», also: «Frieden stiften».
Im Ersten Weltkrieg setzte sich dann angesichts der Millionen von Opfern und der Tatsache, dass alle Kriegsparteien im Unrecht waren, ein verengter Pazifismusbegriff durch. Aber Pazifismus bedeutet in der Tradition des bedeutendsten Friedensphilosophen Immanuel Kant die Schaffung eines Völkerbunds und Völkerrechts zur Durchsetzung eines Kriegsverbots.
Der Ziel-Pazifismus ist sich bewusst, dass es Situationen gibt, in denen nur legitime Gewalt massenmörderische Gewalt verhindern kann. Allerdings interessiert sich auch der Mittel-Pazifismus für das Ziel Weltfrieden. Und der Ziel-Pazifismus weiss sehr wohl, dass jede Gewalt und jeder Krieg negative Folgen hat. Beide sind sich einig im Kampf gegen die Aufrüstung, die Kant «Zurüstung zum Krieg» nannte.
Was hältst Du von der Möglichkeit indirekter Waffenlieferungen der Schweiz an die Ukraine, also die Weitergabe von Schweizer Waffen durch europäische Drittländer an die Ukraine? Darüber wird im Berner Parlament seit Beginn der Ukrainekrieges debattiert und noch immer ist keine praktikable Lösung zustande gekommen. Ist das nicht ein Armutszeugnis für die dafür verantwortlichen Parteien und Politiker?
Das Neutralitätsrecht verlangt die Gleichbehandlung beider Seiten in der Waffenfrage und damit die Weitergabe von Rüstungsmaterial an keine Seite oder an beide Seiten. Hätte die Schweiz Waffen geliefert oder vermittelt, hätte es keine Bürgenstock-Konferenz gegeben. Bei der Waffendiskussion geht es vor allem darum, wieder Kriegsmaterial in die lukrativen Golfstaaten liefern zu können. Weiter soll sie davon ablenken, dass Putins Kriegskasse aus der Schweiz massiv gefüllt wurde und dass die Schweiz auch deshalb zu einer viel grosszügigeren Finanzhilfe an die Ukraine verpflichtet ist.
Wie marginal die Waffenfrage militärisch ist, illustriert die Tatsache, dass die 12'400 Schuss Munition, über die lange diskutiert wurde, den Gegenwert von 0,8 Promille jener 11 Milliarden haben, die Glencore allein im Dezember 2016 in Putins Kriegskasse steckte. Aus der alkoholischen Vernebelungsformel wurde eine politische. Die Schweiz redet über das, was sie nicht darf, um nicht über das zu reden, was sie tat, aber auch, was sie kann und muss.
Könnte sich die Schweiz zur Rechtfertigung solcher Waffenhilfe an die Ukraine nicht einfach auf die Uno-Charta berufen, die das Recht auf Verteidigung gegenüber einem Aggressor ausdrücklich erlaubt, und zwar auch im Rahmen kollektiver Aktionen?
Das Neutralitätsrecht ist völkerrechtlich verankert im Haager Abkommen. Dass dieses weiterhin gültig ist, zeigt der Umstand, dass ihm die Ukraine 2015 beigetreten ist. Da die Uno-Charta keine Pflicht beinhaltet, dass ein Staat einem anderen Staat Waffen liefern muss, hebt sie in dieser Frage das Haager Abkommen nicht auf. Allerdings gilt die Pflicht zur Neutralität nur in der Militär- und Waffenfrage, aber nicht im Zusammenhang mit Sanktionen. Tatsächlich stand die Schweizer Wirtschaft, vor allem der Finanzsektor, der Rohstoffhandel und die Maschinenindustrie, all die Jahre einseitig auf der Seite Putins.
Wie beurteilst Du als Pazifist die seit Beginn des Ukrainekriegs intensiver diskutierte Annäherung der Schweiz an das westliche Verteidigungsbündnis Nato? Ist das realistisch? Und könnte die Schweiz sich nicht an den beiden nordischen Ländern Finnland und Schweden orientieren, die als bisher neutral deklarierte Staaten aufgrund des russischen Angriffskrieges zu Nato-Vollmitgliedern geworden sind?
Der militärische Alleingang der Schweiz ist tatsächlich überholt. Aber das, was unter dem Begriff Nato-Annäherung vorgeschlagen wird, ist militärisch und politisch nicht praktikabel. In einem kurz vor seinem Tod erschienen Buch «Von Feld zu Feld» (2022) bezeichnet der legendäre NZZ-Militärredaktor und Generalstabsoberst Bruno Lezzi die Nato-Annäherung als «Bau von Luftschlössern». Bei ernsthaften Übungen ständen die Schweizer Milizsoldaten den Nato-Profis bloss im Weg. Und die Teilnahme an Luftwaffen-Übungen über weite Distanzen sei im Rahmen der Neutralität undenkbar.
