Dass man «Landschaft» sieht, wenn man sich dort umschaut, wo nichts Besonderes ist – auf die Idee musste man erst mal kommen. «Nichts», das hiess für die Maler vor Mitte des 17. Jahrhunderts: keine Person, keine Handlung, kein Schauplatz eines Ereignisses, kein anderweitig herausgehobener Ort und auch keine metaphorisch lesbaren Gegenstände. Waren hingegen solche Bildthemen gegeben, so konnte das Nicht-Thema Landschaft in den Bildwerken nicht nur Platz finden, sondern unter Umständen den Inhalt erst recht ins Licht setzen.
Genau nach diesem Muster geht der Meister der Münchner Marientafeln vor, der um 1450 seine mit den Insignien der spätmittelalterlichen Ikonographie versehene «Geburt Christi» in einer winterlichen Landschaft situiert. Am rechten Bildrand öffnet sich der Ausblick ins verschneite Gebirge, und an der Dachkante des Stalls hängen Eiszapfen. Christian Klemm, der einstige Sammlungskonservator des Zürcher Kunsthauses, glaubte in dieser Tafel das erste grossformatige Winterbild der europäischen Kunstgeschichte entdeckt zu haben.
So richtig das sein mag, ist doch die Bezeichnung «Winterbild» dem originären Sinn des Gemäldes nicht ganz angemessen. Dem Münchner Meister ging es mit den jahreszeitlichen Kennzeichen um etwas anderes. Er situierte die Geburt Christi in der Welt der Betrachter und fügte so zwei Zeiten zusammen: die des biblischen Geschehens auf der einen und die des Kunstwerks samt seinem andächtigen Publikum auf der anderen Seite. Dieses Überbrücken der anderthalb Jahrtausende zwischen dem Ereignis und dessen Darstellung im Gemälde entspricht genau der inneren Haltung frommen Betrachtens. Das Bild zeigt daher nicht nur den Gegenstand der Andacht, sondern auch deren Vollzug. Es bezieht das meditative Betrachten in die Bildanordnung ein.
Identifikation als Grundmuster
Die Hereinnahme des Betrachters (auch der Hörerin, der Leserin) ist ein Grundelement abendländischer religiöser Kunst. Sie hat die Begegnung mit bildnerischen, musikalischen und literarischen Werken in eine Form persönlicher Andacht überführt. Dieser Bezug zum Werk ist über das explizit Religiöse hinaus zu so etwas wie einem idealen Modell des Umgangs mit Kunst geworden. Sich betrachtend ins bildnerische, musikalische oder literarische Kunstwerk zu versenken und sich dadurch mit ihm zu identifizieren, ist ein kulturell so stark verankertes Muster, dass es auch ohne explizit religiösen Hintergrund funktioniert und unter säkularen Bedingungen weiterlebt.
Gemalte Landschaften als lesbare Lebensräume oder Sehnsuchtsorte zeigen die Identifikation der Betrachter und ihre existentielle Beteiligung am Kunstwerk besonders deutlich. Jan Brueghel der Ältere hat das 150 Jahre nach dem Münchner Meister in einem kleinformatigen Andachtsbild nicht mehr bloss am Rand angedeutet, sondern zum zentralen Thema gemacht. «Der Weg zum Kalvarienberg» zeigt im Mittelgrund Jesus inmitten einer Volksmenge unterwegs zur Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha. Soeben ist er unter der Last des Kreuzes, das er selber tragen muss, zusammengebrochen. Bei ihm steht eine Gruppe trauernder Frauen, von denen – gemäss der Legende – die heilige Veronika ihm jenes Tuch reicht, das später angeblich den Abdruck seines Gesichts zeigen wird, das erste und einzige «Bild» Christi.
