In Appenzell sucht man kaum Gegenwartskunst. Doch Fehlanzeige: Die Kunsthalle wartet mit einer breit gefächerten Ausstellung von Francisco Sierra (*1977) auf. Und im Kunstmuseum ist das Vordemberge-Gildewart-Stipendium zu Gast.
In einem beinahe kitschig orange-roten Himmel schweben drei Fallschirme. An ihnen baumeln ein roter Kreis, ein gelbes Dreieck und ein blaues Quadrat – die «heiligen» Grundformen und -farben konstruktivistischer Kunst. «Bauhaus Fiesta» (2022) ist die kleine Malerei von Francisco Sierra betitelt.
Ihr ist in der Kunsthalle Appenzell zu begegnen in der Einzelausstellung des in Chile geborenen, in der Nähe von Murten lebenden Künstlers, der, phantastischer Figuration verpflichtet, in einer ganz anderen Ecke der Kunst beheimatet ist als im Bauhaus. In «Bauhaus Fiesta» spielt er gegenüber der rigiden Kunsttheorie mancher Konstruktivisten eine spitze Ironie aus.
In der Nähe hängt, ebenfalls kleinformatig, das Bild «Würmlihochzeit». Es zeigt zwei über einem exquisit gemalten Urgrund tanzende Regenwürmer, einer mit Brautschleier, der andere mit schwarzem Zylinder. Auch da spielt Ironie oder gar Selbstironie – wenn man weiss, dass das Bild die Hochzeitsanzeige Sierras mit der Geigerin Noëlle-Anne Darbellay zierte und als Sujet die Hochzeitstorte bekrönte.
Malerei als Vergnügen
Beide Bilder sind mit kleinmeisterlicher Präzision gemalt. Beide Male dient aber die virtuose Detailfreude nicht der Darstellung einer realen Wirklichkeit, sondern einem privaten und wohl auch spontanen Gedankenblitz, dem der Künstler mit bewusst eingesetztem handwerklichem Können Dauer gibt.
Ähnliches gilt von «Flying Potato Club»: Da lassen vier drollige Männchen fotorealistisch genau dargestellte Kartoffeln wie Ballons am lichtblauen Himmel schweben. Manches in Francisco Sierras Arbeiten erscheint so absurd wie diese Kartoffel-Ballons. Viele Kombinationen oft alltäglichster und kommuner Dinge sind von unergründlichem surrealem Charakter.
Das ist eine Konstante in Sierras Arbeiten: Seine Bild gewordenen Geistesblitze, Träume oder Visionen lassen keinerlei Fragen nach dem Wozu und Warum zu. Der Künstler gibt ihnen mit seiner präzisen Malweise die fraglose Selbstverständlichkeit eines zweckfreien Spiels. Die Ideen fliegen ihm zu, sagt er, und sie würden auch rasch zum Bild. Offenbar bereiten die technischen Seiten des Malvorganges ihm, der als Maler Autodidakt ist und sich das Handwerk selbständig aneignete, keine Schwierigkeiten. Er sei, so sagt er in einem Interview, fasziniert von den technischen Möglichkeiten der Malerei: Malen ist ihm offensichtlich ein Vergnügen, das er mit einer guten Portion Selbstsicherheit geniesst.
Das Vergnügen ist mitunter aber von langer Hand vorbereitet. Er zeichnet mit dem Kugelschreiber und übersetzt das spontane Ergebnis ins dauerhaftere Medium der Malerei. Oder er formt aus Ton Bizarres und lässt das lackierte Modell zum effektvollen Bild werden. Ein Beispiel ist «Le nez» (2019), das Bild einer kleinen weissen Skulptur mit gefährlich spitzer Nase und kleinen, sorgfältigst gemalten, glasig leuchtenden Augen.
Vor allem bedingen Grossformate wie «Dolphin and h» (2023) komplexe Vorarbeiten. Bei 190 cm hohen Malereien sind Spontaneität und rasche Ausführung nicht mehr möglich. Da braucht Francisco Sierra nicht nur Kugelschreiberzeichnungen als vorbereitende Skizzen, sondern kleine plastische Tonmodelle. Sie werden in der Umsetzung in Malerei riesengross. Diese Umsetzung wird zum zeitraubenden Exerzitium – nur zu bewältigen in (meditativer?) Ruhe und Besonnenheit.
