„Sie wollen in Sarajevo etwas über die Erinnerung an das Attentat vom 28.Juni 1914 erfahren ?“ So etwa hatte eine Bosniakin auf dem Flug von München nach Sarajevo einen unserer Mitreisenden gefragt. Und hatte sich die Antwort gleich selber gegeben. Die lautete etwa so: „Da werden Sie wenig hören. Es ist die Erinnerung an die Kriege in den 1990iger Jahren, welche die Menschen hier quält.“
Angriff auf die Kultur
Die Frau war mit ihrer Aussage nicht weit von der Wahrheit entfernt. Nur wenige Tage später – ein Festtag, wie ihn Sarajevo selten erlebt, bestätigt die Erfahrung der Bürgerin von Sarajevo. Zehntausende Menschen strömen in die Stadt, zwängen sich durch die Gassen der Bascarcia, des osmanischen Basars, füllen die zahlreichen Strassencafes und kommen schliesslich am Abend des 9.Mai – dem Tag des Sieges über Hitlerdeutschland – zu dem wohl prächtigsten Gebäude Sarajevos, zur Vijecnica, zum Rathaus. Dieser im Jahre 1896 unter österreichisch-ungarischer Herrschaft im so genannten neo-maurisch-orientalischem Stil errichtete Prachtbau diente zunächst als Rathaus, dann, unter kommunistischer Herrschaft, seit 1949 als Bibliothek.
In den Jahren des Bosnienkrieges (1992-1996) wurde es 1992 von den serbisch-bosnischen Truppen unter der militärischen Führung von Ratko Mladic und der politischen Verantwortung von Radovan Karadzic und Slobodan Milosevic schwer beschädigt. Fast zwei Millionen Bücher verbrannten. Es war ein Angriff auf die Kultur der Stadt, in der Muslime, Christen und Juden bis zum zweiten Weltkrieg viele Jahrhunderte einigermassen friedlich zusammen gelebt hatten.
Friedliches Zusammenleben
Bogdan Bogdanovic, 2010 verstorbener Architekt, Essayist und einst auch Bürgermeister von Belgrad, schrieb 1992, die Welt werde uns, den Serben, das Zerstören der Städte nie verzeihen: „Wir werden als die Städtezerstörer, als die neuen Hunnen, in Erinnerung bleiben.“
Manche haben, etwas übertrieben, Sarajevo das „Jerusalem Europas“ genannt. Das Leben der verschiedenen Gruppen im osmanischen Sarajevo war jedoch etwas komplizierter – wie etwa Holm Sundhaussen in seinem bemerkenswerten Buch „Sarajevo – Geschichte einer Stadt“ schreibt. Die osmanische Herrschaft sei nicht auf Integration, sondern auf Segregation der Bevölkerungsgruppen angelegt gewesen. „Religionsausübung, Wohnen, Familien- und Privatrecht, Bildungswege, intellektuelle Diskurse waren weitgehend getrennt. Nur im Geschäftsleben wurden die Grenzen überschritten.“
Immerhin lebten diese Parallel-Gesellschaften meistens friedlich nebeneinander. Und: die Osmanen nahmen in Sarajevo wie in anderen Städten ihres Reiches auch manche Juden auf, die von den „katholischen Königen“ Ferdinand und Isabella“ nach 1492 aus Spanien vertrieben worden waren.
Nach der "Säuberung"
Heute, nach den verheerenden Kriegen ist Sarajevo, im Unterschied zur osmanischen Epoche und auch im Unterschied zur Tito-Zeit fast eine, wie man schrecklicherweise sagt, „ethnisch reine Stadt“. So versammeln sich am Abend des 9.Mai vornehmlich Bosniaken, also Menschen muslimischen Glaubens, vor ihrem alten Rathaus. In hellem Scheinwerferlicht soll es erstrahlen – doch die Technik versagt an diesem Abend. Es beibt dunkel um das Prachtstück. Immerhin, am nächsten Abend klappt alles. Die Vijecnica efrscheint in hellstem Licht.
Nur wenige hundert Meter weiter, überspannt sie Lateinerbrücke die Miljacka, den schmalen, nur 36 Kilometer oberhalb von Sarajevo bei Pale entspringenden kleinen Fluss, der Sarajevo durchquert. An dieser Lateinerbrücke wurden am 28.Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek von Gavrilo Princip ermordet. Das Paar war schon zuvor beim Beginn ihrer Stadtrundfahrt einem Attentat entkommen. Einer der Attentäter, Nedeljko Cabrinovic hatte eine Bombe auf die Kolonne geworfen und einen Begleiter des Erzherzogs verwundet.
