An der südlichsten Spitze der Mani, dem mittleren Finger des Peloponnes, soll sich der Überlieferung nach einer der Eingänge zum Hades befinden. Die Reise dorthin führt durch ein langes Stück menschlicher Geschichte und erinnert an die Nichtigkeit unseres Lebens vor der Unendlichkeit der Zeit.
«Glückspilze, ihr fährt nach Griechenland, jetzt wo sich hier das graue Novembertuch über unsere Gemüter legt, da hoffen wir natürlich auf ein paar spannende Artikel im Journal 21.» – So oder ähnlich tönte es vor unserer Abreise, wenn ich von unseren Plänen sprach, und jedes Mal wurde mein geistiges Gepäck um ein paar Pfund schwerer.
Ich gestehe, ich bin – trotz vorgerückten Alters – gegen Erwartungshaltungen noch immer nicht gefeit. Nur beim Ansichtskartenschreiben habe ich mir schon vor Jahren eine absolute Immunität zugelegt, welche jede Covid19-Impfung in den Schatten stellt.
Und jetzt sind wir doch bereits seit zehn Tagen hier in der äusseren Mani, der einst vom Land her nur schwer zugänglichen Westküste des mittleren Fingers des Peloponnes, in einem kleinen Fischerdorf namens Agios Dimitrios. Hinter uns ragt steil das Taigetos-Gebirge in den hellblauen Himmel. Auf einer ersten Erkundungsfahrt durch die Bergdörfer hatten wir den 2400 Meter hohen Profitis Ilias (Prophet Elias) in der Abendsonne gesehen. Dahinter, auf der Ostseite der Halbinsel, liegt Lakonia, wo die «kriegswütigen» Spartaner wohnten, welche einst die «friedlichen» Messenier westlich des Gebirges ins Exil getrieben hatten, bis diese ein Jahrhundert später, nach dem vernichtenden Sieg der Thebaner über Sparta in der Schlacht von Leuktra, aus Sizilien und anderswo zurückkehrten. Im Jahre 369 vor Christus gründete Epaminondas in einem fruchtbaren Tal an einem bisher unbebauten Ort das neue Messene. Die Stadt, eindrückliches Beispiel eines grosszügigen Stadtentwurfes, von denen heute Stadtplaner nur träumen können, ist innerhalb von zwanzig Jahren entstanden und war von Anfang an von einer fast zehn Kilometer langen gewaltigen Mauer umgeben. Die Stadt ist zum grössten Teil erst im Laufe der letzten Jahre ausgegraben worden.
Doch zurück nach Agios Dimitrios: Auf einem kleinen Weg wandere ich des Morgens von der Terrasse über die bizarr geformten Felsen zu einer kleiner Badeleiter und stürze mich dort ins noch immer angenehm warme Wasser. Vor ein paar Tagen war daran allerdings nicht zu denken. Der erste Novembersturm fegte übers Land und hatte mein Badeparadies in einen wild brodelnden Hexenkessel verwandelt. Aufspritzende Gischt und heftiger Regen wuschen die Felsen blank. Die Natur freute es – der Regen fiel in diesem Sommer nur selten. Doch kaum liess der Sturm für einen Augenblick nach, sassen die Einheimischen bereist wieder stoisch auf den malerischen, wenn auch nicht besonders bequemen Stühlen unter den tropfenden Bäumen und tranken ihren Kaffee.
Als ich mich heute, nach ersten Exkursionen in die Umgebung, nach intensivem Schauen und in mich Aufnehmen, an den Computer setzte, um den sich in meinem Kopf immer lauter und ungestümer gebärdenden Geschichten ein Ventil zu öffnen, sagte ich mir immer wieder vor: «Du bist weder Reisejournalist noch Griechenlandkenner, lass dich von deiner Schreibwut nicht zum Hochstapler machen, hast du doch keine Ahnung von Geschichte und damals in der Schule den Stoff vor einer Geschichtsprüfung höchstens portionenweise in dein Gehirn gepresst, von wo er jeweils schon eine Woche später auf geheimnisvolle Weise wieder verschwunden war.»
