Seit bald zwei Jahren sendet und bloggt RefLab im Netz und in Social Media. Das Start-up ist weitherum einzigartig und wirft – durchaus gewollt – ein Licht auf die gesellschaftliche Randposition der Kirche.
RefLab ist ein Laboratorium der Kommunikation der reformierten Kirche. Um die Besonderheit dieses Projekts zu erfassen, muss man den grossen Zusammenhang sehen, in dem es seinen Ort hat. RefLab steht zum einen in der Kontinuität einer reformierten Selbstreflexion, die sich immer auch mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Situation auseinandersetzt. Zum andern repräsentiert RefLab geradezu idealtypisch die protestantische Maxime, Kirche sei etwas, das sich wesensmässig stets in Prozessen der Umwandlung befinde.
Kirche ist etwas, das sich wesensmässig stets in Prozessen der Umwandlung befindet.
Die hinter RefLab stehende Institution nennt sich offiziell «Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich» und ist professionell gemanagt, perfekt verwaltet und solide finanziert. Sie verfügt über hunderte von Profis von der Pfarrerin bis zum Sigristen, vom Kantor und der Organistin bis zum Religionslehrer, von der Sozialarbeiterin bis zum Kommunikationsfachmann. Und sie betreibt zusätzlich zu ihrem flächendeckenden Netz der Kirchgemeinden Dutzende spezieller Dienstleistungen und Fachstellen für verschiedenste Belange des Lebens und Zusammenlebens. Über derartige Strukturen verfügen die beiden grossen hiesigen Konfessionen im ganzen Land, kurz: Das Christentum in der Schweiz präsentiert sich in wohlorganisierter Verfassung.
Es geht ganz gut ohne
Doch angesichts des gut gewarteten religiösen Apparats lässt das gesellschaftliche Standing der Schweizer Kirchen zu wünschen übrig. Wer sich nicht in deren Aktionsradius aufhält, kann die Kirchen weitgehend oder vollständig ignorieren. Das gilt selbst für eine Mehrheit der Kirchenmitglieder. Religiöses Desinteresse oder antikirchliche Regungen müssen bei solcher Abstinenz noch nicht mal eine Rolle spielen. Es geht einfach ganz gut ohne, und so lebt denn eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung ohne nennenswerte christlich-religiöse Bindungen.
Eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung lebt ohne nennenswerte christlich-religiöse Bindungen.
Die in den Kirchen Tätigen erfahren tagtäglich die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten des materiellen kirchlichen Settings auf der einen und der gesellschaftlichen Resonanz auf der anderen Seite. Es wird denn auch nach Kräften versucht, die Kluft zwischen beidem zu überbrücken. An Ideen und Anstrengungen fehlt es nicht, und das grosse Engagement bleibt nicht ohne Wirkung. Trotzdem resultieren meist punktuelle, häufig nur kurzlebige Erfolge. Den Trend einer wachsenden Entfremdung der Bevölkerung von Bibel, Christentum, Kirche und damit von überlieferter religiöser Praxis können alle noch so intensiven Bemühungen nicht aufhalten.
Die reformierten Kirchen sind ein interessanter, weil exemplarischer Fall. An ihnen vollzieht sich der gesellschaftliche Wandel – Stichworte: Individualisierung, soziale Mobilität, Traditionsverlust – in besonders augenfälliger Weise. Der gesellschaftliche Wandel, der in der reformierten Konfession für schwindende Bindungskräfte verantwortlich ist, tritt auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen in Erscheinung: als wachsende Schwierigkeit etwa, sich über gemeinsame Vorstellungen, Ziele und Werte zu verständigen. Und so wie diese gesellschaftliche Unübersichtlichkeit nicht aus der Welt zu schaffen ist, besteht auch keine Möglichkeit, verlorene kirchliche Bindungen zu restaurieren. Klagen führen zu nichts. Die Institutionen der Kirche wie der Gesellschaft müssen mit der veränderten Situation leben.
Ein kleines Wunder
RefLab ist ein Versuch, aus dieser Problematik eine Chance zu machen. Interessant ist die Entstehungsgeschichte des Projekts. Die kantonale Kirchenleitung trug sich lange mit dem Gedanken, in Zürich eine reformierte Stadtakademie zu schaffen. Solche Bildungshäuser haben in protestantischen und katholischen Kirchen besonders des deutschsprachigen Raums seit Mitte des 20. Jahrhunderts zum Teil eine erhebliche Strahlkraft gehabt, indem sie als Orte der offenen Debatte die jeweils brennenden gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Zeitfragen behandelten. Das einstige Tagungszentrum Boldern bei Männedorf am Zürichsee war während Jahrzehnten ein solches vielbeachtetes Forum mit reformierter Trägerschaft. Die Paulus Akademie in Zürich, das renommierte katholische Pendant, befindet sich nach einem langwierigen Standortwechsel im konzeptionellen Neuaufbau.
Die Idee einer Stadtakademie hatte auch bei den Reformierten gezündet.
