Soglio, eine Perle hoch über dem Bergeller Tal. Hier lebt und arbeitet der Architekt Armando Ruinelli mit seinem Team seit vierzig Jahren. Eine Monografie dokumentiert seine verblüffenden Eingriffe und Transformationen in einem sensiblen Gefüge.
Auf der Anfahrt ins Bergell taucht man gleich doppelt in eine eigene Welt. Zunächst wird man durch den jähen Abbruch nach dem Malojapass überrascht, wo die Strasse kurvenreich im engen Tal verschwindet. Ebenso plötzlich auch die kulturelle Ausrichtung nach Italien, welche die kleinen Dörfer von den üblichen Bergsiedlungen nördlich der Alpen unterscheidet. Soglio, auf einer Schulter gelegen, ist mit den engen Gassen, der markanten Kirche an der Geländekante und dem gewaltigen Palast der Salis das dominierende Dorf im Tal.
Eine Bauvorschrift verlangt die Bedachung mit Granitplatten – ein Fest für das Auge! Wer aber hier architektonisch gestalten möchte, sieht sich eingezwängt zwischen nostalgischen Erwartungen von Einheimischen und noch vielmehr von Zugezogenen sowie den Anforderungen der Denkmalpflege.
Für den aus dem Dorf stammenden Armando Ruinelli war genau diese Konstellation reizvoll. Er bildete sich als Hochbauzeichner aus, doch das genügte ihm nicht. Weitgehend autodidaktisch fand er zur Architektur. In der nun vorliegenden Monografie erwähnt er augenzwinkernd, eine Mauer, die der Gemeindepräsident wünschte, sei eines seiner ersten Werke gewesen. Inzwischen sind alleine in Soglio rund 15 Projekte – Neu- und Umbauten, Renovationen und ein Brunnen – realisiert worden. Daneben entstanden im Tal weitere Einfamilienhäuser, eine Schreinerei, eine Mehrzweckhalle und ein Wohnatelier. Nur gerade drei Entwürfe auf Ruinellis Werkliste beziehen sich auf Vorhaben ausserhalb seiner engeren Heimat.
Was es bedeutet, hier zu bauen, demonstrierte Ruinelli mit dem eigenen Atelier und dem daran anschliessenden Eigenheim. Im Dorf ist alles gefüllt, vielfach durch Gebäudegruppen von Wohnhäusern in Massivbauweise und Schuppen aus Holz, die für die Unterbringung von Kleinvieh und als Werkstätten dienten. Wer hier etwas Neues planen möchte, sieht sich mit etlichen Sachzwängen konfrontiert. So gibt es in Bezug auf Grundrissfläche und Gebäudehöhe sowie auf die Art der Bedachung keine Freiheiten.
Die eigene Handschrift muss sich somit auf die Materialität, auf Detaillösungen, auf Fensterordnungen konzentrieren, und diesbezüglich ist das, was das Team von Ruinelli geleistet hat, einzigartig. Das Atelier, eingezwängt zwischen höheren Gebäuden, hat zwei Ställe ersetzt. Als Fassadenverkleidung kam das Holz der in dieser Gegend geradezu lebenswichtigen Kastanie zur Anwendung. Was so minimal im Äussern erscheint, entpuppt sich im Innern als recht helles und weiträumiges Büro ohne Trennwände. Die traditionelle Werkstätte erfährt hier eine zeitgemässe Neuinterpretation.
Einige Jahre nach dem Atelierbau erhielt Ruinelli die Chance, das daran angelehnte Haus für sich zu erwerben. Es befand sich in einem derart desolaten Zustand, dass nur ein Neubau in Frage kam. Auch hier würde man von aussen kein modernes Bauwerk vermuten, doch das Innere zeugt von veränderten Raumbedürfnissen. Wohn- und Essraum befinden sich nicht wie in den traditionellen Häusern im Erdgeschoss, sondern unter den Schrägen des Satteldaches. Ein grosses Fenster und ein schmaler Balkon mit einer filigranen Metallbrüstung ermöglichen den Blick auf die sagenhafte Bergkulisse.
Höhepunkt von Ruinellis Auseinandersetzung mit der gewachsenen Siedlungsstruktur sind drei Gebäude am oberen Rand des Dorfes, die von einem in New York tätigen Fotografen in Auftrag gegeben wurden. Statt eines einzigen Blocks, mit dem die beträchtlichen Raumwünsche hätten befriedigt werden können, entschied sich Ruinelli für die Aufteilung in zwei Einheiten, die in Anlehnung an die zwei vorherrschenden Bautypen unterschiedlich verkleidet wurden. Die eine erhielt eine Holzverschalung, die andere wurde verputzt. Die Verbindung der beiden Häuser schafft, von aussen unsichtbar, das unterirdische Atelier.