Die Gruppe bei Jesus ist wie vom Licht eines Scheinwerfers hervorgehoben, wie überhaupt die ganze Szenerie an ein Theater erinnert. Links im Vordergrund ist das Publikum gruppiert. Es ist nach Art der Brueghel-Zeit gekleidet sowie grösser und in kräftigeren Farben dargestellt, während die Passionsszene «historisch» kostümiert und farblich sowie im Pinselduktus förmlich in die Bühne des Golgatha-Hügels hineingemalt ist.
Vergegenwärtigung als Bildkonzept
Das Bild zeigt zwei Zeiten und zwei Wirklichkeiten und thematisiert so den Begriff der Vergegenwärtigung. Die Landschaft der biblischen Szene ist Schauplatz jenes Geschehens, das nach christlichem Verständnis den Menschen das Heil gebracht hat. Die Figuren sind klar aufgeteilt in Akteure und Zuschauer jenes Weltdramas, in dem Gott sich hingibt, um die Herrschaft von Macht und Tod zu brechen. Die Betrachtung des für die Gläubigen kosmischen Geschehens ist hier unmittelbar zum Bildthema geworden. Mit gestalterischem Raffinement setzt das Bild sich als Medium der Versenkung in Szene. Es zeigt, wozu es dient und was es ist.
Ein Menschenalter nach der ingeniösen Inszenierung des flämischen Katholiken Jan Brueghel in der legendenumwobenen Landschaft des Kalvarienbergs löst sich die Landschaftsmalerei im protestantischen Holland von explizit religiösen Bezügen. Eine hochkarätige Gruppe von Landschaftsbildern aus dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Niederlande bildet einen Schwerpunkt der Ausstellung.
Landschaft pur – mit Hintersinn
Unter ihnen ragt Jacob van Ruisdaels Meisterwerk «Die Bleichen von Haarlem» heraus. Biblische Motive kommen hier nicht vor. Gezeigt wird in dem annähernd quadratischen Hochformat eine offene Landschaft mit flachem Horizont. Über zwei Drittel der Bildfläche füllt der bewölkte Himmel, unter dem der Blick vom leicht erhöhten Standpunkt des Betrachters in eine endlos scheinende Weite reicht.
Das ist nun Landschaft pur. Ruisdael stellt sie nicht in den Dienst einer Dramaturgie und formt sie nicht nach dem Bedarf einer zu erzählenden Geschichte – obwohl auch sein Gemälde einiges zu berichten hat; bloss erzählt es im Unterschied zu Brueghel eine Vielzahl von Begebenheiten und nicht eine einzige, alles entscheidende. So entdeckt man auf den Bleichefeldern zahlreiche winzige Figürchen arbeitender Menschen. Zwei mit Tüchern beladene Kähne sind unterwegs. Am Wegrand im Vordergrund haben sich zwei Männer getroffen. Der eine sitzt und hat ein weisses Blatt vor sich. Es ist ein Künstler, der die Landschaft zeichnet, um sie hernach im Atelier realitätsgetreu malen zu können. Mit dieser beiläufigen Selbstdarstellung gibt Jacob van Ruisdaels dem Betrachter zu verstehen, das Bild sei nach der Natur gemalt. «Nae ‘t leven», hiess das in der zeitgenössischen Kunsttheorie, also: «nach dem Leben» oder, wie wir eher sagen würden, nach der Natur – als Gegenstück zu «uyt den gheest», «aus dem Geist» oder aus der Phantasie heraus gestaltet.
Obschon Ruisdael die Bleichefelder-Szenerie zweifellos «nae ‘t leven» gestaltet hat, handelt es sich nicht um reine Naturmalerei. Ein Hintersinn ist mitgemalt. Religion war im protestantischen Holland nicht weniger selbstverständlich als im katholischen Flandern, nur äusserte sie sich eben anders.
