Früher wusste kaum einer, ob der Nachbar ein Serbe, ein Moslem oder ein Kroate war. In Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien, waren schon 30 Prozent der Ehen Mischehen.
Die Stadt beging die moslemischen, katholischen und orthodoxen Feiertage. Moslemische Männer feierten mit ihren christlichen Frauen Weihnachten. Und christliche Frauen begingen mit ihren moslemischen Männern das Ende des Ramadan. Dann, 1991, begann der Krieg.
120‘000 Tote
Jetzt töteten sie sich: Serben, Kroaten, Bosnier, Albaner, Slowenen und Mazedonier – Orthodoxe, Katholiken, Moslems. Aufgewiegelt von Politikern, Kriegstreibern, Kriminellen, Nationalisten und Populisten lieferten sie sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen Krieg, der über 120‘000 Todesopfer forderte.
Am schlimmsten litt Bosnien-Herzegowina. Sarajevo wurde fast vier Jahre lang von den Serben belagert, beschossen und von der Aussenwelt fast abgeschnürt. Die Verantwortlichen, Radovan Karadzic und Ratko Mladic, stehen in Den Haag vor Gericht.
Die amerikanische Journalistin Barbara Demick hatte Sarjevo während der Belagerung immer wieder besucht. Ihr auch auf Deutsch erschienenes Buch „Die Rosen von Sarajevo“ 1) ist ein erschütterndes Zeugnis. Es beschreibt auf aufwühlende Art das Leben, das Leiden und den Tod in der belagerten Stadt.
Die Zigarette auf dem Grab
Barbara Demick, heute Korrespondentin der Los Angeles Times in Peking, kam zum ersten Mal 1994 in die Stadt. Sie mietete sich in einer Wohnung in der Logavina ein, eine Strasse von Sarajevo – heute eine Einkaufsmeile. Dutzende ihrer Nachbarn hat sie während drei Jahren immer wieder besucht und lange mit ihnen gesprochen. Die Beschreibungen gehen unter die Haut.
Desa Stanic, eine Muslimin, trauerte um ihren erschossenen Mann Pero. Sie hatte keine Kerze, die sie ihm auf sein Grab hätte stellen können. Also zündete sie eine Zigarette an. Sie drückte sie aufrecht neben einer Plastikblume in den Schnee, der auf dem Grab lag. „Pero hat so gern geraucht, am liebsten Marlboro“, sagt Desa. „Ich hätte ihm eine Marlboro gebracht, wenn ich eine gehabt hätte.“
“Bombardiert sie, bis sie wahnsinnig werden“
Die Serben beschossen mit Flugabwehrgeschossen und Mörsergranaten Wohnblöcke, Trams, Autos und Fussgänger. „Die Sniper“, so zitiert die Autorin die Einwohner“, „waren so nahe, dass sie wählen konnten, in welches Auge sie einem schiessen wollten.“
Die Menschen kriegten von den Amerikanern über eine Luftbrücke Konserven. Sie waren aus dem Vietnamkrieg übrig geblieben. Haltbarkeitsdatum bis 1967 und 1968. Man ass den Inhalt trotzdem, man hatte Hunger.
Nur das uralte Dosenfleisch mied man. Sogar Tierärzte warnten davor. Einem Hund fielen die Haare aus, nachdem er davon gefressen hatte. Die Serben verfolgten die Strategie, die Stadt auszuhungern, bis sie kapitulierte. Die Autorin zitiert Ratko Mladic: „Bombardiert sie bis sie wahnsinnig werden“.
*Karadzic, der Hohlkopf“
Vom bosnischen Serbenführer hielt man in Sarajevo wenig: „Karadzic, Psychiater am Kosovo-Hospital, Sarajevos grösstes Krankenhaus, war in der ganzen Stadt als Hohlkopf bekannt - ein Amateurdichter … Er hatte 1985 wegen Missbrauchs öffentlicher Gelder im Gefängnis gesessen. Niemand konnte ihn recht ernst nehmen“.
Immer wieder Krieg: Die Nationalbibliothek wurde beschossen; 600‘000 seltene Bücher verbrannten. Am 5. Februar 1995 explodierte auf dem Markt von Sarajevo eine Mörsergranate. Abgerissene Körperteile lagen verstreut zwischen Kartoffeln und Zwiebeln. 68 Menschen starben, 200 wurden verletzt.
Karadzic sagte: „Die Bewohner von Sarajevo werden nicht mehr die Toten zählen, sondern die Überlebenden.“
73 Jahre im gleichen Staat
So schrecklich und wichtig diese detaillierten Kriegsbeschreibungen sind: Die eigentliche Stärke des Buches liegt anderswo: Barbara Demick geht der Frage nach, ob denn der jugoslawische Traum vom Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen so weltfremd war, wie dies während und nach dem Krieg behauptet wurde.
Jugoslawien gab es seit 1918, zunächst als Königreich und ab 1945 als Republik. Josip Tito herrschte von 1945 bis zu seinem Tod 1980. 1991 begann der Staat auseinanderzubrechen. Die verschiedenen jugoslawischen Volksgemeinschaften und Religionen lebten also 73 Jahre lang im gleichen Staat zusammen. Und begannen sich zu vermischen. Barbara Demick zitiert Zijo: „Vor dem Krieg wusste keiner so recht, wer Serbe war, wer Kroate und wer Moslem. Das war besser“.
Sie erzählt die Geschichte des orthodoxen Mladen Markovic und der katholischen Veronika. Eine wunderbare Liebesgeschichte. Ohne das geringste ethnische Problem.
