Professor Slobodan Soja ist einer der wenigen in Sarajevo verbliebenen Serben. Von Beruf ist er Historiker. Auch war er Botschafter Bosniens und Herzegovinas in Paris und Kairo. Über das Attentat, bei dem am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek, Fürstin von Hohenberg, starben, hat er eine dezidierte Meinung.
Leistungen und Versäumnisse Österreich-Ungarns
Um diese zu äussern, macht Professor Soja einen kleinen historischen Exkurs. Richtig, so sagt er etwa, seitdem Österreich-Ungarn 1878 (unter formell verbleibender osmanischer Oberherrschaft) Bosnien und Herzegovina übernommen habe, sei es mit dem Land in vielen Dingen bergauf gegangen. Die Infrastruktur sei verbessert worden, prächtige Gebäude – etwa die Vijecnica, das neue Rathaus – seien entstanden. Auch habe Thronfolger Franz Ferdinand darüber nachgedacht, die Stellung der Südslawen, somit auch die der Serben, in der Monarchie zu stärken und, möglicherweise, aus der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn eine Trippel-Monarchie aus Österreichern, Ungarn und Südslawen (Kroaten, Serben, Bosniaken) zu machen.
Doch eines hätten die neuen Herrscher versäumt: dringend notwendige soziale Reformen, wie etwa die Beschneidung der Macht der muslimischen Grossgrundbesitzer, seien ausgeblieben. Denn die neuen Herren seien auf die Unterstützung der Einheimischen angewiesen gewesen – und das seien nun auch die muslimischen Grundherren gewesen.
Dem Herrschafts- und Modernisierungskonzept der Doppelmonarchie stand aber natürlicherweise ein anderes Konzept gegenüber – das der beherrschten Völker wie etwa der Serben, Kroaten und auch Ungarn. Die haben die Monarchie oft als „Völkergefängnis“ empfunden. Befreiung und Unabhängigkeit war ihr Ziel. Ideologische Grundlage war der Nationalismus.
Serbische Grossmacht-Träume
Professor Husnija Kamberovic, ein (muslimischer) Bosniake vom Historischen Institut der Universität Sarajevo, argumentiert, die Serben hätten sich nach den für sie siegreichen Balkankriegen von 1912/13 als regionale Grossmacht gefühlt. Sie hatten Vardar-Makedonien mit der Stadt Skopje und das Kosovo für sich erobert und wesentlich dazu beigetragen, das Osmanische Reich praktisch von der Balkanhalbinsel zu vertreiben. In Serbien habe seinerzeit eine „Atmosphäre des Sieges“ geherrscht.
Tatsächlich träumten viele nun von der Vereinigung aller Serben in einem Staat. Und da wurde Österreich-Ungarn, das Bosnien beherrschte, zum nächsten Feind. Diese Idee hätten Gavrilo Princip und seine Mitverschwörer vertreten. Und sie hätten damals auch schon ein „jugoslawisches“ Konzept verfolgt, nämlich die Vereinigung aller Südslaven in einem Staat unter serbischer Führung.
Keine Unterdrückung in der Doppelmonarchie
Viele Serben werden noch heute diese Gedankengänge nachvollziehen können – auch ein gemässigter Mann wie Professor Slobodan Soja tut dies. Aber, fragt er, darf man für eine Idee töten? Darf man also in diesem Falle für die Idee des Nationalismus töten?
Professor Soja antwortet mit einem klaren Nein. Und hier endet seine Übereinstimmung mit Gavrilo Princip und seinen neun Mitattentätern vom 28.Juni 2014. Ein Tyrannenmord sei zwar nicht von vornherein abzulehnen. Aber Franz Ferdinand sei kein Tyrann gewesen. Im Gegenteil. Wie etwa Professor Kamberovic berichtet, seien die Serben in Bosnien-Herzegovina von Österreich-Ungarn keineswegs in besonderer Weise unterdrückt worden, vielmehr hätten sie dieselben Chancen gehabt wie alle andere Völker der Monarchie auch.
