Es war Mitte der 1950er-Jahre, als ein Lokomotivführer der Rhätischen Bahn kurz vor dem Ende des Albulatunnels dem Bahnhofvorstand von Preda mit einem langen Pfiff anzeigte, er habe die rote Fahne zwischen den Gleisen erkannt und werde ausserplanmässig in der kleinen Station anhalten. Dort stand meine Grossmutter, bekannte Kinderärztin aus St.Gallen, neben ihren zwei Enkelkindern. Ich kann mir vorstellen, dass sie stolz und siegesbewusst dem haltenden Zug entgegengeblickte, hatte sie doch – über den Kopf des zögernden Bahnhofvorstandes hinweg – resolut die Generaldirektion der RhB in Chur angerufen und den Schnellzug für meine Schwester und mich in Preda anhalten lassen. Verwundert öffneten einige Passagiere das Fenster. Der Bahnhofvorstand schwenkte die grün-weisse Kelle, und vorbei war der Spuk.
Wir hatten die ersten beiden Ferienwochen im Maiensäss der Grossmutter verbracht und waren nun unterwegs zu den im Wallis geplanten Ferien mit unseren Eltern und jüngeren Geschwistern. Am Morgenschnellzug aus dem Engadin nach Chur waren zuhinterst zwei rote Wagen der FO (Furka-Oberalp Bahn) angehängt, welche damals den berühmten, nur während der Sommermonaten verkehrenden Glacier-Express von St. Moritz nach Zermatt bildeten. Die Wagen, in welchen meine Schwester und ich unsere Plätze fanden, wurden im Laufe ihrer langen Reise dreimal umgehängt, erstmals in Reichenau an den Zug nach Disentis/Mustèr, dort an den Zug der FO nach Brig, die zu jener Zeit noch die im Winter gesperrten Furka-Bergstrecke befuhr, welche heute als Museumsbahn von einem Verein betrieben wird, und ein letztes Mal in Brig an den Zug der Bahn nach Zermatt.
Für den jugendlichen Eisenbahnfan und seine Schwester war die abenteuerliche Fahrt allerdings schon vorher zu Ende. Am Bahnhof Fiesch warteten die Eltern und die andern Geschwister. Nach der Fahrt im Zug ging es nun zu Fuss weiter. Ich erinnere mich nicht mehr an den langen Aufstieg zum Hotel Jungfrau-Eggishorn. Es waren immerhin, wie ich mir erst jetzt beim Studium der Karte klar werde, mehr als tausend Höhenmeter, aber das kümmerten die jungen Beine offensichtlich wenig. Auch meine Eltern und überhaupt fast alle Gäste mussten zu Fuss gehen. Einzig für das Gepäck und für Gäste, denen der Aufstieg nicht zuzumuten war, fuhr ein hoteleigener Jeep auf einem steinigen Saumpfad hinauf zum über der Waldgrenze liegenden Grandhotel.
Während zwei Wochen wohnten wir auf luftiger Höhe über dem Rhonetal, ohne auch nur einmal ins Tal abzusteigen. Wir Kindern waren in Kammern mit abgeschrägter Decke unter dem Dach einquartiert, aber auch im elterlichen Zimmer auf der Beletage standen Petrollampen und, in weissen Porzellanbecken, grosse Wasserkrüge. Strom gab es nur im Speisesaal und Wasser in den Toiletten am Ende des Korridors.
Kann man sich das überhaupt noch vorstellen, wie man sich als Kind ohne TV, Handy und sonstige Ablenkungen während ganzer zwei Wochen die Zeit vertreibt? – Über Langeweile beklagten wir uns jedenfalls nie. Die drei Brüder hatten schon bald, auf halbem Weg zum Tällisee, einen Bach entdeckt, wo sich, ungestört von Konkurrenten, ein ganzes Netz von Kanälen und Stauseen bauen liess. Voller Abenteuerlust nahmen wir jeden Tag den halbstündigen Aufstieg unter unsere zappeligen Füsse, meistens ausgerüstet mit Proviant für das Mittagessen. Natürlich wanderten wir mit den Eltern auch mehrmals aufs Eggishorn, stiegen zum Aletschgletscher oder zum Märjelensee ab, der noch nicht künstlich gestaut werden musste, sondern direkt an den Gletscher anstiess, von dem manchmal Eisstücke abbrachen und dann als Eisberge auf dem See schwammen.
