«Die grafischen Meisterwerke», so lautet der Untertitel der Zürcher Schau im Jahr des 150. Geburtstags Edvard Munchs (gesprochen: Munk). Dass man sich – mit Ausnahme einer Ölbilder-Ouvertüre aus der reichen Munch-Sammlung des Hauses – in der Ausstellung auf Grafiken beschränkt, hat mit der Knappheit an ausleihbaren Gemälden im Munch-Boom dieses Gedenkjahres zu tun. Und diese Beschränkung erweist sich als Glücksfall.
Druckgrafische Experimente und Expeditionen
Munch hat sich ab 1896 als 33-Jähriger bei seinem zweiten Paris-Aufenthalt die Techniken des Lithographierens, des Radierens und des Holzschnitts angeeignet. Der berühmte Drucker Auguste Clot spielte dabei eine nicht geringe Rolle. Indem er dem Druckgrafik-Autodidakten zur Hand ging, ermöglichte er ihm die erstaunlich rasche künstlerische Beherrschung der «indirekten» Arbeitsweise. Schon nach kurzer Zeit galt der technisch begabte und experimentierfreudige Munch als einer der führenden Meister des grafischen Fachs.
In der Zürcher Schau lässt sich das drucktechnische und gestalterische Experimentieren verfolgen. Die Ausstellung zeigt bei mehreren Sujets unterschiedliche Drucke von derselben Platte sowie verschiedene Zustände eines weiter bearbeiteten Steins oder Druckstocks. Der Farbträger wurde im einen Fall differenziert und variabel eingefärbt, im anderen in Teile zersägt und, mit verschiedenen Druckfarben eingewalzt, wieder zusammengesetzt. Mit solchen Expeditionen in technischem Neuland entstanden manchmal Bildserien, die fast schon als Vorgriffe auf Warhols Factory erscheinen könnten.
Lebenslang entwickelte Motive
Ein serielles Prinzip steckt bei Munch nicht nur in der sukzessiven Weiterverwendung einmal bearbeiteter Platten, Steine und Hölzer. Ebenso sehr leitet es die Entwicklung seiner Schlüsselmotive. Munch bewegt sich mit seiner Kunst ohnehin in einem konstanten Themenfeld rund um Angst und Tod. Und als ob ihm diese thematische Ausrichtung nicht streng genug wäre, verdichtet er seine Themen in beharrlicher Transformation der Sujets zu bildnerischen Erfindungen von elementarer Kraft. Die in langjähriger Arbeit herausdestillierten Motive malt er gelegentlich erst in Öl, greift sie dann als Radierung, Lithographie oder Holzschnitt wieder auf, um sie in einem anderen Medium neu zu gestalten, formal zu reduzieren und ästhetisch zu radikalisieren.
Die norwegische Munch-Spezialistin Gerd Woll hat die umfassende Ausstellung konsequent nach Motiven gruppiert und so deren beharrliche Entwicklung und sich steigernde expressive Ausformulierung eindrücklich sichtbar gemacht. Dabei wird auch ohne weiteres klar, dass die Druckgrafik in Munchs Gesamtwerk in keiner Weise hinter der Malerei zurücksteht. Man bekommt hier den ganzen Munch zu sehen, ja sogar die Essenz seiner Kunst in verdichteter Form.
Die hundertfünfzig gezeigten Drucke entstammen ausnahmslos einer norwegischen Privatsammlung, die in strikter Anonymität verharrt und ihre Schätze in Zürich zum ersten Mal gesamthaft öffentlich präsentiert. Der eingangs konstatierte Glücksfall bezieht sich neben dem Erlebnis, ein eminentes Œuvre als Work in Progress sehen zu können, auch auf den repräsentativen Charakter der Sammlung. Zudem zeichnet sich die Zürcher Ausstellung aus mit durchwegs exzellenter Qualität der Drucke und einer ausgesucht schönen Präsentation in kostbar-schlichten Rahmen auf dunkel getönten Wänden.
Lebensdramen und Zeitstimmung
Die Düsternis von Munchs Motivik erklärt sich mindestens zu Teilen biografisch. Er verlor als Fünfjähriger seine Mutter und musste den frühen Tod seiner älteren Schwester Sophie mit ansehen. Seine jüngere Schwester und er selbst waren wegen Depressionen in Behandlung. Sophies Sterben verarbeitet er im Motiv «Das kranke Kind», dem er 1885 erstmals Gestalt gibt und das in fünf schönen und anrührenden Realisationen aus den Jahren 1894 bis 1896 zu sehen ist. Munch neigte zeitlebens zu Schwerblütigkeit, durchlitt persönliche Katastrophen, erlag der Trunksucht und galt als schwieriger Charakter.
