«Ohne Kierkegaard bin ich als Schriftsteller nicht zu verstehen.» Das sagte Friedrich Dürrenmatt, der nach seinem Studium der Philosophie und Psychologie eine Dissertation über «Kierkegaard und das Tragische» geplant, aber dann nicht geschrieben hatte. Dürrenmatt ist nur einer von zahlreichen Denkern und Schreibern mit starken Verbindungen zu Kierkegaard. Dessen Wirkungen reichen in der Philosophie zu Nietzsche, Heidegger, Sartre sowie deren geistigen Umfeldern und Nachfahren. Folgt man seinen Spuren in der Literatur, so stösst man auf so unterschiedliche Werke wie die von Dostojewski, Rilke, Kafka, Camus, Frisch. Auch in der Entwicklung der Psychologie haben Kierkegaards Impulse gewirkt. Das Konzept der humanistischen Gesprächstherapie von Carl Rogers ist nach dessen eigenem Bekunden ohne Rückgriff auf den «Sokrates von Kopenhagen» nicht denkbar.
Kierkegaards dialektisches, in Gespräch und Selbstgespräch wurzelndes Denken erfasst die Paradoxien der Existenz, die innere Spannung der Realität und bringt eine literarische Philosophie hervor, deren Blick auf Mensch und Welt – wie Dürrenmatt das genannt hat – im Kern «dramaturgisch» ist. Wer war dieser Sören Kierkegaard? – Mit dieser Frage hat er selbst zeitlebens gerungen, und zwar auf eine Weise, die das moderne Denken über die menschliche Existenz tief geprägt hat.
Ein Leben und Denken in lauter Widersprüchen
Geboren am 5. Mai 1813 in Kopenhagen als Sohn eines aus ärmsten Verhältnissen stammenden, dann aber wohlhabend gewordenen Wollwarenhändlers, führte Sören Aabye Kierkegaard nach Studien der Theologie und Philosophie das Leben eines Privatgelehrten und überaus produktiven Schriftstellers. Die dänische Gesamtausgabe seiner Schriften zählt 55 Bände. Als Kierkegaard 1855 starb, war er eine ebenso respektierte wie umstrittene Berühmtheit.
Ihn eine widersprüchliche Persönlichkeit zu nennen, dürfte eine gehörige Untertreibung sein. In seinen «Erbaulichen Reden» begegnen wir dem Prediger, Lehrer und Seelsorger, der seiner Leserschaft Tiefe und Schönheit des Glaubens behutsam und anrührend vor Augen führt. Der gleiche Kierkegaard kann als erbarmungsloser Polemiker Gesellschaft und Kirche demaskieren und blossstellen, dass es eine Art hat. Beim Erklären des Christentums begegnet er als weiser Deuter, der die Glaubens- und Denkschwierigkeiten seiner Leser versteht und ihnen souverän und einfühlsam den Weg weist. Was jedoch ihn selbst betraf, so war er häufig weder weise noch souverän oder einfühlsam. In seinen ungezählten rücksichtslosen Selbsterforschungen zeigt er von sich selbst das Bild eines zerrissenen, schwermütigen, oft verängstigten und verzweifelten Menschen.
Prägende Lebenskatastrophen
Zwei Katastrophen lasteten auf Kierkegaards Leben. Die erste war das enge und in fataler Weise religiös aufgeladene Verhältnis zu seinem Vater. Dieser hatte sein siebtes Kind noch vor dessen Geburt als «Opfer» ausersehen, mit dem er eine in seiner ärmlichen Jugend ausgesprochene Verfluchung Gottes wieder gutzumachen hoffte. Der Opfercharakter sollte in der Vorstellung des strenggläubigen Vaters in einem «priesterlichen», das heisst ganz Gott geweihten Leben bestehen. Mit was für Sprengsätzen diese Vaterbeziehung geladen war und mit welchen psychischen Gewaltakten diese am Explodieren gehindert wurden, ist in Kierkegaards Schriften nicht nur in verklausulierter, sondern wiederholt auch in expliziter, direkter Form niedergelegt.