Oder doch nicht ganz? – Offenbar kennt auch unser Gehirn Strategien, um bedrohtes Wissen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, wie das der Natur mit bedrohten Arten manchmal gelingt. Vor einer Woche, beim Besuch des antiken Messene, stiegen aus verborgenen Winkeln meines Gedächtnisses Erinnerungen an das Klassenzimmer im alten Basler Realgymnasium an der Rittergasse auf. Ich sah vor meinem inneren Auge weiss gewandete Männer, das fein geschnittene Gesicht durch einen gelockten Bart verziert, auf der Hauptstrasse zur Agora, dem Hauptmarkt der Stadt, schreiten und im Rathaus verschwinden, wo die Stadtweisen über wichtige Geschäfte berieten. Der Blick ins hinter dem Ratssaal liegende Ekklesiasterion, dem Versammlungsraum für Vorträge musischer oder politischer Art, Musikdarbietungen und kleineren Theateraufführungen, erinnerte mich seiner steil aufsteigenden, halbrunden Sitzreihen wegen an jenen Hörsaal im alten Anatomiegebäude des Zürcher Unispitals, den die ETH wegen Platzmangels mitbenützte und wo ich meine ersten eigenen Vorlesungen hielt. Später, auf dem Weg zum grossen Stadion, sah ich Menschen unter den Schatten spendenden Bäumen plaudern, während sie auf das grosse Spektakel warteten.
Plötzlich vermischten sich die Zeiten über mehr als zweitausend Jahre und mir schien, es seien die gleichen Menschen, welche ich gestern noch im grösseren Nachbardorf Agios Nikolaos auf der Hafenmauer habe sitzen sehen, wo sie die einlaufenden Fischerboote beobachteten oder die Wellen, welche die Felsen vor der Hafeneinfahrt von Zeit zu Zeit mit ihren züngelnden Gischtwolken überzogen. Mir kam der sonntäglich gekleidete ältere Mann mit klassisch griechischem Profil in den Sinn, der an unserem ersten Tag am kleinen Hafen leise und unaufdringlich von Mann zu Mann gegangen war, sein Gegenüber diskret darauf aufmerksam machte, dass heute sein Namenstag sei und dann mit seiner rechten Hand den erwarteten Empfang eines kleinen Obolus andeutete. Ich hätte mir ihn gut, in eine Toga gekleidet, im Ratssaal von Messene vorstellen können. Oder die Bäckersfrau, welche – wir warteten auf frisches Brot – mit ihrer Palette, welche einem langen Ruder glich, geschickt die noch warmen Brotlaibe aus dem dunklen Gewölbe des Ofens fischte, sie kurz prüfte und dann entweder in eine andere Ecke des Ofens zurückschob oder sie mit geübtem Handgriff in eine Zeine steckte. – Sind nicht die Grundbedürfnisse, Gesten und Handgriffe der Menschen im Laufe der Zeit weitestgehend die gleichen geblieben?
Überhaupt die Zeitlosigkeit, nicht nur der Menschen, sondern noch viel mehr der Landschaft, der Berge, Täler und Bäche, der schroffen Küsten und sanft abfallenden Strände, welche sich im Laufe der Jahrtausende von den Bewohnern vielfältige Veränderungsversuche hat gefallen lassen müssen, ohne Aufbegehren und ohne dabei ihren ureigensten Charakter zu verlieren. Sie, die Landschaft, weiss, dass sie siegen wird über jeden Versuch, ihr auf Dauer einen zivilisatorischen Stempel aufzudrücken, und dass sie sich über kurz oder lang aller menschlicher Spuren wird entledigen können, einfach deswegen, weil sie über etwas in Fülle verfügt, was dem Menschen nur eingeschränkt zugemessen ist, über Zeit.
