Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, als ich auf einer Wanderung hoch über dem Rheintal in Trun, dem Etappenziel, in der Ferne eine eigenartige Anlage entdeckte. Das Objekt verleitete meine Frau zur Vermutung, es könnte sich um eine Kläranlage handeln. Als ich dann unmittelbar davor stand, war mir immer noch unklar, was sich hinter den Betonschalen verbarg. Vielleicht ein Nutzbau der Gemeinde?
Eine Stele mit einer knappen Inschrift lüftete das Geheimnis. Ich stand vor einer «begehbaren Skulptur» mit dem Titel «Ogna». Laut Eintrag in www.ogna.ch handelt es sich sogar um die grösste begehbare Skulptur der Schweiz. Der Titel bezieht sich auf den Namen des Grundstückes, auf dem das Werk steht.
Die Dimensionen sind in der Tat beachtlich. Durch das gegenseitige Verschieben der Kreishälften misst die geometrische Grundrissfigur 48 Meter in der Länge und 30 Meter in der Breite. Die fünf Meter hohen und vollkommen schmucklosen Betonschalen verhindern einen Blick in das Innere. Man muss das Werk umschreiten, um auf der Rückseite eine Lücke zu entdecken, die das Betreten des Hofes erlaubt. Und da präsentiert sich ein völlig anderes Bild. An den Wänden sieht man grossformatige einfache Malereien, reduziert auf schwarze und weisse Flächen. Ergänzt werden diese durch zwei freistehende, stelenartige Skulpturen und eine aus einer Malerei herausragenden Form. Einfache Sitze aus Beton laden die Besucher und Besucherinnen zum Verweilen ein.
Matias Spescha, gebürtig aus Trun, plante dieses Werk als sein Vermächtnis. Es fasst sein lebenslanges Suchen nach der reinen Form im Zwei- wie im Dreidimensionalen zusammen. Modell und Skizzen waren vorhanden, als Spescha 2008 verschied. Zusammen mit den Erben trieb die Gemeinde Trun das Vorhaben weiter, und dank der Stiftung Ogna wurde auch die Finanzierung gesichert. Für die Herstellung der Ausführungspläne und für die Bauleitung war das Architekturbüro Vincenz+Weishaupt architects AG verantwortlich. Am 4. Mai 2013 fand die feierliche Eröffnung statt.
Beeinflusst vom abstrakten Expressionismus
Spescha hatte nach einer Schneiderlehre zunächst als Plakatmaler für das Kino Corso in Zürich gearbeitet. 1954 bis 1958 lebte er in Paris und bildete sich zum freischaffenden Künstler aus. Ab 1958 pendelte er zwischen Bagnes in Südfrankreich und Zürich. Eine wichtige Inspirationsquelle war die Bewegung des abstrakten Expressionismus, der seine künstlerische Sprache in den zahlreichen Raumgestaltungen und ab den 70er-Jahren in den Skulpturen deutlich beeinflusste.
Was ist nun Ogna? Es drängt sich der Begriff «Gesamtkunstwerk» auf. Seit der Eröffnung finden im Hof Konzerte und weitere kulturelle Veranstaltungen statt. Es besteht sogar die Möglichkeit, das Monument, dessen Hof bis 250 Personen aufnehmen kann, für eigene Projekte zu mieten. Ogna erinnert wohl nicht zufällig an einen Kultort, der sich aber jeglicher konfessioneller Einengung verweigert. Man muss dabei unweigerlich an die von Mark Rothko geplante und mit seinen Malereien ausgestattete Kapelle in Houston denken, die im Grunde ein visueller Erlebnisraum ist. Speschas Wandmalereien für Ogna gemahnen an einen anderen grossen Vertreter des abstrakten Expressionismus, an Barnett Newman. Dieser hatte selbst keinen permanenten Kunstraum geschaffen, war aber fähig, jede Galerie zu einem solchen umzugestalten.
Notwendige Zwecklosigkeit
Auch wenn die architektonische Sprache eine ganz andere ist, so müssen in diesem Zusammenhang auch die Kirchen von Walter M. Förderer genannt werden, die für ihn lediglich Annäherungen an sein Ideal waren, nämlich Gebilde von notwendiger Zwecklosigkeit zu schaffen. Eine ganz eigene Verbindung von Hülle und Inhalt wagte Erwin Heerich mit seinen geometrischen Gefässen, die zum grossen Areal des Museums Hombroich gehören. Zwar muss hier eine Schranke durchschritten werden, doch danach gibt es keine Schwellen. Zudem sind die einzelnen Stationen wie in Trun unbeaufsichtigt.
Ogna ist eines der zahlreichen architektonisch bemerkenswerten Objekte, die Graubünden zu einem Hotspot spezieller Baukunst werden liessen. Ein mit Ogna vergleichbarer Eingriff sind die von Jürg Conzett entworfenen Brücken oberhalb von Flims am Wanderweg entlang des Flusses Flem. Es sei zudem auf die originelle, 2009 erschienene Publikation «Himmelsleiter und Felsentherme. Architekturwandern in Graubünden» verwiesen, in der verschiedene Wanderrouten zu architektonischen Artefakten vorgeschlagen werden. Der Begriff «Himmelsleiter» bezieht sich auf den Glockenträger der Kapelle Sogn Bendetg von Peter Zumthor, der mit diesem 1988 vollendeten Bau so etwas wie die Inkunabel der aktuellen Bündner Architekturlandschaft entworfen hat – auch dies ein Gebilde von «notwendiger Zwecklosigkeit».