Der mächtige Himmel ist zwar von keinen barocken Engeln bevölkert. Doch eine Botschaft hat allein schon seine Höhe und Weite, welche die Menschlein auf den Feldern sehr klein erscheinen lassen. Rasch wechselndes Licht unter den ziehenden Wolken erinnert an die Unbilden des Wetters und lehrt die Menschen, wie wenig sie ihr Schicksal selbst in der Hand haben. Und doch sind sie es, die selber durch Arbeit ihre Welt gestalten. Sie weben Tuch, das sie zum Bleichen ausbreiten. Sie mahlen Korn in den zahlreich zu sehenden Windmühlen. Und sie bauen die mächtigen Kirchen, die sich mit den Vertikalen ihrer Türme gegen das im flachen Land herrschende Prinzip der Horizontalen stellen. Das ist gemalter Protestantismus, den man in Ruisdaels Landschaft sehen kann – aber nicht sehen muss.
Land des Lichts und der Antike
Eintöniges Flachland und viel nasskaltes Wetter weckten unter niederländischen Künstlern, und nicht nur bei ihnen, den Wunsch nach Licht und Wärme. Er verband sich mit der Verehrung für das Ideal der Antike zu einer veritablen Italiensehnsucht. Von der Dynastie der Brueghels zum Beispiel sind es drei Maler, die sich jeweils länger oder kürzer in Italien aufgehalten und dort gearbeitet haben. Doch auch Künstler, die nie in ihrem Leben südlichen Boden betreten hatten, taten sich verschiedentlich mit Italienbildern hervor. Es herrschte offenkundig rege Nachfrage nach den entsprechenden Stereotypen.
Die nach Italien pilgernden Maler fanden hier eine an die Renaissancekunst anschliessende Barockmalerei, in der Landschaften als emotional aufgeladene Räume erschienen. Die Bilder waren oftmals als biblische Szenerien konzipiert oder durch mythologisch-literarische Referenzen auf die Antike bezogen. Interessanterweise waren es Zugewanderte, die als führende Künstler dieses von Antiken- und Italiensehnsucht gesättigte Genre prägten. Die Franzosen Nicolas Poussin und Claude Lorrain verorteten ihre bukolischen und mythologischen Sujets in Landschaften, die mit ihrem warmen Licht und der nostalgischen Grundierung die Ideale der verbreiteten Italien-Schwärmerei perfekt zum Ausdruck brachten. Vor allem Lorrain, ein Virtuose der Stimmungsmalerei und der landschaftlichen Inszenierung, beeinflusste zahllose Künstler bis weit ins 19. Jahrhundert (vgl. Bild ganz oben).
Dialog über die Jahrhunderte
Der gegenwärtige Sammlungskurator Philippe Büttner, der die Ausstellung gestaltet hat, riskiert den Versuch, die vor 1800 entstandenen Bilder punktuell mit thematisch verwandten Werken des 19. und 20. Jahrhunderts zu konfrontieren. Das gelingt unterschiedlich. Bei den zwei van Goghs und den zwei de Vlamincks bleibt die kunsthistorische Begegnung an der Oberfläche der Sujets.
Ganz anders der markante Einschub im Lorrain-Raum mit einer Werkgruppe von Cy Twombly, dem Triptychon «Goethe in Italy» und einer Schiff-Skulptur.
Nicht nur hat Twombly wie Lorrain viele Jahre seines Lebens in Rom verbracht. Er hat sich in seiner Malerei sowohl mit der Antike selbst wie mit ihrer oft fragmentarischen und doch so wirkmächtigen Präsenz in der Gegenwart befasst. Immer wieder hat er das unter Ablagerungen der Zeiten liegende Vergangene evoziert. Oft ist es in seinen Bildern nur eine Ahnung. Das Palimpsest – so heissen die abgeschabten Pergamente, auf denen entgegen der Absicht ihrer einstigen Wiederverwender ein kostbarer ursprünglicher Text in Spuren noch lesbar ist – hat für Twombly Modellcharakter: Das Wesentliche liegt in den Überresten.