Der andere grosse Schatten auf Kierkegaards Leben ist die Geschichte der aufgelösten Verlobung. Er hatte sich als Student in die zehn Jahre jüngere Regine Olsen verliebt und sich kurz nach dem theologischen Schlussexamen mit ihr verlobt. Mit ihr als zukünftiger Pfarrfrau schien der Weg in den Kirchendienst nach elfjährigem Studium endlich geebnet. Unter unsäglichen, nie verwundenen seelischen Schmerzen machte Kierkegaard jedoch den Schlussstrich. Gerade weil er und Regine einander sehr liebten, traute er sich die Ehe nicht zu. Kierkegaards hochfliegende Idealvorstellung vom Zusammenleben war mit seiner introvertiert-depressiven Disposition nicht zu vereinbaren. Er war überzeugt, mit jeder Entscheidung nur zutiefst schuldig werden zu können: Heiratete er nicht, so verletzte er die Verlobte aufs Schwerste; heiratete er sie, so hatte sie an seiner Seite lebenslanges Unglück zu gewärtigen. Dieses Dilemma hat Kierkegaard nie hinter sich lassen können. Es wurde gewissermassen zum Modell seiner Auffassung von den Abgründen der menschlichen Existenz.
Der Einzelne im Zentrum des Denkens
Die Annahme liegt nahe, dass es diese persönlichen Lebensdramen waren, die Kierkegaards Denken auf den einzelnen Menschen fokussiert haben. In scharfer Abgrenzung gegen die Schulphilosophien seiner Zeit, insbesondere die übermächtige Figur Hegels, verwarf er jedes Systemdenken. Der Mensch war für ihn im strengen Sinn nur als Einzelner denkbar. Erst in dieser radikalen Konzentration auf das individuelle einmalige Leben kamen Grösse und Abgründigkeit der Existenz in den Blick. Kierkegaard begründete diese Sichtweise religiös: Jeder Mensch steht allein vor Gott, jeder ist allein mit seinem Gewissen. Strukturell ist damit der Kerngedanke der Existenzphilosophie schon voll entwickelt. Kierkegaards Modernität wird sichtbar, sobald man auf die Denkstrukturen und –bewegungen hinter seinem oft antiquiert wirkenden frommen Vokabular achtet.
Es konnte nicht ausbleiben, dass Kierkegaard mit dem Vorwurf der Blindheit für die soziale Verfasstheit menschlicher Existenz konfrontiert wurde. Georg Lukács und Karl Barth können hier für viele Kritiker stehen, die auf diesen Punkt hingewiesen haben. In der Tat war Kierkegaards radikale Konzentration auf den Einzelnen eine vielleicht gewagte, aber eben doch höchst ergiebige Entscheidung. Sie führte zu seinem Begriff der Innerlichkeit, den er dezidiert nicht romantisch, sondern als rückhaltlose Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber verstanden haben will.
Sünde als Schlüsselbegriff jenseits des Moralischen
Die sokratische Gesprächskunst war Vorbild für Kierkegaards eigene Praxis des Dialogs, die er bei seinen täglichen Spaziergängen auf den Strassen Kopenhagens genauso pflegte wie in seinem Schrifttum. Es ging ihm darum, durch behutsames Nachfragen die Gesprächspartner zu befähigen, eingefleischte Selbstentfremdung hinter sich zu lassen und lange Verdunkeltes aufzuklären. In einem Punkt allerdings sah er die sokratische Dialektik als unzureichend an. Der Philosophie des Altertums habe ein adäquates Verständnis von Sünde gefehlt: «Die griechische Intellektualität war zu glücklich, zu naiv, zu ästhetisch, zu ironisch, zu witzig – zu sündig, um zu begreifen, dass jemand wissentlich das Gute unterlassen oder mit dem Wissen vom Rechten das Unrechte tun könnte.»
Das Christliche beginne mit der Erkenntnis, dass das Böse im Willen liege. Zwischen dem Erkennen und dem Tun gebe es Brüche, wobei oft das Handeln obsiege und die Erkenntnis sich anpasse, bis «die Erkenntnis auf die Seite des Willens übergelaufen ist und erkennt, dass es ganz richtig ist, wie der Wille es will.» Den gleichen Gedanken fasste Nietzsche in «Jenseits von Gut und Böse» eine Generation später in einen genialen, viel zitierten Aphorismus: «Das habe ich getan, sagt mein „Gedächtnis“. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.»
Kierkegaards Reflexion über die Sünde geht weit über das hinaus, was gemeinhin unter christlicher Moral verstanden wird. Sie dringt vielmehr in grundlegende Geheimnisse und Widersprüche des Menschseins ein. Kierkegaard hat so ganze Denkräume für spätere Generationen von Philosophen und Schriftstellern eröffnet. Indem es ihm beim Thema Sünde gerade nicht um Moral geht, sondern um Erkundung des Ich «vor Gott», also im Bezug zum Absoluten, macht er die eigene Existenz in nie gekannter Radikalität zum Thema. Kierkegaard macht den Lebensmodus der Reflexion zu einem permanenten Selbstversuch.