Dieses Gefühl der alles besiegenden Zeit begleitete mich auch gestern, als wir mit unseren Schaffhauser Freunden, welche sich vor vierzig Jahren in einem kleinen Dorf hoch über dem Meer in einem alten Haus eingerichtet hatten und jeden Quadratmeter der Mani zu kennen scheinen, zur Südspitze des Mittleren Fingers des Peloponnes fuhren, zum Kap Matapan, das die Einheimischen auch Ténaro nennen, wo sich der Überlieferung gemäss einer der Eingänge zum Hades befindet. In einer felsigen Bucht stiessen wir auf eine kleine Höhle. Hier, wo heute Schafe Unterschlupf vor Unwetter finden – der penetrante Geruch erzählt davon –, befand sich einst ein Orakel, das seinen grossen Ruf wohl auch seiner Nähe zur Unterwelt verdankte. Wenn auch nicht so berühmt wie das Orakel zu Delphi war dessen Ausstrahlung doch weit genug, um im Laufe der Zeit am Ende der Welt eine Stadt mit Hafen entstehen zu lassen. Wohin man auch schaut, meint man menschliche Spuren zu entdecken, hier einen in den Felsen eingeschnittenen Kanal, der, wie unser Freund vermutet, den Standort des Orakels vor einem bei starkem Regen gefährlich anschwellenden Bach schützte, dort eine ebene Fläche am Wasser zwischen den Felsen, wo wahrscheinlich ein Lagerhaus gestanden hatte oder die alte Umfassungsmauer einer Villa aus römischer Zeit – sichtbar an den kunstvoll gebauten Badeanlagen und einem freigelegten Mosaik.
Auf einem felsigen Pfad wanderten wir auf der immer schmäler werdenden Landzunge bis zur äussersten Spitze von Lakonien, wo ein Leuchtturm steht, dessen umgebende Mauern bereits teilweise ins Meer abgerutscht sind. – Auch hier die über alles triumphierende Zeit! – Es soll, neben Gibraltar, der südlichste Punkt des europäischen Festlandes sein. Zwei Frachtschiffe suchen sich ihre Route zwischen dem Kap und der weiter südlich liegenden Insel Kithira. Hier muss Odysseus nach der Zerstörung von Troja vorbeigesegelt sein, nicht ahnend, dass seine Heimreise zehn Jahre dauern würde.
Auf der Rückreise nach Norden kommen wir an zahlreichen Siedlungen vorbei, die meisten von ihnen verlassen, welche aus stattlichen Wohntürmen bestehen. Überhaupt die vielen Mauern, antike und neue, wunderbar zusammengefügt und Jahrhunderte überdauernd. Der Mauerbau scheint schon immer eine Leidenschaft der Griechen gewesen zu sein. Auch heute noch, sagt mein Freund, würde man oft ein Areal mit einer Mauer umgeben, lange bevor mit dem Hausbau begonnen wird. So scheint es auch in Messene gewesen zu sein. Wir Bagger- und Kranverwöhnte können uns nicht vorstellen, wie man damals tonnenschwere Felsblöcke in kürzester Zeit zu langen Mauern aufeinander geschichtet hat.
Als wir uns nördlich von Aréopolis, der Hauptstadt der inneren Mani, in der Bucht von Liméni, in einer Fischertaverne direkt am Wasser zum Nachtessen niederlassen, wird es bereits dunkel. Es gibt Crevetten und Tintenfisch, dazu frisches Gemüse. Ein Fischerboot fährt langsam in die Bucht; man hört, wie die Netze über Rollen ins Wasser gelassen werden.
Heimfahrt durch die stockfinstere Nacht. Wie sind unsere Vorfahren mit dieser täglichen Bedrohung der Finsternis umgegangen? Man begreift, wieso in den meisten Religionen die Sonne und die Hoffnung auf ihr Wiedererscheinen am nächsten Tag eine so wichtige Rolle gespielt haben. «Als die rosenfingrige Eos erwachte...»
PS: Eine wunderbare, unkonventionelle Einführung in die bewegte Geschichte der Messener und den Ausgrabungen der Stadt findet man in einem kleinen Büchlein von Eva-Maria Lang und Waltraud Sperlich: Messene, die erträumte Metropole, Lyso-Verlag, Kalamata, [email protected], erste Ausgabe 2005.