Wir stehen am Bug des Schiffes, dort wo das „Kleingemüse“ – Fussgänger, Velofahrer und Motorradfahrer – der für Grösseres bestimmten Autofähre auf der Lauer liegt, um nach dem Anlegen sofort an Land zu eilen. Einen Franken fünfzig kostet die Überfahrt pro Person, sagt uns der Kassierer. Er trägt – Kindererinnerungen werden wach – jenen fast verschwundenen faszinierenden Münzapparat vor dem Bauch, mit dem in meiner Jugend die Billetteure der Basler Verkehrsbetriebe von Wagen zu Wagen turnten, um die Fahrscheine zu verkaufen oder mit ihrer Zange in die Abonnemente ein individuell geformtes Loch zu stanzen, mittels dem man jeden einzelnen Angestellten der BVB identifizieren konnte.
Während die Fähre, verfolgt von heiser rufenden Möwen, das Wasser des Zürichsees durchpflügt, scheint während knappen zehn Minuten für eine vom Zufall zusammengewürfelte kleine Menschengruppe die Zeit stillzustehen: Der Kassierer, die Velofahrerin mit der grossen Einkaufstasche auf dem Gepäckträger, der Töfffahrer in Ledermontur, der bei der Ankunft in Horgen seine Pfeife anzünden und diese, dem Integralhelm zum Trotz, genüsslich in den Mund stecken wird, die blonde Dame im Sportkabriolett und wir, die das göttliche Geschenk eines goldenen Herbsttages für eine kleine Wanderung nutzen.
Kaum hat die Fähre festgemacht, sind die Passagiere bereits in alle Winde zerstreut. Wir wandern seeaufwärts und stossen beim Hirsacker, wo sich der Eingang zum ehemaligen Kohlebergwerk Käpfnach befindet, auf ein amtlich verordnetes Hindernis. Das Fahrsträsschen, auf dem auch der Wanderweg entlang des Zürichsees verläuft, sei gesperrt, verkündet ein Schild, man solle den Bahnübergang hinauf zur Seestrasse benützen. Eine lärmige Hauptstrasse, nicht gerade das, was den Wanderer beglückt! Zudem sind die Barrieren geschlossen, und sie bleiben es vorerst auch. Von Zeit zu Zeit fährt ein Zug vorbei, eine S-Bahn, dann der Railjet auf dem Weg nach Wien, ein Güterzug Richtung Zürich. – Vor siebzig Jahren hätte der sich noch nicht an Vorschriften gebunden fühlende Bub auf das typische Zirpgeräusch gehorcht, welches ein herannahender Zug auf den Geleisen verursacht, wäre bei negativem Hörtest über die Barriere geklettert und über die Gleise gerannt.
Eine Frau mit Einkaufstasche, welche offenbar in der Nähe wohnt, meint resigniert, in ein paar Minuten käme dann noch der Güterzug von Zürich, danach würde sich die Barriere für gut zwei Minuten öffnen. Das tut sie dann auch. Wir huschen über die Gleise. Der Sägiweg führt, zwischen und unter alten Häusern hindurch, zur Seestrasse. Hinter uns erklingt bereits wieder der Warnton der sich schliessenden Barriere. Wir überqueren den Aabach, dessen tief eingeschnittenes Tobel nach der letzten Eiszeit die kohlehaltigen Gesteinsschichten freigelegt und so zum Bau des einst ausgedehntesten Bergwerks der Schweiz geführt hat, und zweigen beim Strandbadweg wieder Richtung See ab.
Hier wartet eine weitere geschlossene Barriere auf die Wanderer. Jenseits der Gleise brummt der Motor eines rotes Lastwagens, der wahrscheinlich Material zu jener Baustelle gebracht hat, welche uns den Durchgang auf dem Uferweg versperrt. Zwar gäbe es hier eine elegante Fussgängerbrücke, welche sich diagonal über Seestrasse und Bahn schwingt, nur dass der Ortsunkundige, der bereits am Gleis steht, nicht weiss, wo genau die Brücke beginnt. So warten wir erneut und beobachten die Vielfalt der Züge auf der linksufrigen Bahnstrecke. Nun hat auch der Chauffeur des Lastwagens resigniert und den Motor abgestellt. Mit Erstaunen beobachten wir, dass auf der Uferstrasse von Horgen her ständig Velofahrer vorbeifahren. Sind wir die einzigen Dummen, welche die Sperrung der Strasse ernst genommen haben? Gerade als wir uns schliesslich doch für den Brückenzickzack entscheiden, heben sich lautlos und majestätisch die rot-weissen Balken, als wären sie stolz darauf, die ungeduldigen Wanderer in ihre Schranken gewiesen zu haben.
Eine halbe Stunde für den ersten Kilometer – doch ist nicht ohnehin der Weg das Ziel? Nach den letzten Häusern, welche bisher den Blick auf den See versperrt haben, geht das Fahrsträsschen in einen schmalen Weg über, der teilweise auf einem Steg direkt dem Seeufer entlang führt. Am westlichen Ufer der Halbinsel Au erblicken wir zwischen den Bäumen jenes Schloss, das durch Conrad Ferdinand Meyers Novelle „Der Schuss von der Kanzel“ berühmt geworden ist. Es wurde um die Mitte des 17. Jahrhunderts von General Werdmüller erbaut, den C. F. Meyer als Sonderling porträtiert hat.
Doch mich beschäftigen in diesen Tagen andere einstige Bewohnerinnen des Schlosses, deren Geschichte realer, aber auch weniger vergnüglich ist. Freiherrin Moser Sulzer-Wart, wie sie sich stolz nannte, die junge Witwe und zweite Frau des Appenzeller Uhrmachers Heinrich Moser, der in Russland zu grossem Reichtum gekommen war, zog 1887 mit ihren beiden Töchtern Fanny und Mentona an den damals ziemlich abgelegenen Ort. Nach dem frühen Tod ihres Mannes war sie über Nacht zu einer der reichsten Frauen der Schweiz geworden und hatte das Schloss gekauft.