Abends sassen wir auf der grosse Terrasse und tranken ein sirupartiges Getränk, das in einem kleinen Schuppen hinter dem Hotel abgefüllt und den Gästen in verschiedenen Aromen als hauseigenes „Mineralwasser“ angeboten wurde. Der Blick ging weit über das Tal. An der andern Talseite scharten sich dunkle Holzhäuser um eine weisse Kirche mit spitzem Dach. Dahinter mündete ein Seitental als düstere Schlucht ins Rhonetal. Das sei das Binntal, erklärte der Vater, und das Dorf mit der Kirche heisse Ernen, dort hätte früher ein Gericht über das Schicksal der Menschen im Goms entschieden und darum gäbe es ausserhalb des Dorfes noch einen richtigen Galgen.
Es dauerte mehr als sechzig Jahren, bis ich das Dorf mit dem Galgen erstmals von nahem sehen würde. Eine Gruppe von Freunden, welche seit über 30 Jahren einmal im Jahr ein paar gemeinsame Tage verbringt, hatte für dieses Jahr das Hotel Ofenhorn im Binntal als Ziel gewählt. Wir hatten vereinbart, uns vor der Fahrt auf der engen Strasse nach Binn in Ernen zu treffen. Auf dem Rundgang durch das schmucke Walser Dorf besuchten wir auch die Kirche und den Friedhof. Natürlich versuchte ich auf der andern Talseite den einstigen Standort des Hotels Jungfrau Eggishorn oberhalb der Waldgrenze zu lokalisieren. Interessanterweise schien auch mein Freund Jürg dort oben etwas zu suchen. „Es gab doch einmal dort oben jenes alte Hotel“, antwortete er auf meine Frage, „dort hätte er als Bub einmal einen Sommer mit seiner Familie verbracht“.
Das hatten wir tatsächlich voneinander nicht erwartet, denn zu jener Zeit, als die Schweizer die Sandstrände am Meer neu entdeckten, waren solche „Isolationsferien“ wenig populär. Schliesslich fanden wir am felsigen Abhang eine Stützmauer und waren uns einig, dass dort das Hotel gestanden haben musste.
Die beiden älteren Herren versuchten sich vorzustellen, wie vor über sechzig Jahren zwei Buben abends auf der Hotelterrasse ihre hoteleigene Limonade durch ein Trinkröhrchen sogen, dabei den meist gesetzteren Hotelgästen zusahen, vielleicht das Läuten der kleinen Kapelle hörten und den während des Sommers eigens für die Gäste verpflichteten Kaplan in deren Türe verschwinden sahen, wie man später im grossen Speisesaal auf alten Stühlen sass und sich von schwarz gekleideten Kellern – noch halbe Walliser Buben, die unsere Brüder hätten sein können – das mehrgängige Abendessen servieren liess, das wir wohl am liebsten auf den Gang mit Pommes Frites reduziert hätten. Wie oft hatte ich damals beim Eindunkeln den weissen Kirchturm und die um ihn gescharten Holzhäuser beobachtet, wie überall Lichter angingen, manchmal die Schweinwerfer eines Autos ihren Weg den steilen Hang hinauf suchten. Und immer geisterte in meiner Fantasie der Galgen herum ....
Der Blick von der anderen Seite! – Er fand nicht nur in dieser wunderbaren Landschaft des Goms statt, sondern auch in derjenigen unseres Lebens. – Als wir etwas später auf der engen Strasse ins Binntal fuhren, kam mir in den Sinn, dass ich vor lauter Erinnerungen vergessen hatte, den Galgen zu besichtigen. Aber vielleicht ist das auch gut so; meist bleibt die Fantasie farbiger, wenn sie nicht mit der Realität konfrontiert wird.
