Der Ausdruck Euphemismus ist griechischen Ursprungs und meint so viel wie Wortbeschönigung, Wortverdrehung, Verbrämung. Mit diesem Phänomen haben wir uns in dieser Rubrik schon verschiedentlich auseinandergesetzt. Offensichtlich sind wir damit in guter Gesellschaft, denn in seiner Weihnachtsausgabe hat der britische „Economist“ unter dem Titel „Making murder respectable“ dem Thema Euphemismus gleich zwei volle Seiten gewidmet.
Einer der grössten Euphemismen der Geschichte, meint das Magazin, sei die Erklärung des japanischen Kaisers Hirohito nach dem Abwurf von zwei amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gewesen. Der Einsatz dieser furchtbaren Waffen hatte 3 Millionen Tote zur Folge und zwang Japan zur bedingungslosen Kapitulation. Der Kaiser sagte in seiner Erklärung wörtlich: „Die Kriegssituation hat sich nicht unbedingt zu Japans Vorteil entwickelt.“
Weiter zitiert der „Economist“ George Orwell (Autor von „1984“ und „Animal Farm“) mit der Bemerkung: Verharmlosende oder verbrämende Ausdrücke seien dazu da, um „Lügen als wahr erscheinen zu lassen und Morde als anständig oder angemessen“. Das Blatt räumt aber ein, dass nicht alle Euphemismen darauf abzielten, zu verzerren oder in die Irre zu führen. Manche Wortbeschönigungen seien auch durch Rücksichtnahme motiviert. Als Beispiel wird die Bezeichnung „gebrechlich“ für einen alten Menschen angeführt. Das sei netter als „tatterig“ oder „senil“.
Ausserdem äussert der „Economist“ die Vermutung, die Briten seien möglicherweise die Weltmeister in Sachen Euphemismus. Zwar sind einige euphemistische britische Formeln wie „the queen was not amused“ (wenn sie in Wirklichkeit über etwas entsetzt ist) oder „to powder my nose“ (wenn sich eine Dame zur Toilette abmeldet) weit herum berühmt. Doch ob das schon zur Weltmeisterschaft in dieser Sparte reicht, ist damit noch längst nicht bewiesen. Was wissen wir schon über Euphemismen etwa im Chinesischen oder in afrikanischen Sprachen? Vielleicht sollte man auch einmal schweizerdeutsche Wortbeschönigungen etwas näher untersuchen.
Schliesslich noch ein Hinweis auf die in Zürich neuerdings berühmt-berüchtigt gewordene Wortschöpfung „Verrichtungsbox“.
Gemeint sind damit Nischen oder Boxen, mit denen die Stadt Zürich offenbar den Strassenstrich besser unter Kontrolle bringen, respektive die Risiken der Sexarbeiterinnen reduzieren will. Der Terminus soll aus Deutschland kommen, wo solche Einrichtungen offenbar schon funktionieren.
Der „Tagesanzeiger“ hat in der vergangenen Woche das „grausige Wort Verrichtungsbox“ als erstes in eine Reihe von Aufzählungen angeführt, die in letzter Zeit „Aufnahme in die Beamtensprache gefunden haben“.
Aufnahme in die Beamtensprache? Was der Tagi den Beamten ankreidet, sieht tags darauf die NZZ als Fehlanzeige. Sie hat nachgeforscht, wie oft das Wort „Verrichtungsbox“ in Verlautbarungen des Stadtrats, des Gemeinderats und in Zeitungsartikeln verwendet wurde. Ergebnis: Stadtrat 0, Gemeinderat 1, Schweizer Presse 142. Bei der Presse wiederum hält der „Tagesanzeiger“ mit 22 Treffern klar die Spitze. Eine nette Enthüllung über einen Euphemismus, den der „Tagesanzeiger“ mit Recht als „grausig“ einstuft – ohne allerdings offenzulegen, dass er dieses Wortmonster „am grausigsten“ verwendet hat.
(R.M.)
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