Notenschlüssel als Liege
Auch «Les clefs» (2021), das grosse Ensemble von Wallnussholz-Skulpturen, das Sierra im Parterre-Raum der Kunsthalle mit diesen grossformatigen Malereien kombiniert, ist ohne differenzierte Planung aller technischen Aspekte nicht vorstellbar und verlangt nach Unterstützung oder gar Ausführung durch Spezialisten. Das Ergebnis oszilliert zwischen Möbel und Skulptur, Form und Inhalt.
Man staunt, ähnlich wie vor seinen Malereien, ob der bis ins letzte Detail perfekten Holzbearbeitung und der Eleganz der Formen. Und staunend nimmt man wahr, dass Praktisches unvermittelt in neue Bedeutungsfelder kippt: Was wir zuerst als Liege oder Schrank oder anderweitige Möbel wahrnehmen, erinnert uns bald an Musikalisches: Die Liege wird zum Bass- oder Violinschlüssel. Ein stehendes Möbelstück entpuppt sich als Tenorschlüssel. Ein Pausenzeichen stützt einen Glastisch.
Francisco Sierra widmet sich in dieser Skulpturengruppe, die er, als sei es eine Musterwohnung, auf einen Sockel stellt, der anderen Seite seiner künstlerischen Tätigkeit: der Musik, deren Verschriftlichung er hier skulptural umsetzt. Lange galt sein wichtigster Effort der Musik. Stundenlang übte er an Musikhochschulen das Geigenspiel. Das Beherrschen des Instruments mit allen Finessen verlangt Disziplin und Konzentration, genau wie die Malerei, wie Sierra sie praktiziert. Und hier wie dort kann das Spielerische eine wichtige Komponente der Kunst sein. Ebenso bringt hier wie dort das Gelingen Befriedigung und Freude.
In der Musik, wie sie der Künstler, der Gattungsgrenzen gerne überspielt, als Performer in der Gruppe ausübt, und ebenso in seiner Malerei verweist das Spiel auf tiefere und ernste Schichten. Um bei der Malerei zu bleiben: Francisco Sierra liebt die Ambivalenz der Formen. Er liebt die Klarheit der Aussage und setzt das Klare gleich wieder in Frage. Er steht zur Intimität mancher seiner Fantasien und objektiviert sie handkehrum mit seinem Realismus. Er täuscht, kombiniert, spielt auf allen Ebenen. Blumenblätter werden Vogelköpfe. Das Agavenblatt ist ein Schwert. Dem Spargelkopf verpasst er ein Gesicht. Ein Delphin setzt zum Spiel mit dem Buchstaben h an. Die Notenschlüssel, Symbol anstrengender Beschäftigung mit der Musik, werden zu nach strengem Üben dringend benötigten Ruhemöbeln. Die Präzision seiner Malweise mildert hier, zum Beispiel bei erotischen Motiven, die Härte der Formulierung und wendet sie ins Heitere. Dort wiederum gibt sie der inhaltlichen Aussage Profil und Schärfe.
44 Zierfischchen
Francisco Sierra und die Kuratorin Stefanie Gschwend geben der Ausstellung in der Kunsthalle Appenzell eine klare Gliederung. Sie lassen die Schau im Parterre beginnen mit Grossformaten und mit der Skulpturengruppe «Les clef». Das mittlere Geschoss ist der Raum für die Werke mittleren Formats, entstanden zwischen 2009 und 2023.