Die Idee, statt eines Rückzugsorts im Grünen eine Stadtakademie zu betreiben, hatte also auch bei den Reformierten gezündet. Doch so ganz sicher war sich die Kirchenleitung dabei nicht, und so gab sie eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Normalerweise führen solche Abklärungen zu einem modifizierten «Go», seltener zu einem definitiven «Stop». Doch hier geschah ein kleines Wunder, denn es kam eine ganz neue Idee heraus: eine Art Online-Akademie, ein reformierter Diskussionsort im Netz, ein Laboratorium kirchlicher Kommunikation mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts. So kam es, dass RefLab mitten im Corona-Lockdown an den Start ging.
Laboratorium der Kommunikation
Leiter des Start-ups ist der Theologe Stephan Jütte. Mit einem halben Dutzend Teilzeiterinnen sowie einigen freien Mitarbeitern und Ehrenamtlichen entstand das Laboratorium, das unter dem Label RefLab kirchliche Kommunikation neu zu erfinden versucht.
Das Medium der Wahl sind Podcasts, ergänzt mit Videos und Blogs. Die Mischung der Themen geht vom Streit um das Covid-Gesetz bis zur Philosophie Heraklits und vom neuen Bond-Film bis zur kritischen Lektüre des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Die Bandbreite der Stile reicht von der konzentrierten Expertenbefragung bis zum lockeren Talk, vom Spoken-Word-Kabarett bis zur intimen Selbsterforschung.
Stephan Jütte ist der Typus des Intellektuellen mit ausgeprägter Social-Media-Credibility. Seine inhaltlichen Schwerpunkte in der publizistischen Tätigkeit für RefLab liegen bei theologischen und ethischen Themen. Er ist unter den Mitwirkenden derjenige, der Stellung nimmt zu aktuellen öffentlichen Streitfragen. Zudem hat eben eine neue Blogserie eröffnet, die sich der Transzendenz von Alltagsdingen widmet.
Evelyne Baumberger war Journalistin und hat dann Theologie studiert. Als «postinstitutionelle Christin» (Stephan über Evelyne) geht sie in ihren Video-Blogs ohne pastorale Attitüde auf Lebens- und Glaubensthemen ein. So fragt sie beispielsweise, ob Monogamie ein Auslaufmodell sei. Es gelingt ihr in den kurzen Stücken, authentisch aufzutreten und eine Form der Nachdenklichkeit vorzuführen, die nicht predigt und nicht moralisiert.
Ihre Kollegin Johanna di Blasi ist Kunsthistorikerin und Kulturjournalistin. Von ihrem einstigen Mentor Martin Heller hat sie das Prinzip «ambitionierte Popularität» übernommen und ins RefLab eingebracht. Sie tritt in Podcasts als Interviewerin auf und äussert sich in Blogs mit Themen rund um Religion und Ästhetik. Sie hat zum Beispiel in einer Besprechung der Ausstellung «Earth Beats» im Zürcher Kunsthaus eine feine Einzelheit herausgehoben, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
Reichweiten und Wirkungen von Kommunikationsangeboten sind im Dschungel der Social-Media-Kanäle kaum zuverlässig zu ermitteln. Das RefLab-Team verlässt sich auf seine Erfahrungen mit der Netzwelt und steht im Austausch mit ähnlichen Akteuren. Durch die organisatorische Verbindung mit der kirchlichen Hochschularbeit in Zürich lassen sich Netzaktivität und Veranstaltungen verbinden, was zur Erdung der Ersteren beiträgt.
Pro Tag erscheinen durchschnittlich zwei professionell gemachte Beiträge. RefLab ist hierfür personell und technisch grosszügig ausgestattet. Offensichtlich verspricht sich die Reformierte Kirche viel von dem Experiment. Doch noch nie in den zwei Jahren seit dem Start hätten sich vorgesetzte Stellen in irgendeiner Weise bei RefLab eingemischt. Stephan Jütte berichtet von grosser Unterstützung und völliger Freiheit, die sein Baby geniesse.
RefLab hat sich bislang stets im – vergleichsweise liberalen – Toleranzrahmen der reformierten Zürcher Kirche bewegt.
Aus etwas Distanz betrachtet könnte das damit zu tun haben, dass RefLab sich bislang stets im – allerding schon immer vergleichsweise liberalen – Toleranzrahmen der reformierten Zürcher Kirche bewegt. Dessen Grenzen wurden wohl noch nie ernsthaft getestet. Vielmehr ist bei aller Angriffigkeit des Tons, die hier und dort in den Podcasts aufblitzt, doch stets ein Bemühen um Harmonie zu erkennen. Entsprechend ist das Team zusammengesetzt. Die Mitwirkenden mögen durchaus markante Positionen einbringen, aber die Temperaturen bleiben gemässigt. Die Beteiligten sind kultivierte Menschen, die offen und selbstkritisch diskutieren – und die gern und oft lachen. Der Podcast «Stammtisch» etwa, wo schon mal engagierte Meinungen aufeinanderprallen können, erweist sich immer wieder als ein Soziotop der guten Laune.
Es wird sich weisen müssen, ob das ausreicht, um dem Experiment RefLab auf Dauer Relevanz und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vermutlich wird es über kurz oder lang eine Schärfung von Profil und Inhalten brauchen. Dann wird sich zeigen, ob das typisch kirchliche Harmoniebedürnis auch engagierte Auseinandersetzungen erträgt.