Ruinellis Entscheidung gegen einen einzigen Trakt fusst auf dem für ihn wichtigen Begriff der Massstäblichkeit, mit dem «ein ausgeglichenes Grössenverhältnis angestrebt (wird), also ein Gleichgewicht zwischen Strasse, Gebäude und freien Flächen». Das könnte man als eine Haltung der Ehrfurcht vor dem Gegebenen bezeichnen, die sich jedoch nicht den Monumenten der Vergangenheit unterwirft.
In unmittelbarer Nachbarschaft der erwähnten Gebäude richtete Ruinelli in einem aufgegebenen Stall eine Wohnung ein, wobei lediglich drei Werkstoffe verwendet wurden: rohe Eiche für Böden, Decken und Täfelung, Stampfbeton mit groben Kieseln für Raumteiler, Glas für die Fenster, die teilweise mit beweglichen, massiven Eichenlamellen kaschiert sind. Damit ist die Transformation des Stalles von aussen kaum zu erkennen.
Was so einfach aussieht, beruht auf einer schon fast besessen zu nennenden Entwurfsarbeit und auf akribischem Handwerk. Das bedeutet, dass solche Umbauten nicht kostengünstig zu realisieren sind. Dass Ruinelli aber auch für Auftraggeber mit bescheidenem Budget planen kann, beweisen eine unscheinbare Schreinerei in Spuno wie auch die Mehrzweckhalle im Promotogno. Und wer sich mit seiner Architektur in Soglio vertraut gemacht hat, wird im nüchternen, schmucklosen Betonblock in Stampa, den sich die international renommierte Künstlerin Miriam Cahn als Wohnatelier gewünscht hat, kaum die Handschrift von Ruinelli vermuten.
Eine Arbeit, die ihm besonders ans Herz gewachsen ist, kann nur bedingt als architektonisches Werk aufgefasst werden. Es sind zwei lange, schmale Brunnentröge aus schwarz eingefärbtem Beton, die im Friedhof für eine moderne Art des Trauerns und Erinnerns stehen. Auf dem Boden der mit Wasser gefüllten Tröge sind einfache Plaketten aneinandergereiht, die nach und nach mit den Namen von Verstorbenen beschriftet werden.
Ein minimalistisches Element im Friedhof und doch von komplexer Symbolik: Die beiden Brunnentröge können als Visier für die Fokussierung auf den Berghorizont dienen. Sie weisen über den Dorfrand hinaus und transzendieren zur alles bergenden Landschaft. Schliesslich spiegelt sich im Wasser der Himmel, der sich über Lebende wie Tote ausbreitet. Was Ruinelli mit tiefer Genugtuung erfüllte, war der Wandel, der in der Reaktion der Bevölkerung zu beobachten war: Die anfängliche Skepsis wich zunehmend einer überzeugten Bejahung dieser für sie unkonventionellen Gestaltung.
Der Titel der Monografie «Leggere il tempo», die Zeit lesen, fasst prägnant Ruinellis Anliegen zusammen. Steht eine Aufgabe an, folgt ein vielschichtiges Befragen. Dazu gehört nicht nur die Analyse der Umgebung und der Landschaft, sondern auch das Gespräch mit all den Personen, die von einem neuen Objekt betroffen sind. Das ist mitunter ein politischer Prozess, allerdings einer ohne vorgegebene politische Richtung.
Drei Gespräche sind in die Präsentation von 17 Entwürfen eingefügt. Eines davon fand mit Gion Caminada statt, der in Vrin eine ähnliche Strategie verfolgt wie Ruinelli in Soglio. Man könnte auch Giorgio Guscetti hinzufügen, der in der Leventina Tradition mit Moderne versöhnt. Die Publikation lenkt den Blick von den Zentren auf das anspruchsvolle Bauen an der Peripherie. Das ist notwendig, wenn man das Feld nicht denjenigen überlassen möchte, die sich heutige alpine Architektur nur im Swiss-Chalet-Stil vorstellen können.
Axel Simon (Hrsg.): Leggere il tempo. Armando Ruinelli Architetti Architekten. Progetti Bauten 1982–2022, Park Books, Zürich, 2023