Der ICE von Hamburg nach Chur fährt pünktlich ab und schafft die erste Etappe ohne Zwischenfälle. Sogar der Richtungswechsel im chronisch verstopften Kopfbahnhof Frankfurt verläuft störungsfrei. Man möge bitte sämtliche Gepäckstücke von den Sitzen nehmen, verkündet die an einen Kasernenhof mahnende Stimme des Zugbegleiters über die Lautsprecher, der Zug sei stark besetzt.
Vor der Einfahrt in den Bahnhof Mannheim meldet der Zugbegleiter – fast ein bisschen stolz, scheint es mir –, der Zug habe momentan eine Verspätung von lediglich fünf Minuten. Nichts Schlimmes, sage ich mir, für die Deutsche Bahn geradezu pünktlich. Ich widme mich wieder meiner Lektüre, nachdem der Zug am Perron angehalten hat und neue Passagiere einsteigen.
Alle haben ihre Plätze gefunden; es wird wieder ruhig im Abteil. Doch auch Ruhe kann aufschrecken. Wieso steht der Zug noch immer, obschon das Abfahrtsignal seit langem grün zeigt? – Plötzlich meldet sich die Kasernenhofstimme über die Lautsprecher, eine Spur lauter und hörbar genervt: „Der Besitzer des weissen Fahrrades auf Platz 106 soll sich unverzüglich beim Zugspersonal melden!“
Schade, dass man hinter den Masken das Mienenspiel der andern Passagiere nicht lesen kann. Doch ihre Augen verraten eine gewisse Belustigung über das Fahrrad, das sich eigenmächtig auf Platz 106 breit gemacht zu haben scheint. Oder ist es Ärger? Wenn ja, wäre er gut versteckt, denn niemand spricht ein Wort, wir befinden uns schliesslich in einem Ruheabteil. Während ich noch darüber nachdenke, ob man sich vielleicht bei der DB, Stelle für Gendergleichberechtigung, beschweren müsste, weil in der amtlichen Durchsage potentielle Besitzerinnen weisser Fahrräder einfach ignoriert worden sind – hätte doch der Zugbegleiter wenigstens mit einem Zungenschlag ein Sternchen angedeutet! – und während ich mir vorzustellen versuche, wie sich ein weisses Fahrrad auf einem Sitz der Deutschen Bahn ausnimmt und ob es sich vielleicht mit andern illegal Sitzenden, mit Provianttüten, Rucksäcken und Babytaschen, über die Intoleranz des Sitzreglementes der Deutschen Bahn unterhalten würde, meldet sich wieder der Kasernenhof: „Da die Weiterfahrt des ICE dienstlich untersagt ist, solange nicht alle Fahrräder ordnungsgemäss platziert sind, werden alle Inhaber von mitreisenden Fahrrädern gebeten (schon wieder diese Diskriminierung!), sich unverzüglich mit ihren Fahrradplatzkarten im Wagen 1 einzufinden.“
Ans Weiterlesen ist nicht zu denken. Ich lege Joseph Roths „Radetzkymarsch” zur Seite und versuche mir die dramatischen Szenen vorzustellen, welche sich in diesen Minuten im Wagen 1 abspielen müssen. Gespenstige Ruhe, nicht einmal ein unterdrücktes Lachen ist zu hören. Der Zug wartet stoisch am Perron. Der Fahrdienstleiter wird wohl unterdessen das Abfahrtsignal wieder auf rot gestellt und die Fahrstrassen anderer Züge freigegeben haben.
Mir kommt Mani Matters Lied vom Zündhölzli in den Sinn, das auf den Teppich fällt und die Welt beinahe in einen Krieg gestürzt hätte. Wer weiss, welche Folgen die durch ein weisses Fahrrad verursachte Verspätung haben wird. Könnte es nicht sein, dass die junge Frau, die mir schräg vis-à-vis sitzt, sich auf dem Weg zu ihrem Verlobten befindet und dieser, weil sie nicht rechtzeitig ankommt, glaubt, sie liebe ihn nicht mehr und sich mit einer andern davon macht? Oder der junge Mann mit blondem Bürstenschnitt dort drüben, der schon seit der Abfahrt in Hamburg unablässig in einem dicken Manuskript blättert und dabei leise vor sich hin spricht, als ob er etwas auswendig lernte, ist er nicht vielleicht auf dem Weg zur Uni K, wo er nun vergeblich auf eine Professur für zukünftige Verkehrssysteme mit besonderer Berücksichtigung des Fahrrades hofft, weil er nicht rechtzeitig zur Probevorlesung erschienen ist? – Tatsächlich: das Leben ist voller verschlungener Rätsel.