Im Dachgeschoss folgt eine Überraschung: Francisco Sierra zeigt 44 2022 und 2023 entstandene, je 6.5 auf 6.5 cm messende Ölmalereien auf Holz mit Darstellungen von Guppys (bunten Zierfischchen) in Originalgrösse. Da breitet er eine ganze Enzyklopädie aus. Jedes einzelne Bildchen ist räumlich inszeniert. Die «armen Viecher» – so Sierra, der sich im Internet nach entsprechenden Vorlagen umsah – müssten doch einen Sockel und einen würdigen Auftritt bekommen. Francisco Sierra sticht ironisch lächelnd mitten in den Themenkomplex Kunst-Dekoration-Unterhaltung-Disziplin hinein. Auch da öffnen sich nach erstem Staunen über die Fertigkeit des Malers tiefere Schichten.
Francisco Sierra wird 1977 in Santiago de Chile geboren. Die Mutter, Schweizerin, ist Lehrerin an der Schweizer Schule, der Vater ist Chilene, Sierra kommt 1986 in die Schweiz, wächst in Herisau auf. Nach dem Besuch der Kantonsschule St. Gallen fünf Jahre Violinunterricht an den Musikhochschulen Schaffhausen und Utrecht. Schon früh beginnt er als Autodidakt zu malen und zu zeichnen. Zuerst Laufbahn als Musiker, dann Verlagerung auf bildende Kunst. Mitglied des Performance Kollektivs Jepack Bellerive.
Auszeichnungen: u.a. Kiefer-Hablitzel-Stipendium, Swiss Award, Manor-Kunstpreis St. Gallen, Atelieraufenthalt in London. Einzelausstellungen in den Kunstmuseen St. Gallen, Solothurn, Aarau, Langenthal, Ludwigsburg. Beteiligungen an Gruppenausstellungen in der Schweiz und im Ausland. Werke in diversen öffentlichen Sammlungen. Francisco Sierra lebt mit seiner Frau Noëlle-Anne Darbellay und seinen Kindern in Cotterd (VD).
Das Vordemberge-Gildewart-Stipendium
Das Kunstmuseum Appenzell ist dieses Jahr Austragungsort des Wettbewerbs um das Vordemberge-Gildewart-Stipendium. Die gleichnamige Stiftung wurde von der Witwe des konstruktivistischen Malers Friedrich Vordemberge-Gildewart (1899–1992) errichtet mit dem Zweck, Künstlerinnen und Künstler unter 35 mit einem namhaften Arbeitsstipendium (gegenwärtig 60’000 Franken) zu fördern. Der Förderbeitrag ist einer der substanziellsten dieser Art in Europa. Die Stiftung ist international ausgerichtet, was die Jury, den Austragungsort des Wettbewerbs und die Stipendiaten betrifft.
Stefanie Gschwend, Direktorin des Kunstmuseums Appenzell und Kuratorin der Wettbewerbsausstellung, lud zwölf in der Schweiz tätige Künstlerinnen und Künstler ihrer freien Wahl ein und stellte allen einen der zwölf Räume des Appenzeller Museums zur Präsentation der Arbeiten zur Verfügung. Die Wahl der Jury fiel auf die 1991 geborene, in Zürich als Dozentin und Künstlerin tätige Tina Omayemi Reden, die in Appenzell zusammen mit Mitarbeiterinnen eine Multimedia-Installation präsentierte, verbunden mit einer Performance. Die Künstlerin ist aktives Mitglied des Bla*Sh (Schwarzfeministisches Netzwerk).
Das Stipendium wird seit 1983 vergeben. Die ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler stammen aus ganz Europa. Einige Namen der Schweizer Stipendiaten: Rolf Winnewisser, Jürg Niederberger Bernard Voïta, Renée Levy, Isabelle Krieg. Dass das kleine und abseits der grossen Kunstströme gelegene Kunstmuseum Appenzell dieses Jahr Austragungsort des wichtigen Stipendiums wurde, bedeute eine Auszeichnung für die Institution und ihre neue Leiterin. Kunstmuseum und Kunsthalle Appenzell sind getragen von der Heinrich Gebert Kulturstiftung Appenzell.
Kunsthalle Appenzell, Ziegeleistrasse 14: Francisco Sierra
Kunstmuseum Appenzell, Unterrainstrasse 5: Vondemberge-Gildewart-Stipendium
Beide Ausstellungen bis 11. Juni
Alle Bilder Courtesy the artist und von Bartha