Mit der schwarzamerikanischen Künstlerin Tschabalala Self (*1990) beginnt St. Gallens neuer Museumsdirektor Gianni Jetzer seine Tätigkeit mit einem markanten, üppigen und wohl auch programmatischen Akzent.
In der Mitte des grossen Oberlichtsaales des St. Galler Kunstmuseums posieren zwei weibliche Figuren. Es sind Schwarze. Die eine sitzt, die andere tänzelt. Feine Negligés – so auch der Titel der Skulptur – verhüllen ihre üppig und ausladend geformten Körper kaum. Beide strahlen positives und selbstverständliches Selbstbewusstsein aus. Und es macht den Anschein, als seien sie eben einem der Bilder an den Wänden des Saales entsprungen und hätten auf dem weissen Podium in der Saal-Mitte Platz genommen.
Eines dieser Bilder mit dem Titel «Dreamers» ist zweiteilig. Der vertikale Teil links zeigt einen muskulösen Mann mit überdimensionierten Armen, der sich, vielleicht selbstverliebt, zur Schau stellt. Rechts sehen wir eine Frau mit Lockenkopf, die sich, halb liegend, mit dem linken Arm aufstützt. Das sind Werke der rund 32-jährigen schwarzamerikanischen, in den USA höchst erfolgreichen Künstlerin Tschabalala Self. Gianni Jetzer, neuer Direktor des Kunstmuseums St. Gallen, beschert ihr einen ersten Schweizer Museumsauftritt.
In einem anderen Raum begegnen wir dem ebenfalls grossen Werk «Candy». Abgebildet ist eine Couch, auf der eine weibliche Gestalt liegt. Sie wendet uns den Rücken zu, dreht aber den Kopf so ab, dass sie uns in die Augen blicken kann. Der schwarze Schatten einer wohl männlichen Figur begleitet sie. Tschabalala Self sagt dazu, sie habe sich von einem Werk Picassos inspirieren lassen. Die Position der Frau erinnert an Picasso. Das präzise Zitat aus einem Picasso-Bild ist aber vor allem das Streifenmuster der Couch.
Figuren mit Geschichten
Die Werke sind nicht einfach Malereien, sondern Materialbilder. Die Künstlerin verwendet Acryl- und Vinylfarben, aber mehrheitlich arbeitet sie mit Textilien, die sie vorfand und bemalte und auf den Bildgrund applizierte. Die Stoffe kräuseln sich oder bilden Falten, sodass sie den Bildern einen skulpturalen Charakter verleihen. Zeichnerisches fügt die Künstlerin hinzu, indem sie mit der Nähmaschine schwarzes Garn einsetzt. Tschabalala Self weitet damit das Spektrum der Malerei aus. Sie experimentiert mit allen sich anbietenden Möglichkeiten und sucht im Spiel zwischen Abstraktion und Figürlichkeit nach Darstellungsweisen, die traditionelle «Frauenarbeit» mit Dekorativem, mit Schönheit und mit Bezügen zur Kunstgeschichte (Picasso, Art Déco, Jugendstil) verbinden.
Vor allem: Tschabalala Self gibt ihren Figuren Geschichten – oft aus dem Alltag, oft aus ihren intimen Beziehungen. Die «Dreamers» scheinen vielleicht über sich, vielleicht über ihre Partner nachzudenken. Auch der Schatten in «Candy» könnte eine zwischenmenschliche Beziehung andeuten.
Offensichtlich wird das in einem weiteren Werk mit dem Titel «Sunday». Die Künstlerin schreibt dazu: «Wir sehen ein Paar, das sich auf einem Bettlaken umarmt. Es umgibt die beiden eine spezielle Atmosphäre, kinetische Energie ist in der Luft, die durch diese beiden Charaktere artikuliert wird. Es ist wie ein Moment der Zeit, ein Schnappschuss, sie sind in Bewegung.» Auch da ist der dunkle Schatten des Paares, der die Szene begleitet. Auch da wirft der Stoff Falten. Auch da spielen die Dekoration, das lustvolle Blau-Weiss der Bettdecke oder die hübsche Musterung der Strümpfe der Frau eine wichtige Rolle. Dazu setzt der grellrote Fleck über dem linken Schenkel der Frau einen konstruktiv klaren Akzent.