Eveline Hasler hat ein Buch über das turbulente Leben der jüngeren Tochter Mentona geschrieben (1). Schon ihr Name war ungewöhnlich; er sollte an eine besonders glückliche Zeit in der kurzen Ehe von Mentonas Eltern erinnern, welche diese im französischen Menton verlebt hatten. Mentona, geboren1874 in Badenweiler, gestorben 1971 in Köpenick, das damals zu Ostberlin gehörte, wurde über 96 Jahre alt. Ihr Leben war von enormen Gegensätzen geprägt, von grossem Reichtum und bitterer Armut, von grossen Plänen und jäher Ernüchterung. Sie erlebte zwei Weltkriege, die russische Revolution, den Aufstieg des Kommunismus als Staatsform und vieles mehr.
Unterdessen haben wir auf unserer Wanderung den heute öffentlich zugänglichen Schlossgarten erreicht und stehen vor dem durch einen Balkon gekrönten Portikus des Haupteingangs. Für die naturbegeisterte Mentona hätte der Umzug in die Einsamkeit eigentlich ein Glücksfall sein können. Doch ihre Mutter, welche die ältere und wahrscheinlich pflegeleichtere Fanny vorzog, hatte wenig Verständnis für das Interesse der Jüngeren für die Natur. Ich stelle mir die 14-jährige Mentona vor, wie sie frühmorgens heimlich das Haus verlässt, zum Ausee schleicht, dem kleinen Weiher südlich des Schlosses, wo sie die Vögel und Fische beobachtet oder dem Gärtner bei der Arbeit zuschaut, bis dieser eines Tages von der Mutter entlassen wird, weil sie dessen Einfluss auf die geistige Entwicklung ihrer Tochter missbilligt.
Wie bei kaum einer anderen Biografie stellt sich bei Mentona Moser die Frage, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn ihr Vater länger gelebt hätte und ihre Mutter verständnisvoller gewesen wäre. Ihre Schwester setzt sich rechtzeitig nach Berlin ab, studiert Zoologie und bringt es zu einiger Berühmtheit. Später wendet sie sich dem Studium paranormaler Phänomene zu, was das Interesse von C. G. Jung und anderen weckt.
Auch die rebellische Mentona versucht es – gegen den Willen der Mutter – zuerst mit einem Studium der Zoologie, fühlt sich aber den Anforderungen nicht gewachsen, zieht dann nach London, wo sie sich zur Pflegerin ausbilden lässt. Die Begegnung mit Armut, Hunger und sozialer Ungerechtigkeit macht sie zur überzeugten Sozialistin. Auch sie, die Tochter aus schwerreicher Familie, leidet unter Armut, nicht nur jetzt, sondern auch später im Leben, denn vom Geld ihrer geizigen Mutter sieht sie vorerst wenig und lebt oft am Existenzminimum.
Nach Zürich zurückgekehrt, heiratet sie 1909 den Sozialdemokraten Hermann Balsiger und hat mit ihm zwei Kinder. 1917 lässt sie sich scheiden. Die Schweizer Sozialdemokraten sind ihr im Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit zu lau. Sie wird Kommunistin, besucht in Moskau Fritz Platten, den Vertrauten Lenins, und gründet in der Nähe von Moskau ein Heim für elternlose Kinder. Später lebt sie in Berlin, bis sie als Kommunistin vor den Nazis in die Schweiz fliehen muss. Als ihr nach dem Zweiten Weltkrieg von der DDR das Ehrenbürgerrecht zugesprochen wird, zieht sie nach Ostberlin, wo sie 1971 in Köpenick stirbt.
Ein bewegtes Leben ohne Rast und Stillstand. – Wie hätte sich ihr genetisches Erbe wohl entfaltet, wenn sie sechzig oder siebzig Jahre später zur Welt gekommen wäre? – Im historischen Lexikon der Schweiz finde ich zwei Fotos, eines aus dem Jahr 1908 (Mentona ist 34 Jahre alt), auf dem mir eine junge Frau entgegenblickt, deren grosse melancholische Augen nach innen gerichtet scheinen. Ungefähr 25 Jahre später – Mentona ist jetzt um die sechzig – blicken die grossen Augen wissender in die Welt. Ihr Mund mit den vollen Lippen hat etwas von seiner früheren Wehmut verloren. Es ist das Gesicht eines Menschen, der viele Illusionen begraben musste, ohne dabei den Glauben an das Gute zu verlieren und zu resignieren.
Von einer kleinen, in den See hinaus gebauten Kanzel versuche ich, die Landschaft des Zürichsees durch Mentonas Augen zu sehen, doch es gelingt mir nicht. Die Welt ist nicht mehr die gleiche, wir können der Gegenwart nicht entrinnen. Vielleicht wollen wir das auch gar nicht ernsthaft, denke ich, als wir im Gasthaus Au auf der Terrasse zu Mittag essen, später dem See entlang weiter nach Wädenswil wandern und uns von dort vom Kursschiff ans andere Ufer nach Stäfa übersetzen lassen.
Der Anfang unseres Ausfluges kommt mir in den Sinn, die kurze Fahrt mit der Fähre. – Wer wäre Mentona in der heutigen Welt wohl geworden, die Velofahrerin, die Frau im Sportwagen, eine Töfffahrerin oder etwas ganz anderes?
(1) Eveline Hasler, „Tochter des Geldes“, Nagel und Kimche, 2019