In Ambri Sotto trifft man auf eine spezielle Gebäudegruppe – bestehend aus drei Einfamilienhäusern, einer Garage und einem Atelier –, die architektonisch an die Sprache von Frank Lloyd Wright erinnert. Marcel Just, der in den vergangenen Jahren unentdeckte Juwelen des Neuen Bauens aufsuchte und für Publikationen aufbereitete, richtete 2016/17 zu diesen Häusern in der Leventina zunächst in Stans, dann in Biasca eine ausgesprochen interessante Ausstellung ein. Sie machte die Namen der Entwerfer auch nördlich der Alpen bekannt: die Gebrüder Alberto und Aldo Guscetti, jener Ingenieur, dieser Architekt, die 1953 in Ambri ein Büro eröffneten und hier zur damaligen Zeit ungewohnte Einfamilienhäuser errichteten. Aldo Guscetti zog 1960 nach Minusio, während der Bruder Alberto weiterhin in Ambri tätig war.
In unmittelbarer Nähe der Garage mit dem kühn auskragenden Dach und dem Wohnhaus von Alberto Guscetti entstand 1958 dessen Atelier, wo fortan insbesondere Ingenieurprojekte entwickelt wurden. 1981 trat der als Architekt ausgebildete Sohn Giorgio in das Team ein. Ab 1998 war er für die Architekturabteilung verantwortlich, während die Ingenieurarbeiten von Raul Reali betreut wurden. In der Zwischenzeit hatte Giovanni Guscetti, der Sohn von Aldo, das Büro in Minusio übernommen. In Veröffentlichungen wird nicht überall klar zum Ausdruck gebracht, dass es sich um zwei verschiedene Teams handelt, die voneinander unabhängige Projekte umsetzen.
Im Stillen und von den grossen Medien kaum zur Kenntnis genommen, setzte Giorgio Guscetti insbesondere zwischen Airolo und Faido bemerkenswerte architektonische Meilensteine, die es verdienen, etwas näher vorgestellt zu werden. Es ist offensichtlich, dass der Baumeister bis anhin wenig Interesse hatte, sein Gesamtwerk an die grosse Glocke zu hängen. Gleichwohl wäre es ein Gewinn insbesondere in Bezug auf die Rezeption der neueren Tessiner Architektur, wenn sein Schaffen in einer Monografie einem breiteren Kreis zugänglich gemacht werden könnte.
Soeben vollendete Giorgio Guscetti neben dem alten Sitz des Büros in Ambri einen Neubau, der durch eine Betonmauer mit jenem verbunden ist und ein fast klosterähnliches Ambiente generiert. Während der Altbau die Faszination für die innovative amerikanische Kultur der 1950er bezeugt, knüpft das neue Atelier an die traditionelle Bauweise der Leventina an, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick deutlich ist.
Die alten Häuser bestehen – und das ist dem Einfluss der Walser zu verdanken – aus einem in Stein errichteten Sockel und einer darauf gesetzten Holzkonstruktion. Dieses System ist auch im neuen Atelier nachzuweisen mit dem Erdgeschoss aus einem eingefärbtem Beton und dem kristallin geschnittenen Aufbau aus Holz. Die Symbiose seiner Entwürfe mit der Kultur und der Landschaft in der Leventina ist für Giorgio Guscetti ein zentrales Anliegen, ohne jedoch einem falsch verstandenen Heimatstil zu verfallen.
Der kastellartige Bau im Zentrum von Airolo, der ein Parkhaus und verschiedene Läden aufnimmt, zitiert die in alpinen Dörfern häufig anzutreffenden Adelshäuser, die ihre Bedeutung durch Türme markieren. Auf der Alp Cadagno dienten zwei aufgegebene längliche Ställe für die Einrichtung eines von der ETH Zürich betriebenen Forschungszentrums. Die Bruchsteinmauern samt Schieferdächern blieben erhalten, während das Innere im Sinne der Neuen Einfachheit schnörkellos designt wurde.
Nur wenige hundert Meter davon entfernt erhebt sich die von Giorgio Guscetti erweiterte Capanna Cadagno. Er stülpte gleichsam die Form einer breit ausladenden Hütte aus Bruchsteinen über den alten Kern. Mit viel Holz stattete er Aufenthalts- und Schlafräume aus. Die Capanna Cadagno spricht die Sprache der anonymen alpinen Architektur, ist aber zugleich ein unverwechselbares Dokument zeitgenössischer Architektur.