Der Anschlag
Trotzdem hatte das Paar seine Besichtigungstour fortgesetzt, war in das Rathaus gekommen, hatte sich beim bosnischen Landeskommandanten Oskar Potiorek über die schlechte Sicherheitslage beschwert und hatte dann die Rund- fahrt wieder aufgenommen. Ein tödlicher Fehler. An der Brücke angekommen schoss Gavrilo Princip auf das Paar und schluckte dann eine Kapsel Zyanid, die ihm seine serbischen Auftraggeber in Belgrad mitgegeben hatten. Doch das Gift war alt, es stammte, wie manche in Sarajevo berichten, aus den Balkankriegen von 1912/13. Daher verfehlte seine Wirkung.
Gavrilo Princip und seine Mitverschwörer wollten Selbstmordattentäter werden. Sie wurden zu Attentätern, die, ohne es voraussehen zu können, dazu beitrugen, den ersten Weltkrieg auszulösen. Das gelang auch deshalb, weil, wie Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ schreibt, Sicherheitsmassnahmen so gut wie nicht getroffen worden waren.
Und: Franz Ferdinand und seine Frau Sophie hatten ein prekäres Datum für ihren Besuch gewählt. Für Franz Ferdinand und Sophie war der 28.Juni zwar ein Glückstag – es war ihr Hochzeitstag, wie Christopher Clark schreibt (Andere Historiker geben den 1.Juli als Hochzeitstag an).
Unterschiedliche Bewertungen
Für die Serben war der Besuch am 28.Juni eine Provokation: denn am 28.Juni 1389 war in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) das mittelalterliche serbische Königreich im Kampf gegen die osmanischen Türken untergegangen. Diese Niederlage am St.Veits-Tag prägt das von allerlei serbischen National-Chauvinisten gepflegte historische Bewusstsein vieler Landsleute noch heute.
Das Attentat auf der Lateinerbrücke wird heute, ein Jahrhundert später, von Serben und Bosniaken total unterschiedlich bewertet (Näheres dazu in einem der demnächst folgenden Beiträge).In Titos kommunistischem Jugoslawien hiess die Lateinerbrücke Gavrilo-Princip-Brücke. Die Stadtväter, welche seit der Unabhängigkeit Bosniens herrschen (Bürgermeister ist derzeit ein Katholik), haben der Brücke ihren alten Namen, Lateinerbrücke, wieder gegeben. Das kleine Museum am Ufer hiess früher Gavrilo Princip Museum, heute ist es eine Abteilung des Stadtmuseums, in dem u.a. ein nachgestellter Film des Attentates zu sehen ist. Die in Beton gegossenen Fussstapfen Princips, die früher an der Brücke einzementiert waren, liegen jetzt, kaum sichtbar und keineswegs als Exponat gedacht, links im Museum, verdeckt von der Eingangstür.
Schwächliches Friedenscorps
Gavrilo Princip – Freiheitskämpfer oer Terrorist ? Dieser Streit zwischen Serben und (muslimischen) Bosniaken wird die beiden Ethnien auch in Zukunft entzweien. Der serbische Belagerer Radovan Karadzic verteilte an besonders mutige Kämpfer Gavrilo-Princip-Medaillen. Auch wollte er Sarajevo nach einem Sieg in Princip-Stadt umbenennen. Die heutigen, in ihrer überwältigenden Mehrheit muslimischen Bewohner wollen lieber beim alten historischen Namen bleiben – denn diese Sarailije wissen, dass ihre Stadt nach einem im 16.Jahrhundert gebauten Sarail – einer allen Gästen Sicherheit gewährenden Herberge – entstanden ist.
Nur einen kleinen Fussweg weiter kommt der Besucher der heutigen Wirklichkeit der Stadt wieder näher. Unterhalb der Jesuskathedrale, neben der orthodoxen Kirche erreicht man nämlich ein dunkles Kapitel des 20.Jahrhunderts – die Erinnerungsstätte an den Völkermord von Srebrenica. Srebrenica gelegen, war im Bosnienkrieg neben anderen Städten von der UNO als „Save Haven“ für die muslimischen Bewohner Bosniens ausgerufen worden. Ein schwächliches holländisches so genanntes Friedenscorps bewachte die Stadt. Dann kam Ratko Mladic mit seiner serbisch-bosnischen Armee, stellte sich vor die Kameras, erklärte, dass er mit dem Einmarsch endgültig der osmanischen Herrschaft ein Ende bereite, verschleppt muslimische Männer und Frauen und liess sie - unter den Augen der UN-Schutztruppe - meuchlings erschiessen und in Massengräbern verscharren. Die UNO, um Hilfe gebeten, blieb tatenlos. Auch in diesem Museum kann man einen Film sehen, er zeigt etwa Angehörige der Ermordeten, die noch Jahre nach dem Massaker nach jenen Stellen suchen, wo ihre Ehemänner oder Söhne ermordet wurden.
