Die christliche Kirche hat ihre Bedeutung verloren und unsere Gesellschaft befindet sich im freien Fall, findet Sara Beeli, die sich über den Verlust des Wir-Gefühls in einer (zu?) individualisierten Gesellschaft Gedanken macht.
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Sara Beeli ist sechzehnjährig und besucht die fünfte Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. Sie ist Gewinnerin des regionalen „Jugend-debattiert“-Wettbewerbes 2017 und vertrat den Kanton Zürich am nationalen Finale in Bern.
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Über Jahrhunderte hinweg behauptete sich das Christentum als führende Kraft in ganz Europa, als mächtige, unverzichtbare Instanz, die das Geschehen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum prägte. Doch heute interessiert sich nur noch ein kleiner Teil der Jugend für die einst so bedeutende Religion. Wieso?
Wenn man in meiner Klasse eine Schnellumfrage zum Thema Religion machen würde, sähe das Resultat für die christliche Gemeinschaft trostlos aus: Wer geht regelmässig in die Kirche? Niemand. Die Entstehung der Traditionen Firmung oder Konfirmation? Kaum jemand kennt sie. Wer glaubt an Jesus Christus und an Gott? Die Ja-Stimmen lassen sich an einer Hand abzählen. Anscheinend ist es nicht mehr angesagt, christlich zu sein. Vielleicht, weil es ganz einfach nicht mehr dem Zeitgeist entspricht. Was entspricht denn dem Zeitgeist?
Glanzlose Kirche
Die Kluft zwischen unserer modernen Welt und den Glanzzeiten der Kirche ist so gross geworden, dass diese im heutigen Leben weder Platz noch Nutzen zu haben scheint. Die Unterschiede zu früher zeigen sich in sämtlichen Bereichen unseres Lebens, und sie werden immer extremer:
Seit der Aufklärung verdrängen logozentrische Ansichten die Geschichten der Kirche: Anstatt etwas als gottgewollt zu akzeptieren, suchen wir stets nach einem logischen Sinn. Probleme muss man rational angehen, technischer Fortschritt immer gefördert werden, und nichts darf jemals ruhen. Unser Alltag, unsere Ausbildung und Arbeit, selbst unsere Kommunikation und zunehmend sogar unsere Partnerwahl: Alles beruht auf Wissenschaft und Technik; Sie sind nicht wegzudenken aus unserer Gesellschaft. Kaum einer behauptet hingegen, dass unser Alltag ohne den kirchlichen Einfluss zusammenbrechen würde. In weniger als einem Jahrhundert wurde der Glanz der Kirche durch das Leuchten der Bildschirme ersetzt. Du brauchst Hilfe und schnelle Informationen? Das Internet liefert sie im Handumdrehen. Du willst Ablenkung und Spass? Schon da.
Doch wenn alles, was man braucht oder zu brauchen glaubt, immer per Mausklick verfügbar ist, wozu benötigt man dann noch den kirchlichen Glauben? Früher war das anders: Man konnte sich als einfacher Bauer nicht einfach nehmen, was man wollte, sondern war an die göttliche Ordnung gebunden, die jedem Menschen einen von Gott zugeteilten Platz in der Gesellschaft zuwies. Erst das Jenseits versprach die Erfüllung aller Wünsche, und nur unter der Bedingung, dass man die Zeit auf Erden im Einklang mit den kirchlichen Werten gelebt und die Autorität der Kirche stets akzeptiert hatte. Man hoffte also bescheiden auf eine erlösende Auferstehung und auf paradiesische Zustände im himmlischen Jenseits.
Selbstverwirklichung im Jetzt
Unser Leben heute dreht sich nicht mehr darum, auf heilversprechende Erfahrungen im Himmel zu warten und bis dahin brav dem göttlichen Plan zu folgen. Was wir heute anstreben, ist die absolute Selbstverwirklichung im Jetzt. Alle wollen und müssen zur bestmöglichen Version ihres Selbsts werden: reicher, schöner, erfolgreicher, intelligenter. Nichts ist je gut genug: Der ständige Leistungsdruck soll uns unaufhörlich zu noch Besserem anspornen. Die Option eines mehr oder weniger spektakulären fernen Jenseits, in dem Engelschöre zu Harfenklängen singen, interessiert schlicht nicht. „I want it all – and I would like it delivered“, brachte es die Entertainerin Bette Midler ironisch auf den Punkt. Das Augenmerk liegt darauf, ein fantastisches Leben auf Erden zu haben und das Diesseits voll auszukosten. Und dazu benötigen wir die Kirche nicht.
So nimmt sich jeder, was er gerade braucht, und da jeder ein kleines bisschen anders ist, nimmt sich jeder etwas anderes. Die Konsumhaltung stärkt dabei den fortschreitenden Individualisierungsprozess, was zunächst für den Einzelnen Vorteile mit sich bringt: Musik ja, aber bitte nur genau diejenigen Lieder, die ich mag, nicht die ganze CD. Brot ja, aber bitte nicht den Anschnitt. Dieses Auto gern, aber dann schon lieber in einer anderen Farbe. Dasselbe bei der Religion: Wir sind nicht mit einer Religion zufrieden, wie sie ist, denn sie ist nie perfekt für uns. Das sollte sie aber sein, schliesslich müssen wir uns selbst verwirklichen. Vielleicht gibt es einen Gott, aber jeden Sonntag in die Kirche? Danke, aber nein. Nächstenliebe ja, aber uralte Lieder singen? Und somit singt jeder für sich, was ihm am besten gefällt. Lauter Solisten, und kein Chor.
Verlust der Stärke
Die Individualisierung ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kostet uns ebenso viel, wie sie uns bietet.
Früher gab die christliche Gemeinschaft das gemeinsame Ziel vor. Das ist lange her: Aus „wir“ wurde „ich“, aus der Ganzheit der Christen viele Einzelpersonen, die sich eigentlich so ähnlich, aber letztlich doch zu verschieden sind, um zusammenzugehören. Sobald man Teil einer Gemeinschaft ist, muss man seine Vorstellungen verbiegen, und genau das soll man doch eben nicht. So leben wir alle unverbogen und unverbunden auf je einer kleinen Insel, umgeben von tausenden weiteren. Es sollte noch nicht einmal heissen „wir leben“, es sollte heissen: Ich lebe. Oder noch konkreter: Ich lebe allein. Individualisierung bedeutet Alleinsein. Jeder allein – mit seinem eigenen Göttlein.
Der Trend weg von der kirchlich geprägten Gemeinschaft wird wohl weitergehen. Aber es muss uns bewusst sein, was wir dabei riskieren: Eine starke, vereinte, unterstützende Gemeinschaft, die uns etwas gibt, an das wir glauben können, und die gerade in schwierigen Zeiten Schutz bietet und Kraft spendet. Diese leitende Kraft war im Westen so lange die christliche Kirche, dass es kaum einen geeinten Ersatz für sie gibt. Viele, die sich von ihr abwenden, gewinnen dabei neue Freiheiten. Aber Freiheit bedeutet auch Chaos und Unkontrollierbarkeit. Früher bedeutete Freiheit „Auferstehung ins Paradies“. Heute bedeutet Freiheit „freier Fall“.
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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected])
Weitere Informationen zum Zürcher Realgymnasium Rämibühl unter www.rgzh.ch