Die Künstlerin versieht ihre Werke mit solchen oft poetischen Erläuterungen, die auch ihre eigene Befindlichkeit und Emotionalität zum Ausdruck bringen mögen. Ein Beispiel ist «No», wiederum ein Materialbild: Da sitzt eine Frau mit opulenter Frisur, mit blutrotem Mund und grossen Brüsten. Ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen, ihr Gesichtsausdruck ist abweisend, die Hände sind so verschränkt, dass ihre ganze Gestik «Nein!» zu sagen scheint: «Es ist eines meiner Lieblingsbilder. Die Figur auf dem Bild sagt etwas sehr Kraftvolles, nämlich Nein, und sie verkörpert eine Art von Verweigerung. die Verweigerung einer Bitte, aber auch das Durchsetzen ihres eigenen Willens», so Tschabalala Self.
Dieses Bild und der Text dazu lassen sich als Hinweise auf die wichtigste Stossrichtung von Tschabalala Selfs Arbeit interpretieren: Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Künstlerin ihre Präsenz, die Kraft ihrer Person Bild werden lässt. Neu gegenüber früheren künstlerischen Äusserungen schwarzamerikanischer Künstlerinnen, zum Beispiel Kara Walkers (*1969) oder der gegenwärtig in Luzern mit einer grossen Ausstellung geehrten Betsye Saar (*1926) ist, dass Tschabalala Self auf kämpferische feministische Töne und auf Anklagen verzichtet.
Spezifische Körperbefindlichkeit
Hinweise auf die leidvolle Vergangenheit vieler Schwarz-Amerikaner und vor allem Schwarz-Amerikanerinnen bringt Tschabalala Self höchstens unterschwellig zum Ausdruck. Gleichzeitig ist für Aussenstehende zu vermuten, dass ihre Bilder und Skulpturen eine spezifische Körperbefindlichkeit junger schwarzer Amerikanerinnen bezeugen. Worum es dabei gehen kann, sagt die Künstlerin in ihrem Statement zur Skulptur «Negligé»: «Die Figuren in den Gemälden haben diesen allgemeinen Körpertypus, der für mich in dieser idealisierten Vision von schwarzer Weiblichkeit verwurzelt ist, die aus meiner persönlichen Erfahrung innerhalb eines amerikanischen Kontextes stammt. Die Figuren sind üppig und füllig, das ist also etwas, das sich in der Ästhetik vieler Werke wiederholt.»
Diese Körperbefindlichkeit verbindet die Künstlerin mit ihrer unverwechselbaren künstlerischen Sprache von ganz verschiedenen Tiefenschärfen: Einerseits ist da der zweifellos publikumswirksame «Unterhaltungsaspekt» in der Buntheit ihrer Farben und in der an Bilderbücher erinnernden, leicht lesbaren erzählenden Figürlichkeit. Dazu gesellt sich aber ein Reflexionsvermögen, das hinter den Oberflächenglanz leuchtet und allgemeine Existenzfragen wie Alltäglichkeit, Geborgenheit, Liebe, Beziehungskomplexe oder Einsamkeit in den Fokus nimmt.