Militärisch-rational steht die Schweiz vor zwei Optionen: Nato-Beitritt, was die Abschaffung von Miliz und Neutralität bedeutet oder Verzicht auf eine Armee und massiver Ausbau der zivilen Friedens-, Sicherheits- Entwicklungspolitik im Rahmen der Uno. Dass beide Optionen in der Minderheit sind, ist kein Argument für den Bau von Luftschlössern. Was Schweden und Finnland, aber auch Österreich betrifft, ist die Neutralität viel weniger verankert als in der Schweiz.
Zu den entschiedensten Gegnern einer Nato-Annäherung der Schweiz zählt die SVP. Sie begründet diese Ablehnung unter anderem mit der schweizerischen Neutralität. Blocher will mit einer Volksinitiative den Status der immerwährenden bewaffneten Neutralität sogar in der Bundesverfassung verankern. Gibt es bei diesem Punkt Gemeinsamkeiten zwischen den Grünen und der SVP?
Die SVP-Initiative ist eine fundamentalistische Abschottungsinitiative. Sie vertieft den Widerspruch einer Schweiz, die von der ganzen Welt profitiert, für diese aber möglichst wenig Verantwortung übernimmt. Zudem ist für Pazifistinnen und Pazifisten die erstmalige Verankerung des Begriffs «bewaffnete Neutralität» in der Bundesverfassung ein Gräuel. Eine alternative friedenspolitische Neutralität ist kompatibel mit Universalität und erheischt ein stärkeres Engagement für das Völkerrecht und die Uno.
Wenn eine schweizerische Waffenhilfe für die Ukraine nicht in Frage kommt, mit welchen anderen nichtmilitärischen Mitteln könnte unser Land mehr leisten für die das angegriffene Land, das um seine Existenz kämpft? Tun wir genug für die Durchsetzung westlicher Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegenüber der Ukraine?
Zuerst möchte ich betonen, dass die Sanktionen sehr wohl etwas bringen. Das zeigen der Rubel-Verfall oder das Fehlen von Ersatzteilen. Sie hätten viel mehr bringen können, wären sie konsequenter umgesetzt worden. So sind dieses Jahr die Importe von russischem Erdgas nach Europa gegenüber 2023 um 8 Milliarden Kubikmeter gewachsen.
Was die Schweiz betrifft, bleibt unerklärlich, dass sie der multinationalen Taskforce Repo zur Umsetzung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland fernbleibt. Oder dass sie Sanktionen gegen Tochtergesellschaften in Drittstaaten wie auch das Verbot der Rechts- und Steuerberatung für die russische Regierung und russische Unternehmen ablehnt.
Gerade weil Putins Kriegskasse unserem Finanz- und Rohstoffhandelsplatz so viel verdankt, steht die Schweiz besonders in der Pflicht, die Ukraine finanziell zu unterstützen. Dieselben Kreise, die im März 2022 «Munition für Kiew» gefordert haben, haben im Juni 2023 eine Fünf-Milliarden-Hilfe für Humanitäres, Entminung und Wiederaufbau abgelehnt.
Wäre die Überweisung von russischen Geldern, die in der Schweiz blockiert sind, zugunsten der Ukraine möglich und vertretbar?
Putin zerstört die Ukraine nicht zuletzt dank Geldern aus der Schweiz und dank Spezialmaschinen aus hiesigen Fabriken, die er für den Bau von Bombern und Raketen brauchte und braucht. Dass die Schweiz nun russische Gelder einsetzt für den Wiederaufbau der Ukraine, ist legitim, legal und logisch.
Wie weit können die in Zug und Genf domizilierten Rohstoffhandelsgesellschaften noch Geschäfte machen, die Putins Kriegskasse zugutekommen?
Die Geschäftstätigkeit ist nicht mehr so intensiv, aber die meisten Firmen gibt’s noch. Am besten sichtbar ist der Rückgang bei den Pipeline-Gesellschaften. So stecken die beiden wichtigsten, die Gazprom und die Nord Stream, in der Krise. Für Nord Stream 2, in deren Verwaltungsrat weiterhin Gerhard Schröder sitzt, läuft die letzte Nachlassstundung im Januar 2025 aus. In der Nord Stream 1, die sich im Stadtzentrum von Zug befindet, herrscht weniger Betrieb als früher. Die Gazprom in der Nähe des Zuger Regierungsgebäudes befindet sich seit Oktober 2024 in Liquidation. Dafür scheint die dort am Bundesplatz beheimatete russische Novatek Gas & Power ein Hoch zu erleben. Vorletzte Woche war die Zuger Firma in Berlin am World LNG Summit prominent vertreten. Die englische Abkürzung LNG heisst Flüssiggas, das in jüngster Zeit massiv aus Russland nach Europa geflossen ist. LNG ersetzt Gas aus Pipelines. Zug bleibt mit Putin im Geschäft.
