Caspar David Friedrich ist nicht nur der wichtigste Maler der deutschen Romantik, sondern auch ein kühner Erneuerer der Landschaftsmalerei. Er hat ikonische Bilder eines neuen Lebensgefühls geschaffen, von denen einige bis heute ihre Geheimnisse nicht ganz preisgeben.
Geboren wurde er 1774 in Greifswald als sechstes von zehn Kindern einer Seifensieder- und Kerzenzieherfamilie. Die bescheidenen Verhältnisse prädestinierten Caspar David Friedrich nicht ohne weiteres für eine Künstlerlaufbahn. Wegen einer psychischen Erkrankung (man würde heute wahrscheinlich von einem Asperger-Syndrom reden) stand der 14-Jährige nach der Schulzeit vor einer ungewissen Zukunft. Doch zwei Menschen hatten die Gnade, für Caspar David intuitiv die Weichen richtig zu stellen.
Der Erste dieser beiden war sein Vater. Als Verlegenheitslösung schickte er sein Problemkind zum Kunstunterricht zu Johann Gottfried Quistorp (1755–1835), der ohne es zu ahnen zum zweiten Wohltäter des Jungen werden sollte. Dieser erwies sich zunächst als wenig geschickter Schüler. Einzig für Landschaftsdarstellungen vermochte er sich zu erwärmen. Statt sich über die Mankos des Zöglings zu enervieren, verfiel Quistorp auf die geniale Idee, diesem die vierbändige «Theorie der Gartenkunst» von Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792) zu lesen zu geben, eine damals populäre Lehre der Landschaftsästhetik, die sich gleichermassen der englischen Gartenbaukunst wie der Landschaftsmalerei annahm.
Die frühe Begegnung mit Hirschfelds Theorie war der entscheidende Anstoss für Caspar David Friedrichs künstlerische Entwicklung. Landschaftliche Szenerien waren für ihn fortan mit Bedeutung aufgeladene, sprachlich erschlossene, geistig zu erfassende Entitäten. Als Maler hat er Landschaften nicht einfach realistisch dargestellt. Vielmehr hat er sie – ähnlich einem Gartengestalter, der mit künstlichen Landschaften bestimmte Emotionen erzeugt – als Gefühlstableaus entworfen und durchgestaltet.
Menschen sind auf Friedrichs Bildern meist völlig auf die sie umgebenden Landschaften bezogen. Der einsame Wanderer auf dem Berggipfel hat keinen im Bild sichtbaren Weg vor oder hinter sich, er steht einfach da und schaut in die Weite. Indem wir ihn von hinten sehen, haben wir die gleiche Blickrichtung. Wir könnten an seiner Stelle stehen und stimmen unwillkürlich ein in das erhebende Gipfelerlebnis.
Der Betrachter kann fast nicht anders, als sich mit den Figuren in Friedrichs Landschafen zu identifizieren.
Es ist ein für Friedrich typisches Bildelement: die Rückenfigur vor der Landschaft. Der Betrachter kann fast nicht anders, als sich mit diesen Gestalten zu identifizieren. Auch der kühne, fast schon leichtsinnige Berggänger steht quasi für den Betrachter da. Dieser erlebt mit der Figur einen Moment des Triumphs und der gleichzeitigen Furcht, denn die Nebelschwaden können dem Wanderer jeden Moment die Sicht rauben und den Abstieg über die schroffen Felsen zur tödlichen Falle machen.
Der einsame Wanderer in der menschenleeren Bergwelt markiert die existenzielle Erfahrung des völlig auf sich gestellten Menschen, der mit der Welt – und in Friedrichs frommer Sicht: mit Gott – allein ist. Es bleibt dem heutigen Publikum anheimgestellt, ob es sich die religiöse Intention des Malers zu eigen machen und hier einen Menschen sehen will, der als kühner Einzelgänger Gott vertraut und aus dieser «Religio» (was soviel wie «Rückbindung» heisst) seine Freiheit gewinnt. Doch das Bild steht auch einer nichtreligiösen Deutung durchaus offen. Dann zeigt es die heroische Existenz des Einzelnen in der unwirtlichen Welt und den Überschwang jener Freiheit, die der Mutige sich nimmt.
Eine Situation der Lust und Angst zeigt auch das neben dem «Wanderer» berühmteste Bild Friedrichs, «Kreidefelsen auf Rügen». Drei bürgerlich gekleidete Figuren, eine Frau und zwei Männer, haben den hochgelegenen Aussichtspunkt am sogenannten Königsstuhl auf der Ostsee-Insel Rügen aufgesucht. Der Blick fällt auf die bizarr geformten Kreidefelsen und das in der Tiefe liegende Meer.