Bin ich der einzige, der die latenten Dramen ahnt? – Zur Ablenkung lasse ich meine bisher gezügelten Gedanken von der Leine. Darauf scheinen sie nur gewartet haben. Im Nu verteilen sie sich wie eine Horde neugieriger Kinder über den ganzen Zug. In Wagen 4, Platz 51 stossen sie auf einen jungen Mann im sportlichen Velodress. Er beugt sich über einen ungeordneten Haufen von Notizblättern, auf denen er von Zeit zu Zeit mit einem gelben Stift etwas markiert. Sein säuberlich gescheiteltes Haar wird durch einen Stahlbügel niedergedrückt, an dessen Ende sich zwei riesige Lautsprechermuscheln über die Ohren des Jünglings stülpen. Manchmal fingert er, auf der Suche nach dem richtigen Song, an seinem iPod herum.
Für einen kurzen Augenblick taucht er aus seiner privaten Klangwelt auf und realisiert, dass etwas nicht mehr ganz ordnungsgemäss abzulaufen scheint. Wieso steht der Zug so lange? Er erinnert sich an die knappe Umsteigezeit in Freiburg auf den Zug zum Titisee, wo man ihn dringendst erwartet. Er, der berühmte Parteiaktivist, soll zum Abschluss einer Velo-Demo, welche aus verschiedenen Richtungen über den Hochschwarzwald führt, eine fulminante Rede über das beginnende Velo-Zeitalter halten und dabei den ewiggestrigen Autofahrern wieder einmal tüchtig einheizen und ihnen ein schlechtes Gewissen machen. Zugegeben, die Anreise von Frankfurt nach Hinterzarten im Zug ist ein bisschen lang, aber im Auto kann er sich dort selbstverständlich nicht zeigen. Man stelle sich vor ...
Nach einem nervösen Blick auf die Uhr reisst er sich die Hörgarnitur vom Kopf. „Was ist los?“, fragt er die älterer Frau, welche ihm gegenüber sitzt. „Man sucht den Besitzer eines illegal im Zug platzierten weissen Fahrrades ...“ Mit einem Satz springt der junge Mann auf. Seine Notizen fallen zu Boden, aber er sieht es nicht mehr, sondern ist bereits unterwegs zum Wagen 1...
Endlich fährt der Zug ab. Auch meine Gedanken kehren auf den Boden der Realität zurück, ein bisschen verlegen, dass sie ihre überbordende Fantasie nicht besser im Zaun haben halten können. Männer im Velodress, falls es solche im ICE überhaupt gibt, seien nicht generell suspekt, flüstern sie mir zu, ich solle beruhigt in meinem Buch weiterlesen. Doch noch bevor ich dieses wieder zur Hand genommen habe, meldet sich die vertraute Stimme zurück. Sie versucht, sich einen weichen Klang zu geben und teilt bedauernd mit, der Zug verkehre momentan mit einer Verspätung von ca. einer halben Stunde. Grund dafür sei eine Überbuchung von Fahrrädern. „Über die Anschlüsse an den kommenden Stationen werden wir sie rechtzeitig informieren. Wir danken, dass Sie mit der Deutschen Bahn unterwegs sind.“ – Die Autorität hat sich durchgesetzt, die Ordnung ist wieder hergestellt.
Beruhigt kehre ich zu Joseph Roths Radetzkymarsch zurück. Auch hier geht es um eine bedrohte Ordnung, um die Geschichte von Baron Carl Joseph Trotta von Sipolje, Leutnant der kaiserlichen Armee, der den Zerfall der behäbigen Ordnung des Kaiserreichs Österreich-Ungarn erlebt und zu Beginn des Ersten Weltkrieges durch einen Kopfschuss ums Leben kommt.
Ankunft in Basel SBB mit 25 Minuten Verspätung. Der vorübergehende Verlust der Ordnung im Wagen 1 des ICE 75 der Deutschen Bahn blieb meines Wissens ohne gravierende Folgen. Die SBB, auf solche Situationen offensichtlich bestens vorbereitet, schickte in Basel rechtzeitig einen Ersatzzug auf den Weg nach Chur. Unser unglücklicher Velozug übernimmt statt dessen den Dienst des Ersatzzuges und folgt diesem eine halbe Stunde später hinterher. Ob es den stolzen ICE wohl schmerzt, dass er nun auf dem Weg nach Chur als gewöhnlicher IC unterwegs sein muss?
PS: Dichtung und Wahrheit? – Wie sagt doch in den Meistersinger Hans Sachs zu Walther von Stolzing: „Auch weiss ich noch nicht, so gut ihr’s gereimt, was ihr gedichtet, was ihr geträumt.“ – In den Wolken steht’s geschrieben, den dunkeln und den hellen!