Das Paradox von Glaube und Zweifel
In seinem radikalen Reflektieren findet Kierkegaard einerseits zu ebenso kühnen wie schlüssigen Interpretationen des Glaubens, die ihn zu einem der grossen Lehrer der christlichen Religion machen. Auf der anderen Seite bleibt er immer ein Zweifler und Sucher. In seiner Darstellung des Typus «Dichter des Religiösen», die unschwer als Kierkegaards Selbstporträt zu erkennen ist, heisst es: «Ein solcher Dichter kann ein sehr tiefes religiöses Verlangen haben, und die Vorstellung von Gott ist in seine Verzweiflung mit aufgenommen. Er liebt Gott über alles, Gott ist ihm einziger Trost in seiner geheimen Qual, und doch liebt er die Qual, die er nicht aufgeben will. (...) Er ist im Verhältnis zum Religiösen ein unglücklicher Liebhaber, das heisst: er ist nicht im strengen Sinne ein Glaubender; er hat nur das Erste des Glaubens: die Verzweiflung, und in ihr ein brennendes Verlangen nach dem Religiösen.»
Kierkegaard lebt und denkt auf der Grenze und im Widerspruch: Als Denker und Deuter des Christlichen schliesst er sich vom Glauben aus, von dem er doch durchdrungen ist, und als Schwermütiger vermag er den Eindruck des heiteren und geselligen Menschen aufrecht zu erhalten. Er behauptet, dieses Versteckspiel habe ihm Freude bereitet, weil es auf diese Weise gelungen sei, die eigentliche Triebfeder seines Tuns – die Schwermut – zu verbergen. Kierkegaard sah den Gegensatz von permanentem Leiden an der Schwermut und souveränem darüber Hinweggehen nicht als logischen Widerspruch (das heisst als sich ausschliessende Grössen) sondern als existenzielles Paradox, das heisst den Widerspruch als Wahrheit.
Das Paradox war nicht nur Kierkegaards Lebensmotto, sondern auch ein Schlüsselbegriff seines Denkens, den er gegen Hegels Denkfigur der Vermittlung setzte. Wo beim grossen Systemdenker die Widersprüche «vermittelt» und im übergeordneten Ganzen zusammengehalten werden, sind sie bei Kierkegaard zum Paradox zugespitzt und zum Aufbrechen aller Systemzwänge angesetzt. Immer deutlicher arbeitete er das Paradox als innere Struktur des Christlichen heraus.
Konfrontation und Zusammenbruch
Die lutherische dänische Staatskirche hatte sich dogmatisch dem Hegel’schen Idealismus verschrieben. Kein Wunder, nahm Kierkegaard sie mit wachsender Schärfe aufs Korn. In seinen letzten zwei Lebensjahren eskalierte der Konflikt zum offenen Skandal. Kierkegaard nahm einen schönfärberischen Nachruf auf Bischof Mynster zum Anlass, seinerseits den verstorbenen Würdenträger und die dänische Kirche insgesamt in polemischen Flugblättern und Zeitungsartikeln frontal anzugreifen und ihnen jede christliche Legitimation abzusprechen.
Dieser Kampf mit der Kirche war folgerichtig sowohl aufgrund der denkerischen Entwicklung wie der persönlichen Widersprüche und Paradoxe Kierkegaards. Allerdings konnte und wollte er sich von der Kirche nicht lösen. Das liessen sein christlicher Ernst und die tiefe Frömmigkeit nicht zu, und zudem konnte er als genuiner Dialektiker bei aller heftigen und begründeten Parteilichkeit nicht das Recht für sich allein beanspruchen und ausschliesslich auf einer der beiden Seiten stehen. Als ob die tragische Verstrickung in diesen Streit seine Lebenskraft aufgezehrt hätte, starb er mit 42 Jahren beim Spaziergang durch sein geliebtes und verhasstes Kopenhagen an einem Schlaganfall.
Kierkegaards Hauptwerke – «Entweder – Oder», «Krankheit zum Tode», «Der Begriff der Angst» – sind in verschiedenen Einzelausgaben auf Deutsch lieferbar, aber für heutige Leser nicht ganz leicht zugänglich.
Das separat lieferbare Kapitel «Tagebuch des Verführers» aus «Entweder – Oder» ist die gut lesbare fiktionale Verarbeitung von Kierkegaards traumatischer Verlobungsgeschichte.
Eine ausgezeichnete Einführung in Kierkegaards Leben und Denken bietet ein neu erschienener Reader:
Michael Heymel/ Christian Möller: Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden. Theologischer Verlag Zürich TVZ 2013, 246 S., Fr. 38.00