Der am Anfang erwähnte Berliner Philosophieprofessor Olaf Müller lehnt zwar mit pazifistischen Argumenten westliche Waffenlieferungen an die Ukraine ab, distanziert sich aber energisch von Politikerinnen wie der BSW-Chefin Sarah Wagenknecht, der AfD-Protagonistin Alice Weidel, der Publizistin Alice Schwarzer und anderen Lautsprechern aus deren Umfeld. Müller wirft ihnen Unehrlichkeit vor, weil sie die grundlegende Verantwortung des eigentlichen Kriegstreibers Putin in ihrer Rhetorik weitgehend ausblenden und ihre Friedensforderungen nicht primär an ihn richten. Teilst Du diese Einschätzung? Und kann man auch den Weltwoche-Publizisten Köppel und andere Putin-Propagandisten hierzulande dieser Kategorie zurechnen?
Ja! Es gibt noch ein weiteres Kriterium: Wer wie Wagenknecht, Weidel, Schwarzer, Köppel zusätzlich die Sanktionen gegen Russland ablehnt, will verhindern, dass Putin den Krieg verliert. Dabei ist ein Sieg des Aggressors die grösste Niederlage für den Frieden. Hätten die USA Vietnam besiegt, wäre Willy Brandt mit seiner Entspannungspolitik chancenlos gewesen und hätte es keine atomare Abrüstung gegeben.
Diese Woche ist in Moskau der hochrangige russische General Igor Kirillow, zuständig für Chemie- und Nuklearwaffen, durch einen Sprengstoffanschlag ermordet worden. Der ukrainische Geheimdienst hat sich für diesen Anschlag als zuständig erklärt. Sind solche Methoden im Rahmen eines Verteidigungskrieges auch aus Deiner Sicht vertretbar?
Russland und die Ukraine sind im Krieg. Russland besetzt einen Teil der Ukraine und greift zivile Objekte und Personen an. Da hat die Ukraine das Recht, in Russland militärisch zu intervenieren und militärische Ziele anzugreifen. Der Chemiespezialist Kirillow ist auch in Syrien ein bekannter Name.
Gilt das, falls die Ukraine dafür verantwortlich sein sollte, auch für den Sprengstoffanschlag gegen die Nordsee-Pipeline 2, die für den Transport von russischem Gas nach Europa bestimmt war und mit der nicht zuletzt Putins Kriegskasse gefüllt wurde?
Aus der Nord Stream 1 floss seit 2005 noch viel mehr Geld in die russische Staats- und Kriegskasse. Als wir im Februar 2021 in Zug vor den Nord Stream-Büros gegen die Verhaftung Nawalnys protestierten, lautete eine Forderung: Stopp Nord Stream 2! Jetzt, wo diese gestoppt wurde, protestiere ich sicher nicht gegen dagegen.
Im Hinblick auf Trumps neuerlichen Einzug ins Weisse Haus kursieren neben vielen Befürchtungen auch gewisse Hoffnungen, dass er Putin zu ernsthaften Verhandlungen über einen akzeptablen Waffenstillstand in der Ukraine zwingen könnte. Gibt es aus pazifistischer Sicht halbwegs realistische Indizien für solche Hoffnungen?
Meine Befürchtung ist, dass Trump die Ukraine mehr unter Druck setzt als Putin. Wenn ich trotzdem einen gerechten Frieden in naher Zukunft für möglich halte, liegt das am Zusammenbruch der Assad-Tyrannei in Syrien. Der Sturz eines strategischen Verbündeten schwächt Putin auf allen Ebenen: im Nahen Osten und in Afrika, gegenüber den Brics-Staaten und vor allem in Russland selber. Die syrischen Rebellen verdanken ihren Erfolg nicht zuletzt der Ukraine. Ich bin zuversichtlich, dass auch die Ukraine sich bei Syrien wird bedanken können.
Jo (Josef) Lang, Jahrgang 1954, ist Historiker. Er war von 1982 bis 2022 grüner Stadt-, Kantons- und Bundesparlamentarier für Zug, Mitglied des GSoA-Vorstandes (Gruppe für die Schweiz ohne Armee). 2020 ist im Hier-und-Jetzt-Verlag sein Buch «Demokratie in der Schweiz, Geschichte und Gegenwart» erschienen. Jo Lang lebt heute in Bern.