In Quinto sind die Spuren der Arbeit von Giorgio Guscetti besonders zahlreich. Am südöstlichen Ortsrand bilden fünf Einfamilienhäuser – mit Baujahr 1984 eines der frühesten Werke – eine geschlossene Gruppe, die einem anderen Typus der Leventina verpflichtet sind. Zwischen massiven seitlichen Mauern ist eine Holzkonstruktion eingelassen, was man in Nutzgebäuden sowohl in den Dörfern wie auch weit verstreut an den Hängen nachweisen kann.
Am nordöstlichen Rand von Quinto trifft man auf zwei Einfamilienhäuser, von denen das eine neu geplant wurde, während das andere eine Erweiterung eines schon bestehenden ist. Beide nehmen die vertraute Silhouette mit Giebeldach auf, verzichten aber auf jegliche Auskragungen. Es sind geometrisch präzise geschnittene Baukörper, deren Kennzeichen der Zweiklang von Bruchstein und Holz ist.
Im Dorfzentrum hingegen befreite Guscetti ein für den Hauptplatz wichtiges altes Gebäude von der Fassadenverkleidung, um die Holzkonstruktion wieder sichtbar zu machen. Ähnlich wie in etlichen Werken des italienischen Architekten Carlo Scarpa, eines wichtigen Vorbildes für Guscetti, wurde das Innere, da es nicht mehr zu retten war, entkernt, um eine Art eigenständige Box einzustellen. Zwischen dieser und der Dorffassade besteht ein Zwischenraum, der ehrlich zu erkennen gibt, dass hier ein Dialog von Alt und Neu gewagt wurde.
Im Skigebiet Cari auf 2000 m ü. M. wurde das Modell Walserhaus an einem Grossprojekt getestet. Das grosszügige Restaurant setzt sich aus dem hangwärts mit Bruchsteinen verkleideten Massivteil und dem zum Tal gerichteten Aufbau aus Holz zusammen. Davor breitet sich eine Terrasse aus, die in etwa die Grundfläche des Restaurants aufweist und eine der herrlichsten Aussichten auf die Leventina anbietet.
Zwischen Ambri und Varenzo fällt ein hoher Turm mit einer gekrümmten Schale auf, die auf drei lotrecht gesetzte Wände gelegt ist. Es handelt sich um eine Kletterhalle, deren Umrisse einerseits die schroffen Bergspitzen, welche das Tal rahmen, nachahmen, andererseits die Bäume in diesem Naturpark zitieren. Auch bei einem Einfamilienhaus in Dalpe lässt sich formal eine Verbindung zwischen dem Bau und der Bergkulisse erkennen. Aus dem steilen Gelände ragt eine Art Keil heraus, der talwärts leicht gebogen ist und drei Stockwerke umfasst, während er hangwärts auf ein Geschoss reduziert ist. Die stark ansteigende Dachschräge erlaubt die Erweiterung des Volumens auf der Talseite.
In nächster Zeit wird das Büro Guscetti mit der Optimierung der Verkehrssituation am Südportal im Hinblick auf den Bau der zweiten Gotthardröhre beschäftigt sein. Somit bleibt der Beitrag von Architekten an der Ausgestaltung der Autobahnen weiterhin erwünscht, so wie dies in den 1980er Jahren der Fall war, als Rino Tami die unverwechselbaren Portale zwischen Airolo und Faido entwarf. Als eine Art Hommage an den Altmeister setzte sich Guscetti dafür ein, das bestehende Gotthard-Südportal auch für die zweite Röhre zu benutzen.
Im neuen Atelier in Ambri ist die gesamte Stirnseite in Glas aufgelöst. Der Blick schweift auf die Ebene mit dem Flugplatz über die Dörfer am Hang bis zur Krete hinauf, welche die Leventina von der Alpe Piora trennt. Unübersehbar ist das neue Eishockeystadium von Mario Botta, das auch als Flugzeughangar gelesen werden kann. Giorgio Guscetti entwickelte 2005 ein eigenes Projekt, das zumindest auf dem Papier wesentlich attraktiver erscheint. Er hatte eine gerundete und transparente Hülle vorgeschlagen, die an einen Eisblock erinnern sollte. Es wäre für den HC Ambri-Piotta eine weitaus adäquatere Visitenkarte gewesen.