St. Gallen als Textilstadt
Es ist kein Zufall, dass Gianni Jetzer in der Lokremise parallel zu Tschabalala Self das Werk der 1934 geborenen Amerikanerin Sheila Hicks zeigt – auch sie eine Künstlerin, die sich in ihrem Werk der Opulenz, der Buntheit der Farben und einem ausgeprägt experimentellen Umgang mit verschiedenen Materialien verschreibt. Einerseits kann Jetzer mit der prall sinnlichen Ausstrahlung mancher Werke dieser Künstlerinnen ein breites Publikum ins Museum locken. Andererseits spielt im Schaffen beider Frauen das Textile eine wesentliche Rolle. Dieser Aspekt ist für St. Gallen wichtig, denn die Stadt blickt auf eine lange Tradition der Textilverarbeitung zurück – von der Leinenweberei im 16. Jahrhundert über die Stickereiblüte um 1900 und bis zu heute aktiven weltbekannten Stoffdesignern wie Jakob Schlaepfer oder Modehäusern wie der Firma Akris.
Diese Textiltradition und ihre Atmosphäre seien, so Gianni Jetzer, auch heute im Bewusstsein des St. Galler Publikums verankert. Er möchte denn auch in den Museumsprogrammen auf diese und andere Eigenheiten des St. Galler Kulturbewusstseins reagieren – auch mit Fragen zur St. Galler Geschichte und Kunstgeschichte, beispielsweise zu sozialpolitischen Themen aus diesem Kontext: Warum und unter welchen Bedingungen entstand hier Kunst? Warum wurde diese und nicht andere Kunst für die eigene Sammlung angekauft? Wie prägte dies das kulturelle Bewusstsein der Stadt und Region Ostschweiz? Auch die Ausstellung von Tschabalala Self ruft solches Nachdenken auf den Plan. Jetzer: «Ich freue mich diebisch, dass ich mit Tschabalala eine Künstlerin nach St. Gallen bringen kann, deren Vorfahren Sklaven waren und möglicherweise auf jenen Baumwollfeldern arbeiten musste, deren Ernten die St. Galler Unternehmer reich gemacht haben.»
Weit gefasstes Kulturbewusstsein
Das zeigt: Gianni Jetzer möchte das Kunstmuseum auf die Stadt hin öffnen und wohl die Kontakte zu anderen Museen, die – um beim Beispiel Textil zu bleiben – u. a. auch ähnliche Themen bearbeiten. Das sind vor allem das Textilmuseum (früher Stickereimuseum) und das Kulturmuseum (früher Historisches Museum). Tatsächlich sind die Grenzen zwischen Kunst und Mode durchlässig und liegen die Möglichkeiten gegenseitiger Bereicherungen auf der Hand. Solche Grenzen lassen sich gewinnbringend überspielen. Ein konkretes Beispiel ist das Kunsthaus Zug, das vor ein paar Jahren Christa de Carouge eine grosse Einzelausstellung widmete.
Nicht nur in diesem Bereich mit vertieften Reflexionen über Kunst- und allgemeine Geschichte möchte Jetzer dem Museum zu zusätzlicher Präsenz und Ausstrahlung verhelfen. Die Kunst der schwarzen Künstlerin Tschabalala Self ist für ihn auch ein Exempel dafür, wie das Museum die herkömmliche Achse Europa-USA der (weissen) modernen Kunst ergänzen und bereichern kann und soll. Kunst ist für ihn vielschichtiger und vielfarbiger. Sie kann über diese Achse und hinaus Erfahrungen und Erlebnisse im Sinne eines viel weiter gefassten Kulturbewusstseins erschliessen. Da sind die Möglichkeiten in der Ausstellungs- und Sammlungspolitik längst nicht erschöpft.
Gianni Jetzer, der neue Direktor, 1969 geboren, studierte in Zürich Kunstgeschichte und kuratierte zu Beginn seiner Karriere im Migros-Museum für Gegenwartskunst in Zürich Ausstellungen. 2001 wurde er Direktor der Kunsthalle St. Gallen und 2006 bis 2013 leitete er das Swiss Institute in New York. Ab 2013 arbeitete er als freier Kurator u.a. für das Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington. 2012 bis 2019 kuratierte er zudem die «Art Unlimited» der Art Basel.
Kunstmuseum St. Gallen
bis 18. Juni
Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit Le Consortium, Dijon. Ein Katalog erscheint später.