Die Stadt unter Belagerung
Und der Film zeigt, wie manche der Verfolgten, halb verhungert und abgemagert, schliesslich doch noch in Tuzla ankommen – einer weiteren Stadt, welche die UN zur Schutzzone erklärt hatten, die aber ausserhalb des Machtbereiches der serbischen Soldateska lag. Die Verantwortlichen für das Massaker, Radovan Karadzic und Ratko Mladic, sitzen inzwischen auf der Anklagenbank des internationalen Jugoslawientribunals in Den Haag. Slobodan Milosevic starb in der Haft in Den Haag.
Nur wenig weiter, an der immer noch nach Josip Broz Tito benannten Ulica Marsala Tita, liegt das Mahnmal für die für die in Sarajevo während der Belagerung umgekommenen etwa 2000 Kinder. Tito wird weiter verehrt, in manch einem Restaurant ist sein Porträt zu sehen.
Und dann der Tunnel. Man muss sich weit nach aussen begeben, weit hinter den Flughafen, benannt nach dem Stadtteil Butimir. Während der Belagerung des bosniakisch-kroatischen Teils der Stadt durch Mladic, Karadzic und Milosevic gruben die Belagerten unter der Start- und Landebahn des Flughafens einen Tunnel. Er half Bosniaken und Kroaten in allen Lebenslagen: Waffen, Lebensmittel, Medikamente, alles wurde zunächst auf dem Rücken, später, nach Verlegung von Gleisen, auf Wagen in die Stadt geschleust. Heute kann der Besucher gebückt durch ein knapp vierzig Meter langes Teilstück laufen. Ein kleines Privatmuseum erinnert an diese kritischen Kriegstage.
Posttraumatische Periode
Sarajevo ist kein Kriegsmuseum. Dennoch ist die Erinnerung, besonders an die Traumata des Bosnienkrieges, fast allgegenwärtig. Fast jeder, der überlebt hat, weiss von dem Horror zu berichten. „Wir leben“, sagt etwa Nihad Kresevljakovic , „nicht in normalen Zeiten. Wir leben in einer post-traumatischen Periode.“ Nihad Kresevljakovic ist Leiter des „Sarajevo War Theatre“. Das wurde am Beginn des Krieges, am 17.Mai 1992, gegründet. Nihas Vater war damals Bürgermeister.
Der Sohn sagt heute: „Kultur und Kunst sind natürliche menschliche Bedürfnisse.“ Und er fügt, in Anspielung auf die serbischen Belagerer, hinzu:“ Radikale Gruppen sind die Feinde der Kultur.“ 2000 Aufführungen gab es während der Kriegstage im Theater. „Die Menschen von Sarajevo haben damals ums Überleben gekämpft. Aber sie kämpften auch für eine Idee.“ Diese Idee sei die eines friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen gewesen. Es sei die Idee des alten Jugoslawiens gewesen, die nach dessen Zerfall in Bosnien überleben sollte.
Wiederentdeckung Sarajewos
Auch die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag war damals in Sarajevo. Sie wollte an der Seite der Belagerten sein und versuchte sich erstmals als Regisseurin. „Warten auf Godot“ war das Stück, das sie während der Kriegszeit für das Jugendtheater Sarajevo inszenierte. Dem Spiegel sagte sie damals:„Die Wahl musste auf ,Warten auf Godot' fallen, dieses hoffnungslose Warten auf etwas, das nie eintritt." Was damals nicht eintrat war die Hilfe aus Amerika und Europa.
Heute hat zumindest Europa Sarajevo wieder entdeckt. Doch es ist nicht in erster Linie das Sarajevo der von Mladic, Karadzic und Milosevic Belagerten. Es ist das Sarajevo des Attentates von 1914, das den ersten Weltkrieg auslöste. „Sarajevo – Heart of Europe“ heisst eine Stiftung, die westliche Botschaften in der Stadt gegründet haben. Zum Jahrestag des Attentates am 28.Juni schickt Österreich die Wiener Symphoniker. Frankreich wollte ursprünglich die diesjährige Tour de France in Sarajevo beginnen lassen, begnügt sich jetzt aber mit der Organisierung eines lokalen Radrennens.
Die Deutschen hatten eine bessere Idee. Sie wollen etwa 550 bosnische Jugendliche aller Konfessionen zu Familien nach Deutschland senden, diese Familien sollen dann ihre Kinder zum Gegenbesuch nach Sarajevo schicken.
Die Jugendlichen aus Deutschland werden von ihren bosnischen Altersgenossen, der ersten Nachkriegsgeneration, vermutlich wenig über das Jahr 1914 erfahren. Eher schon werden sie Berichte über die Schreckensjahre 1992 bis 1996 hören – als ihre Eltern in Sarajevo ums Überleben kämpften.
Weitere Berichte aus Sarajevo folgen