Friedrich verbindet hier die naturgetreue Wiedergabe der spektakulären Szenerie mit einer kühnen und in der Kunst einzigartigen Raumgestaltung. Da ist im Vordergrund die Sicht von einem virtuellen, in der Luft über der Szene schwebenden Standpunkt nach unten auf das schmale Grasband vor der Abbruchkante. Der visuelle Zug in die Tiefe akzentuiert sich dramatisch mit den weissen Felszacken, zwischen denen das mehr als hundert Meter unter dem Aussichtspunkt liegende Wasser zu sehen ist. Die von zwei Bäumen und den seitlichen Felsen gerahmte Ostsee bildet das Zentrum des Gemäldes. Der Horizont ist nicht auszumachen, er verschwimmt im leichten Dunst, sodass Meer und Himmel gleitend ineinander übergehen.
Die Raumperspektiven folgen der Bewegung des Blicks. Eine wie im Vordergrund des Bildes in die Tiefe gerichtete Kamera ergäbe eine Fotografie ohne Horizont. Auch im oberen Bereich des fotografischen Abbilds fiele der Blick steil nach unten, sodass kein Himmel, sondern nur Felsen und Wasser zu sehen wären. Der Maler hingegen ändert gleitend die Perspektive. Seine obere Bildhälfte zeigt eine Sicht in die Weite, die für das Auge, wäre es unverändert steil nach unten gerichtet, gar nicht im Blickfeld wäre.
Erst mit diesem Kunstgriff der sich gleitend verschiebenden Perspektive bringt Friedrich beides ins Bild: den drohenden Absturz in die Tiefe und den Blick ins Offene, ja – durch die Verschmelzung von Meer und Himmel – gewissermassen ins Unendliche. Zu beidem, der dräuenden Tiefe und der lichten Weite, stehen die Figuren in Bezug.
Mit der sich gleitend verschiebenden Perspektive bringt Friedrich beides ins Bild: den drohenden Absturz in die Tiefe und den Blick ins Offene. Zu beidem stehen die Figuren in Bezug.
Die Frau im roten Kleid hält sich vorsichtig an einem Ast fest und zeigt vielsagend in die Tiefe, während der Mann in der Mitte ängstlich auf den Abgrund zu kriecht. Anders der Mann rechts. Wagemutig steht er an der Kante auf dem Wurzelwerk eines über den Abgrund hinaus wachsenden Busches und lehnt sich mit lässig verschränkten Armen, den Blick in die Ferne gerichtet, an einen Baumstrunk.
Manche Interpreten wollen in den männlichen Figuren je eine Verkörperung des Künstlers selbst sehen, der so seine eigene Spaltung zwischen Angst und Mut, Bedrängnis und Freiheit dargestellt habe. In der Frau im Bild wird oft Friedrichs Gattin Caroline vermutet. Die Ehe wurde kurz vor Entstehung des Bildes geschlossen.
Ein «Hochzeitsbild» also, wie manche vermuten? Wohl kaum; Friedrich machte sich nichts aus gesellschaftlichen Zeremonien. Statt ein Hochzeitsfest abzuhalten, hatte er sich nach der Trauung in der eiskalten Dresdener Kreuzkirche sofort ans Schreibpult verzogen, um zu arbeiten. Weshalb sollte er da ein Hochzeitsbild malen? Doch ein verschlüsselter Reflex seiner widersprüchlichen Haltung zur Ehe – er liebte zwar seine Frau, schreckte aber vor einer entschiedenen inneren Bindung zurück – ist möglicherweise ins Bild eingeflossen.
Viele von Friedrichs Werken geben den Kunstinterpreten bis heute Rätsel auf. Biographische Bezüge, verstreute Äusserungen des Malers in erhaltenen Briefen, Vergleiche mit Werken anderer Künstler, gängige Symboliken und ikonographische Codes werden herangezogen, um versteckte Bildaussagen aufzuspüren.
«Kreidefelsen», ein Emblem der Romantik, fordert zur Entschlüsselung heraus. Doch das Bild widersetzt sich der vollständigen Aufklärung seiner Geheimnisse.
Das Bild «Kreidefelsen» hat ganz unterschiedliche Deutungen erfahren, und keine hat sich allgemein durchgesetzt. Mit seiner strengen Komposition, dem verwirrenden Perspektivenwechsel, den typisierten Figuren und einer Vielzahl von anscheinend codierten Bildelementen fordert es zur Entschlüsselung heraus. «Kreidefelsen» ist ein Emblem der Romantik – nicht zuletzt deshalb, weil es sich der vollständigen Aufklärung seiner Geheimnisse widersetzt.