Historie zwischen Wissenschaft und Ideologie
Professor Kamberovic will – auf wissenschaftlicher Grundlage, wie er beteuert – die Ereignisse von 1914 auf einer grossen Historikerkonferenz in Sarajevo untersuchen. Um keine serbischen Empfindsamkeiten zu verletzen, hat er die Konferenz so gelegt, dass sie vor dem Jahrestag des Attentates am 28. Juni beendet ist. Eine andere Konferenz, organisiert vom Germanisten Professor Vahidin Preljevic unter dem Titel „The Long Shots of Sarajevo“ will sich mehr mit den „mentalen Erinnerungsmustern“ an den ersten Weltkrieg und mit der Problematik des Nationalismus befassen. Diese Tagung endet am 28. Juni, der in diesem Jahr zudem der erste Tag des muslimischen Fastenmonats Ramadan ist.
Unbelehrbare Serben organisieren ihr eigenes Treffen. Das soll in Andricgrad stattfinden. Andricgrad ist eine kleine, gerade im Aufbau befindliche, in erster Linie für Touristen gedachte Kunststadt. Sie liegt wenige hundert Meter von jener Stelle entfernt, an welcher der osmanische Grosswesir Sokollu Mehmed Pascha in den Jahren 1571-78 die heute berühmte und zum Unesco-Weltkulturerbe gehörende Brücke über die Drina gebaut hat. Der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andric hat mit seinem Roman „Die Brücke über die Drina“ dem Bauwerk und unvergessliches literarisches Denkmal gesetzt.
Verbindung zu Karadzic
Finanziert wird das Kunstprodukt Andricgrad vom Filmregisseur Emir Kosturica, der in seinem Film „Underground“ den Untergang von Titos Jugoslawien dargestellt hat.
Emir Kosturica, in Sarajevo geboren und ursprünglich Muslim, konvertierte 2005 zum serbisch–orthodoxen Glauben und hat sich den Vornahmen Nemanja gegeben. Dieser Name erinnert an Stefan Nemanja (1114-1199), den Gründer der mittelelterlichen serbischen Königsdynastie. Emir-Nemanja Kosturica gilt als Unterstützer von Radovan Karadzic, der im Haag vom Internationalen Jugoslawientribunal wegen seiner Belagerung Sarajevos vieler Kriegsverbrechen beschuldigt ist.
Karadzic, in den montenegrinischen Bergen geboren, Psychiater von Beruf und leidenschaftlicher Spieler der Gusle, eines einsaitigen Streichinstrumentes, hat viele, literarisch schlechte, Lobgesänge auf Gavrilo Princip verfasst. Manche serbische Generäle, berichtet Professor Kamberovic, hätten sich im Bosnienkrieg als „Anhänger Gavrilo Princips“ bezeichnet.
Wer aber an der Drinabrücke eine auf serbischem Nationalismus beruhende separate Veranstaltung plant, missbraucht den Namen des grossen Ivo Andric. Andric nämlich hat das Zusammenleben der Völker, nicht aber deren Trennung propagiert.
Wachsendes Interesse an Gavrilo Princip
Die unterschiedlichen Bewertungen Pricips beschränken sich nicht auf Bosnien und Serbien. In Barbara Tuchmans Buch „August 1914“ (auf Deutsch erschienen 1964) kommt der Attentäter nicht vor. In ihrem Buch „Der stolze Turm – Die Welt vor 1914“ gibt die Autorin zwar eine ausführliche Darstellung der anarchistischen Szenerie Europas und vieler Attentate auf Vertreter der herrschenden politischen Systeme (etwa jenes auf Elisabeth von Österreich am 10. September 1898 in Genf durch den italienischen Anarchisten Luigi Lucheni). Aber den Bogen bis Gavrilo Princip spannt sie nicht.
Keinen einzigen Gedanken an den Attentäter verschwendet Fritz Fischer in seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ (1961 erschienen). Bei Christopher Clark („Die Schlafwandler) Herfried Münkler („Der Grosse Krieg“) und in den Werken Holm Sundhaussens über die „Geschichte Serbiens“ und Sarajevos („Die Geschichte einer Stadt“) wird der Attentäter dann aber teilweise ausführlich erwähnt.