An der Rezeption des Hotels Ofenhorn – etwas später gebaut als dasjenige am Eggishorn, aber auch hier in vielen Zimmern noch mit den grossen porzellanen Wasserkrügen ausgestattet – , wo sich unsere Gruppe für zwei Nächte einquartiert hatte, entdecke ich einen prächtigen Bildband über alte Berghotels (1), auf dessen Umschlag das schwarz-weisse Foto eines grossen Gebäudes prangt. Tatsächlich, ich erkenne das Grandhotel sofort wieder, wie es sich in eine Geländenische an die steile Bergflanke duckt. Auch die vorgelagerte Hotelterrasse ist sichtbar, deren Überreste als einzige Spuren nach dem Brand von 1972 übrig geblieben seien, wie ich etwas später im erwähnten Buch lese.
Als Kind erfährt man die Welt anders. Vor allem fehlt noch der Blick für die Einzigartigkeit gewisser Erlebnisse, denn eigentlich ist wegen der noch fehlenden Erfahrung alles gleichzeitig einzigartig und normal. Dass es Abstufungen in der Einzigartigkeit kindlicher Erfahrung gibt, lernt man meist erst viel später. So wurde mir erst beim Lesen des Artikels, also viele Jahrzehnte später, bewusst, welch herausragende Rolle das Hotel Jungfrau-Eggishorn in der Entwicklung des alpine Tourismus gespielt hatte, besonders bei den englischen Touristen. Im Jahre 1856 von Alexander Wellig als Etappenort für die Besteigung des Eggishorns als einfaches Hotel mit 30 Betten erbaut, wurde das Gebäude später von Emil Cathrein zu einem Luxushotel mit 102 Betten ausgebaut, das einen eigenen Tennisplatz, zwei Kapellen, Postbüro, Kiosk und – mir besonders in Erinnerung geblieben – eine eigene Getränekabfüllanlage basass.
Ich hätte meine Eltern später gerne gefragt, wie sie auf die Idee gekommen waren, in einer Zeit, als die Schweiz eben Sandstrand und Meer zu entdecken begann, in der – zugegeben luxuriösen – Bergabgeschiedenheit ganze zwei Wochen mit ihren Kindern zu verbringen. Mitte der1950er-Jahre hatte das Hotel allerdings seine besten Zeiten längst hinter sich, was uns Kindern natürlich weder auffiel noch störte.
Als 1966 die Seilbahn aufs Eggishorn gebaut wurde, deren Zwischenstation nicht, wie vom Hotelier gewünscht, in der Nähe des Hotels Jungfrau-Eggishorn zu liegen kam sondern mehr als einen Kilometer entfern auf dem Chiebode, bedeutete das für das einstige Grandhotel den Todesstoss. Es wurde verkauft. Der neue Besitzer soll es 1972 „warm abgebrochen“ haben. Das Wissen um die genauen Umstände des Brandes liegen allerdings im Nebel bzw. hat sich im Rauch des brennenden Gebäudes über alle Berge davon gemacht.
Habe ich deshalb vor dem Schlafengehen im Hotel Ofenhorn den Standort der Feuerlöscher und der Feuerleiter rekognosziert? Sollte ich in jener Nacht von der Dachkammer im Grandhotel geträumt haben, wusste ich es jedenfalls beim Erwachen nicht mehr. Aber als mein Blick auf den grossen Wasserkrug auf der Kommode fiel, schein es mir für einen Augenblick, als ob sich mein Leben zu einem geschlossenen Kreis geformt hätte.
PS: Auf der Landeskarte findet man den ehemaligen Standort des Hotels nordöstlich von der Fiescheralp bei Punkt 2178.
(1) Roland Flückiger-Seiler, Berghotels zwischen Alpweide und Gipfelkreuz Alpiner Tourismus und Hotelbau 1830-1920, Verlag Hier und Jetzt, 2015.