“Welche Religion eine Frau hat, ist mir egal“
Der damalige bosnische Staatspräsident Alija Itzetbegowic sagte: Jeder Versuch, die ethnischen Gruppen in Bosnien auseinanderzudividieren, sei wie „Mais- und Weizenmehl zu trennen, nachdem man sie in derselben Schüssel verrührt hat“.
Der junge Moslem Nermin erklärt: „Welche Religion eine Frau hat, mit der ich mich einlasse, ist mir egal, solange sie hübsch ist“.
Die Autorin berichtet vom pensionierten General Divjak, einem Serben. Er empfand es als Beleidigung, dass Slobodan Milosevic sagte, die Serben sollten nicht mit andern Volksgruppen zusammenleben. Sein älterer Sohn war mit einer Kroatin verheiratet, sein jüngerer mit einer Muslimin. Bei der Volksabstimmung 1992 stimmten alle für ein unabhängiges multikulturelles Bosnien. Als der Krieg begann, meldete er sich freiwillig bei der bosnischen Armee.
Das Geschwätz von Grossserbien
Viele Serben hatten sich während des Krieges geweigert, die Stadt zu verlassen. So Milutin Djurdjevac und seine Frau Cuijeta. Sie lebten mausarm in einer düsteren Küche in der Lugovina 38. „Mich interessiert das ganze Geschwätz von einem Grossserbien nicht… Wir hatten immer mit Muslimen zusammengelebt“.
Mustafa Orman, ein Moschee-Leiter sagt: „Der Islam ist eine versöhnliche Religion, sehr tolerant. Wir respektieren alle Religionen“. Bosniens Muslime galten als sehr offen. „Manche assen tatsächlich kein Schweinefleisch“, zitierte die Autorin einen Moslem, „aber viele tranken ein Bier oder einen Schnaps. „Ich feiere alle Festtage – auch Weihnachten“.
Das Geschwafel von der Blutfehde
Esad Taljanovic, ein Zahnarzt, erklärt: „Unsere Frauen tragen Miniröcke und Jeans, wir trinken Bier und Wein. Sollte Bosnien jemals ein islamischer Staat werden, dann wäre ich der Erste, der geht. Ausländische Kommentatoren beschrieben den Jugoslawien-Krieg immer wieder als Religionskrieg. Dies sei irreführend, schreibt die Autorin, „denn die Jugoslawen waren nie besonders religiös“. Vom Aussehen her könne man nicht sagen, wer Serbe, Kroate oder Moslem ist. Es war auch kein Klassenkrieg. Es gab reiche und arme Muslime, reiche und arme Serben. „Dass wir Muslime waren, war uns vorher gar nicht bewusst“, sagt Sacira Lacevic. „Die Serben haben uns dazu gezwungen“.
Ein Muslim betont: „Die Fernsehreporter im Ausland – von denen die meisten noch nie in Bosnien waren – schwafelten ständig von der Blutfehde zwischen Serben, Kroaten und Muslimen. Die Realität war wesentlich komplizierter, hintergründiger“.
“Vier Jahre sollten uns nicht auseinanderbringen“
Der Krieg belastete immer mehr die Toleranz der Bewohner von Sarajevo. Der Vater des muslimischen Zahnarztes Esad war bei einem serbischen Angriff getötet worden. Später sagt Esad: „Ich würde mich wirklich gerne mit meinen alten Freunden unterhalten, Serben, die weggezogen sind und sie fragen, warum? Warum habt ihr das gemacht?“ Dann meint er: "Wir dürfen nicht die Haltung einnehmen, dass wir nicht mehr zusammenleben können. Wir haben Jahrzehnte zusammengelebt, das Bett geteilt. Da sollen uns vier Jahre nicht auseinanderbringen."
Vor dem Krieg achtete man nicht darauf, wer Serbe, Muslim oder Kroate war. Nach dem Krieg war es plötzlich anders. Jetzt, wenn man sich um eine Stelle bewirbt, muss man auf einem Formular seine ethnische Zugehörigkeit angeben. Arbeitsstellen werden nach ethnischen Gesichtspunkten verteilt.
Und jene, die aus den vielen Mischehen hervorgegangen sind, die weder Muslime, noch Kroaten, noch Serben sind – oder alles zusammen? Sie gelten als „Andere“. Sie werden diskriminiert wie Juden und Roma. Plötzlich begannen die Leute sich wieder mit der Religion zu beschäftigen, ihrer Religion. Immer mehr und intensiver grenzten sie sich von den andern Religionen ab.
73 Jahre waren nicht genug
Machtgierigen nationalistischen Politikern ist es gelungen, die Idee vom friedlichen Zusammenleben und Verschmelzen der Ethnien zu zerstören. Am Schluss mischten auch radikale Kirchenvertreter mit und wiegelten das Volk auf.
Die Frage ist rhetorisch und naiv: Wenn die Völker Jugoslawien länger Zeit gehabt hätten, sich zu vermischen – würde es dann Jugoslawien noch heute geben?
Bosnien war schon immer ein Schmelztiegel - und Sarajavo war nicht Jugoslawien. Ausserhalb Bosniens war die Zahl der Mischehen weit geringer – doch selbst in Serbien und Kroatien wuchs sie ständig.
73 Jahre waren nicht genug, um sich zu verschmelzen. Vielleicht hätte Tito 500 Jahre leben müssen, damit sein Traum vom vereinten Jugoslawien Wirklichkeit würde.
1) Barbara Demick: "Die Rosen von Sarajevo", Eine Geschichte vom Krieg, Droemer Verlag, München, 2012, ISBN 978-3-426-27587-0