Goethes «Italienische Reise», die aus fast dreissig Jahren Abstand den anderthalbjährigen Italienaufenthalt des Dichters schildert, ist für Twombly eine klärende Referenz für die eigene Liebe zu dem Land. Sie ist ebenso sehr literarisch und kulturell genährt, wie sie den konkreten Gegebenheiten des Alltags gilt, und reflektiert so ein Geschichtsbewusstsein, das auf dem Gefühl einer in Zeitschichten abgelagerten Wirklichkeit beruht.
Mit dem Twombly-Einschub gelingt es der Ausstellung, der Rekonstruktion eines geistigen Prozesses über viereinhalb Jahrhunderte bis 1800 einen Ausblick in die Gegenwartskunst als Post Scriptum anzufügen. Twombly ist in dem Kontext fremd genug, um als Augenöffner zu wirken, und verwandt genug, um den Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung nicht zu verlieren.
Und ein verunglücktes Post-Post Scriptum
Das Kunsthaus Zürich hatte eine Rechnung offen. 2019 erhielt es die Mittel geschenkt für den Ankauf eines angeblichen Tizian, der kleinformatigen «Abendlandschaft mit Figurenpaar». Unglücklicherweise rühmte sich das Haus sogleich, nun in den erlauchten Kreis der Besitzer eines Tizian aufgestiegen zu sein. Nachdem jedoch öffentlich Zweifel an der Echtheit laut wurden, zog das Haus die zuvor behauptete Autorschaft Tizians mit dem Zusatz «zugeschrieben» kleinlaut zurück.
An sich wäre das nicht schlimm, es kommt schliesslich immer wieder vor. Peinlich war nur die Kommunikation: erst auftrumpfen, dann halb zurückkrebsen und schweigen. – Der Kanton Jura und das Musée jurassien d’art et d’histoire haben in einem ähnlichen Fall gezeigt, wie man es besser macht.
War es nun richtig, das Tizian zugeschriebene Bildchen in der Landschaften-Ausstellung zu zeigen? Einerseits ja, da es nach Sujet und Entstehungszeit durchaus in diesen Kontext gehört. Andererseits nein, weil die kleine Ölstudie weder in der thematisierten kunsthistorischen Entwicklung eine bemerkenswerte Position einnimmt noch von der künstlerischen Qualität her in der Liga der gezeigten Bilder spielt. Aus der Sicht des Rezensenten wiegt hier das Nein schwerer als das Ja; er lässt aber die Gründe, das Bild zu zeigen, gelten – allein schon, weil es durch die öffentliche Kontroverse einiges an Aufmerksamkeit bekommen hat.
Was aber stark nach erneutem Fauxpas aussieht, ist der weit ausholende Rechtfertigungsartikel des emeritierten Cambridge-Kunsthistorikers und Tizian-Spezialisten Paul Joannides im Katalog. Bei allem Respekt vor Joannides’ Meriten: Dieser Aufsatz ist ein Machwerk voller Ungereimtheiten. Er erhebt eine kleine Studie in den Rang eines Meisterwerks, obwohl sie bestenfalls gutes Handwerk ist, und er überfrachtet das anspruchslose Werklein mit tiefschürfenden Deutungen, die nur deplatziert wirken. Zudem bietet Joannides ein Sammmelsurium angeblicher Echtheits-Indizien auf, die einem Hobby-Detektiv besser anstünden als einem Wissenschaftler. – Kurz: ein Eigentor des Kunsthauses nach Ende der Spielzeit.
Doch die Nebensache bleibt nebensächlich. Sie vermag den glänzenden Eindruck der klug kuratierten Ausstellung nicht zu schmälern. Philippe Büttner hat einen schönen Beweis dafür geliefert, wie so reich dotierte Sammlungen wie die des Kunsthauses Zürich mit intelligenten Konzepten zur Freude des Kunstpublikums bespielt werden können.
Kunsthaus Zürich: Landschaften – Orte der Malerei, bis 8. November 2020, Katalog erschienen bei Scheidegger & Spiess