Vor allem aber befasst sich Vladimir Dedijer, 1990 in Boston verstorbener Historiker, ausführlich mit der Herkunft Gavrilo Princips und seiner ideologischen Prägung. Dedijer war in seiner Jugend Partisan in Titos Untergrundarmee, später arbeitete er als Journalist, Wissenschaftler, Autor und phasenweise als Titos Ratgeber.
Wurzeln des Nationalismus
In seinem 1966 erschienenen umfangreichen Werk „The Road to Sarajevo“, schildert er auch die Herkunft Gavrilo Princips. Die Princips, arme Bergbauern, stammten aus einem abgelegenen, wenig bevölkerten Tal, umgeben von 2000 Meter hohen Bergen, welche Bosnien von Dalmatien und der adriatischen Küste trennen. Die Menschen dort lebten jeweils in einer Zadruga, in einer Grossfamilie. Das Gebiet von Gabrovo Polje, so hiess das Tal, galt als Militärgebiet, die Menschen hatten sich gegen die Angriffe Habsburgs und der Republik Venedig zu verteidigen.
Mitglieder der Grossfamilie Princip nahmen auch an den Aufständen gegen die osmanischen Besatzer teil. Todo Princip, Grossvater Gavrilos, kämpfte noch 1877, ein Jahr vor der Machübernahme Österreich-Ungarns in Bosnien, gegen die Türken. Todo und Gavrilos Vater Petar flohen dann mit vielen anderen Serben nach Montenegro, Serbien und Österreich-Ungarn.
Gavrilo Princip wurde zwar erst 18 Jahre später, 1894 geboren, aber seine historische und ideologische Sozialisation war im Kampf der Familie gegen die Osmanen schon angelegt. In seinen jungen Jahren vor 1914 kam der bosnische Serbe Gavrilo Princip sowohl mit den in der serbischen Hauptstadt Belgrad gepflegten grossserbischen Ideen in Kontakt als auch mit einer Organisation, die sich „Mlada Bosna“ – junges Bosnien – nannte. In ihr hatten sich Serben, Kroaten und Muslime zusammengefunden, um für eine Loslösung Bosniens von Österreich-Ungarn und für einen Zusammenschluss aller Südslawen unter serbischer Führung in einem neu zu gründenden „Jugoslawien“ zu kämpfen. Professor Slobodan Soja nennt die Vereinigung „Mlada Bosna“ eine der wenigen Gruppen, in der jemals Serben, Kroaten und Muslime für eine gemeinsame Sache gekämpft hätten.
Disparate Ideologien der Attentäter
Vahidin Preljevic, Professor für deutschsprachige Literatur und Kulturtheorie am Institut für Germanistik der Universität Sarajevo, sagt, viele Autoren hätten innerhalb der Gruppe „Mlada Bosna“ gewirkt– katholische Kroaten, orthodoxe Serben, Muslime und, in einem weiteren Kreis, auch Slowenen. In der Gruppe sei patriotisch gesinnte, aber auch sozialrevolutionäre Literatur entstanden. Würde man aber, sagt Professor Prejevic, eine Art Ideologiegeschichte des 28. Juni 2014 schreiben, dann müsse man feststellen, dass es eine gemeinsame Ideologie der Attentäter nicht gegeben habe: Gavrilo Princip ein Nationalist, Danilo Ilic ein Sozialist, Nedeljko Caberinovic (der die erste Bombe geworfen hat) ein Anarchist.
Princip sah in Franz Ferdinand ein Hindernis für die Verwirklichung seines Traumes von einem gemeinsamen Jugoslawien unter serbischer Führung. Vahidin Preljevic sagt: „Diese jungen Leute waren bereit, sich aufzuopfern. Im Prinzip waren sie Selbstmordattentäter. Nur: das Gift, das sie nach dem Attentat nahmen, versagte.“
Gift und Waffen hatten die Attentäter von Dragutin Dimitrievic Apis, dem Geheimdienstchef des serbischen Generalstabes in Belgrad bekommen. Dimitrievic war auch Mitglied des Geheimbundes „Schwarze Hand“, der sich dem Kampf gegen Österreich-Ungarn verschrieben hatte. Der Mann war zudem an der Ermordung des serbischen Königs Aleksander Obrenovic 1903 beteiligt.