Vergleichsweise deutlich lesbar sind die zahlreichen Bilder Friedrichs, in denen er direkt adressierbare religiöse Elemente einfügt oder gar prominent ins Zentrum stellt. Immer wieder malt er Kirchen sowie Weg- und Gipfelkreuze. Berühmte Bilder wie «Der Mönch am Meer» oder auch «Abtei im Eichwald», das ein Mönchsbegräbnis zeigt, sind deutlich religiös markiert (beide befinden sich nicht in der Ausstellung). Die oft dramatischen Bildwirkungen von Licht und Sonne sind bei Friedrich klare Gottessymbole, der Mond in den zahlreichen Nachtstücken steht für Christus und die wiederholt demonstrativ vorkommenden Anker repräsentieren den Glauben. Auffällig inszenierte Durchblicke ins Offene und Helle sind stets als bildliche Äquivalente des Hoffnungsmotivs zu lesen.
Caspar David Friedrich war ein religiöser Mensch, der seinen Glauben nicht allein aus der traditionellen kirchlichen Verkündigung zog, sondern ebenso sehr aus einem intensiven Naturerleben. Er folgte darin einer Spielart des Christentums, das in der Zeit der Aufklärung entstanden war und bis ins 19. Jahrhundert als «Physikotheologie», also Naturtheologie, grossen Einfluss hatte. Für die Physikotheologen war die Natur als das von Gott Geschaffene wie ein Buch, aus dem, gleichwertig mit der Bibel, die Grösse und Güte Gottes abzulesen sei.
Ludwig Gotthard Kosegarten (1758–1818), Pastor von Altenkirchen auf Rügen und später Professor für Geschichte in Greifswald, pflegte an den Sonntagen der Monate September und Oktober Uferpredigten unter freiem Himmel zu halten. «Sucht den Ewigen in der Natur», rief er da den Gläubigen zu. «Gewöhnt euch nur, meine Brüder, bei allem, was euch schön, lieblich oder fruchtbar in der Schöpfung dünkt, an den Herrlichen zu denken, von dem es stammt.» Caspar David Friedrich hat den Pastor Kosegarten höchstwahrscheinlich persönlich gekannt, und die Emphase in dessen Naturpredigten sprach dem Künstler zweifellos aus dem Herzen.
Die Naturpredigten von Pastor Ludwig Gotthard Kosegarten sprachen Caspar David Friedrich zweifellos aus dem Herzen.
Die Naturreligiosität der Physikotheologie verband sich organisch mit dem Gefühlskult der Romantik. Der bedeutendste Theologe der Epoche und Quasi-Popstar des Kulturlebens, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), erklärte das Phänomen der (christlichen) Religion als «Sinn und Geschmack für das Unendliche». Er vertrat damit ein auf Gefühl und Intuition basiertes Religionsverständnis, dem auch Friedrichs Bilder entsprechen.
Die Landschaften und Seestücke des Greifswalder Meisters sind oft teils von Nebel verhüllt. (Der Katalog enthält als Tafel 51 das besonders schöne «Meeresstrand im Nebel», das nicht in der Ausstellung ist.) Das ästhetische Spiel des Zeigens und doch nicht ganz Zeigens hat bei Friedrich eine existenzielle und religiöse Komponente. Wie im Nebel das Entfernte undeutlich oder gar nicht zu erkennen ist, so bleibt dem Menschen die Sicht auf die «letzten Dinge», nämlich die Klarheit über das Ende und darüber hinaus, verwehrt. Mit diesem Nichtwissen umgehen zu müssen, prägt die Condition humaine – mit ihm umgehen zu können, die anzustrebende Lebenskunst. Für Caspar David Friedrich lag die Letztere im christlichen Glauben.
Wo nicht Nebel, herrscht in Friedrichs Landschaften oft Mondschein – und manchmal sogar beides zusammen. Die fahle Erleuchtung der Nacht ist bei ihm jedoch nicht «romantisch» im Sinne von gehobener Stimmung. Vielmehr macht Mondlicht die Schatten tiefschwarz und bewirkt, dass man vieles eben nicht sehen kann. Und das Verdunkelte ist das potentiell Bedrohliche. Doch mag der Wanderer in der Mondnacht auch gefährdet sein, so ist er doch nicht verloren. Das wenige Licht reicht, um den Weg zu finden. Für Caspar David Friedrich ist deshalb der Mond ein Christussymbol: Er hat sein Licht von der Sonne, die in der Symbolsprache für Gott steht, und ermöglicht dem Menschen, der seinen Lebenspfad durch die Dunkelheit der unerlösten Welt suchen muss, sich zurechtzufinden.
Solche Symbolismen liegen für den heutigen Betrachter nicht nahe. Tiefe Dunkelheit kennen wir kaum noch, und nachts allein draussen zu sein ist eher Exposition von Fernsehkrimis als eigene Erfahrung. Wir lesen deshalb Nachtbilder, die aus dem frühen 19. Jahrhundert stammen, häufig falsch: zu harmlos, zu stimmungsvoll, in einem verfälschten Sinn «romantisch».