Doch nicht nur eigene Lebensumstände, sondern auch eine zum Tragischen neigende kulturelle Grosswetterlage spiegelt sich in seinem Schaffen. Munchs Landsmann August Strindberg und der Schwede Hendrik Ibsen – beider Porträts sind ausgestellt – sind die grossen Dramatiker seelischer Abgründe und gesellschaftlicher Doppelbödigkeit. Mit ihnen steht Munch in einem Netz der Korrespondenzen, das so unterschiedliche Figuren einbezieht wie Friedrich Nietzsche, Sören Kierkegaard, Emanuel Swedenborg, Sigmund Freud und so ungleiche Phänomene wie geistige Umwälzungen, Wertekrise, Okkultismus, Mystik, Psychoanalyse, dämonisierte Sexualität.
Ein Moderner des 19. Jahrhunderts
An diesen Koordinaten ist unschwer abzulesen, dass der obige Vergleich mit Andy Warhol, so reizvoll er sein mag, auf beiden Beinen hinkt. Der zwei Generationen jüngere Mitbegründer der Pop-Art verstand seine serielle Arbeitsweise als Entsprechung zur industriellen Warenwelt. Nicht wie bei Munch das Ringen um eine dichte, elementarisierte Expression existenzieller Leidenserfahrung trieb den Popkünstler an, sondern eine spielerisch-entspannte Aufdeckung des durchgängigen Warencharakters spätindustrieller Zivilisation. Warhol hat nicht gelitten, sondern Spass gehabt. Seine heitere, die Oberflächen feiernde Kunst ist nur beiläufig – eigentlich fast unabsichtlich – entlarvend. Warhols serielle Bilder beruhen auf Repetition und regelhafter, quasi automatisierter Variation. Ihr Kunstcharakter steckt im Prinzip der Serie.
Munchs Kunst könnte man statt entlarvend eher bohrend nennen. Entspannt ist sie nie, heiter kaum jemals. Seine Motivserien entstehen als Folge eines nicht endenden Kampfs um den adäquaten Ausdruck. Wichtig ist die Serie bei ihm allenfalls zum Verständnis des Schaffensprozesses; für das einzelne Bild spielt sie jedoch keine Rolle. Das einzelne aus dem Gestaltungs- und Druckprozess hervorgegangene Blatt sagt immer schon alles. Sein Kunstcharakter steckt im Prinzip des Unikats. Zwar ist die handwerkliche Entstehung an ihm ablesbar. Sie zeigt sich an deutlich sichtbar übereinander gedruckten Farben, zugefügten Kolorierungen, Maserungen des Holzes und an erkennbaren Ritz- oder Schnittspuren des Farbträgers. Trotzdem ist jeder Druck, auch wenn er in mehreren Abzügen existiert, ein fertiges, in sich geschlossenes Werk. Anders als die seriellen Marilyns und Campbells lebt ein Munch-Druck nicht von der Reihe, in der er steht. Munchs Bildwerke bleiben bei sich. Seine Kunst gehört, obschon er bis 1944 lebte, zur Moderne des neunzehnten, nicht des zwanzigsten Jahrhunderts.
Arbeit an der Form
So spannend und aufschlussreich die Motiventwicklung auch ist: Die Gehalte von Munchs Kunst sind je im einzelnen Artefakt zu entschlüsseln. Die Themen liegen offen zutage: dämonisierte Weiblichkeit, bedrängender Eros, qualvolle Geschlechterbeziehungen, Einsamkeit, existenzielle Angst, Leere, Verzweiflung, Vergänglichkeit, Tod – Munchs lebenslange Traumata.
Entscheidend ist nun aber, welche künstlerische Aussage er durch die Auseinandersetzung mit der existenziellen Problematik hervorbringt. Indem er Bildideen für das Traumatische formuliert und diese bis zu einem visuellen Zustand ikonenhafter Zeichen aggregiert, bannt er das Übermächtige. Die Ängste finden ihren Ort und bekommen eine beständige, ja eine geläuterte Gestalt und Form. Munch arbeitet an ihnen so, dass die Darstellungen seiner existenziellen Kämpfe wahr bleiben, aber schön werden. Das ist es, was seine Kunst leistet.