Nationalistischer Kampf gegen Imperialismus
Professor Preljevic wird zusammen mit Professor Clemens Ruthner vom Trinity College Dublin die (oben schon erwähnte) Konferenz unter dem Titel „The Long Shots of Sarajevo“ veranstalten. Denn die Ereignisse in Sarajevo vom Juni 1914 reichten bis in die Gegenwart hinein, sagt Vahidin Preljevic. Eines seiner Argumente lautet so: Damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, hätten die Völker unter dem Banner des Nationalismus gegen die Imperien, gegen den Imperialismus, konkret gegen die Fremdherrschaft der Doppelmonarchie gekämpft. Durch den Sieg des Nationalismus sei dieser, damals wenigstens, legitimiert worden.
Weil man aber heute, ein Jahrhundert später, die Sprengkraft des Nationalismus gespürt habe, müsse man diese Ideologie kritischer betrachten. Denn, sagt er: „Wir sind die Geiseln von 1914, wir sind die Geiseln des Nationalismus“. Der Nationalismus habe, wie die Geschichte Jugoslawiens zeige, seine Unschuld verloren. Deshalb sei heute, hundert Jahre später, eine Neubewertung notwendig.
Das Scheitern Jugoslawiens
Dieser Revisionismus mag überraschend klingen, ist aber aus der Perspektive der jugoslawischen Geschichte durchaus erklärbar. Das 1918 gegründete erste Jugoslawien ist auch an der Tatsache gescheitert, dass die serbische Dynastie der Karadjordjevic eine zentralistische Diktatur errichtet hatte, mit der sich Kroaten, Slovenen und Albaner (im Kosovo) nicht abfinden konnten. Im zweiten Jugoslawien, erläutert Professor Preljevic, habe Staatgründer Tito den Nationalismus zwar nicht abschaffen, aber doch „zivilisieren“ wollen.
Weil aber, so könnte man hinzufügen, Titos Jugoslawien erhebliche demokratische Defizite aufwies, weil ein Dialog zwischen den Völkern nicht möglich war, hat der Nationalismus die Oberhand gewonnen und schliesslich das Land in schlimmen Kriegen zerstört.
Ethnie tritt an die Stelle von Nation
Und heute? Mit Sorge, sagt Professor Preljevic, sähen manche in Bosnien auf Vladimir Putin und seine Einverleibung der Halbinsel Krim. Putin habe das ethnische Prinzip zur Maxime seines machtpolitisch motivierten Handelns gemacht. Das sei, sagt Professor Preljevic, „brandgefährlich“ – besonders auch für die Region des ehemaligen Jugoslawien.
Tatsächlich, denn es könnten sich etwa die Serben Bosnien-Herzegovinas, die in der Teilregion der „Republika Srbska“ wohnen, auf Putin und seinen russischen Nationalismus berufen und unter dem Banner des serbischen Nationalismus den Anschluss an Serbien fordern. Durch diesen durchaus vorhandenen Separatismus könnten die national-chauvinistischen Stimmungen anderer, etwa jene der Kroaten, erneut angeheizt werden.
„The Long Shots of Sarajevo“ – der lange nationalistische Schatten des 28. Juni 1914 verdunkelt noch heute das Leben der Menschen in der Region. Der letzte blutige Beweis sind die jugoslawischen Sezessionskriege der 1990-er Jahre. Die politischen Grabenkämpfe, welche sich Serben, Kroaten und – mit Abstrichen – auch Bosniaken in Bosnien-Herzegovina liefern, sind ein weiterer Beweis. Nicht umsonst ist dieser nach den Kriegen der 1990-er Jahre entstandene „Staat“ bis heute praktisch ein Protektorat der Europäischen Union und der USA. Diese Mächte halten, derzeit mehr schlecht als recht, die nationalen Feuerköpfe aller Seiten in Schach.