Romantik im historischen Sinn ist nicht nur durch ihre Betonung des Gefühls eine Gegenbewegung zur Aufklärung, sondern auch indem sie die dunklen Seiten der Existenz ins Auge fasst. Sie thematisiert wie keine Epoche zuvor die Verlorenheit des Menschen und die rätselhafte Undurchdringlichkeit der Welt.
Die historische Romantik fasst die dunklen Seiten der Existenz ins Auge: die Verlorenheit des Menschen und die rätselhafte Undurchdringlichkeit der Welt.
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) hat die Erfahrung des Verlorenseins ausgelotet und mit dem Buchtitel «Die Krankheit zum Tode» in eine einprägsame Formel gefasst. Sein Denken gründet in der düsteren Romantik. Wiewohl eine Generation jünger als Friedrich, ist er gewissermassen dessen Bruder im Geiste. Kierkegaard stellte den konkreten Einzelnen in neuartiger Weise ins Zentrum der Philosophie. Sein ebenso beflügelndes wie beklemmendes Denken fand starken Nachhall im Existenzialismus des 20. Jahrhunderts.
Meer und Schiffe zählen zu Friedrichs Hauptmotiven, und selbstverständlich sind gerade sie stets Träger symbolischer und allegorischer Bedeutungen. Auf dem Meer ist der Mensch den Naturgewalten ausgeliefert, als Seefahrer setzt er sich den Gefahren aus. Im Wissen, dass er sein Schicksal letztlich nicht in der Hand hat, verlässt er sich dennoch auf seine eigenen Fähigkeiten – eine Konstellation von existenzialistischer Anmutung. Das Meer ist Sinnbild der Existenz mit ihrer Dualität von Selbstbehauptung und Ausgeliefertsein. Das damit motivisch verbundene Schiff steht für das Wagnis der Reise zu neuen Ufern. Zur See zu fahren ist ein Bild für den Mut zum Risiko trotz allem, für die prekäre Zuversicht bezüglich des Gelingens menschlicher Pläne.
Caspar David Friedrich hat sein prächtiges, stolzes Schiff mit vollen Segeln dargestellt. Aus einem bräunlichen Nebel heraus bewegt es sich auf den Betrachter zu, während die Wolken sich in der Höhe lichten. Die Sonne wird den zähen Dunst nächstens auflösen. So wird der in das Seestück eingeschriebene Zwiespalt von Chance und Gefahr überstrahlt von einem Hoffnungszeichen. Um 1815, in der Endphase der Napoleonischen Kriege, hat Caspar David Friedrich dieses Statement abgegeben. Gut möglich, dass im Bild «Segelschiff» sich seine trotzige Reaktion auf die Zeitgeschichte niedergeschlagen hat.
Allerdings hat die existentielle Düsternis den Künstler bald darauf wieder eingeholt. Die nach der Napoleonzeit einsetzende Restauration mit ihrer Repression gegen national-liberal Gesinnte, zu denen sich Friedrich zählte, isolierte ihn zunehmend. Die erhoffte Professur für Landschaftsmalerei an der Dresdener Akademie blieb ihm verwehrt. Er geriet in eine Schaffenskrise, begann überall Verrat zu wittern und litt zunehmend unter Verfolgungswahn. Als er 1840 starb, war er praktisch vergessen. Seine Familie liess er in grosser Armut zurück.
Die Winterthurer Ausstellung steht im Vorfeld des im kommenden Jahr anstehenden 250. Geburtstags Caspar David Friedrichs. Entwickelt wurde sie in Zusammenarbeit mit dem Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, wo sie bereits gezeigt wurde. Die gross angelegte Schau zeigt Friedrich nicht als Heros der Romantik und genial-tragischen Solitär, sondern als einen Künstler, der in vielfachen Bezügen zu Vorläufern steht. Wichtig waren für ihn Claude Lorrain, Jacob van Ruisdael, aber auch sein Schweizer Lehrer Adrian Zingg. Von ihnen und zahlreichen weiteren Impulsgebern sind Werke ausgestellt, die erkennen lassen, woran Friedrich sich orientiert hat.
Wie fast alle Umbrüche in Kunst und Geisteswelt wurde auch die Romantik nicht von Einzelnen unvermittelt in die Welt gesetzt. Sie hat sich über Generationen entwickelt, bis sie Form und Namen bekam.
Kunst Museum Winterthur | Reinhart am Stadtgarten
Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik
bis 19. November
kuratiert von Dr. David Schmidhauser
Katalog erschienen bei Hirmer, 48 Franken
Digitales Tutorial zur Ausstellung