Mit seinen Stoffen hat er über Jahre und Jahrzehnte gerungen. In Bildern, Dramen und Erzählungen haben sie langsam ihre Form bekommen. Am Malen und Schreiben hat sich Dürrenmatts Genie entzündet. Eine neue Edition geht dieser einzigartigen Verbindung nach.
Nachdem der Konolfinger Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) sein Philosophiestudium an den Nagel gehängt hatte, war er zunächst unschlüssig, ob er Maler oder Schriftsteller werden sollte. In einem plötzlichen Entschluss, von dem er selbst fast überrumpelt war, schlug er den Weg zur Schriftstellerei ein. Doch auch als Dramatiker und Schriftsteller von Weltgeltung hat er zeitlebens intensiv gemalt und gezeichnet. Sein bildnerisches Werk ist im Centre Dürrenmatt im Vallon de l’Ermitage hoch über Neuchâtel eindrucksvoll dokumentiert.
Dürrenmatt hat nie eine Ausbildung in bildender Kunst genossen und sich immer als einen Autodidakten gesehen. Seine bildnerischen Arbeiten hat er oft verschenkt, nie verkauft. Wenn er sagte «Ich bin kein Maler», so tat er dies ohne Koketterie; doch zu den Hobbykünstlern zählte er gewiss auch nicht.
Wie Bildnerei und Schriftstellerei bei ihm zusammenhingen, deutet seine Selbstbeschreibung als «dramaturgischer Zeichner» an. Tatsächlich hat er seine Dramenstoffe malend und zeichnend entwickelt. Alles, womit er sich denkerisch beschäftigt hat, erscheint bei ihm sowohl im Bild wie im Text. Die beiden Arten des künstlerischen Ausdrucks sind im gesamten Lebenswerk auf einzigartige Weise miteinander verflochten und aufeinander bezogen.
Dürrenmatts Œuvre ist beispielhaft dokumentiert. Indem der Schriftsteller zu Lebzeiten seinen Nachlass der Schweizerischen Nationalbibliothek vermachte, gab er den Impuls zur Gründung des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA). Für die Erhaltung des bildnerischen Werks sorgte Dürrenmatts Witwe Charlotte Kerr, die der Eidgenossenschaft das Neuenburger Anwesen unter der Auflage übereignete, dieses als Museum auszubauen. Mario Botta gestaltete in der Folge das Centre Dürrenmatt, das im Jahr 2000 eröffnet werden konnte.
Im Kontext des hundertsten Geburtstags Dürrenmatts im vorvergangenen Jahr entstanden zwei grosse posthume Editionen. Die erste ist die fünfbändige Ausgabe des zuvor weitgehend unbekannten literarischen Spätwerks mit dem Titel «Stoffe». Sie wurde unter Kundigen als Sensation begrüsst. Ein zweites grosses Projekt kam kürzlich zum Abschluss. Es wertet die bildnerische Hinterlassenschaft aus.
Dürrenmatt war nicht einfach ein Doppeltalent. Die gibt es in der Schriftstellerei übrigens erstaunlich oft. Er war vielmehr ein Stoffe-Erfinder, bei dem das Hin und Her zwischen den zwei Arten der Imagination, dem Schreiben und dem Bildnerischen, eine Stimulation der Kreativität bewirkte.
In manchmal Jahrzehnte dauernden Reifungsprozessen entstanden aus solchen Befruchtungen seine literarischen Motive, seine Dramen und seine thematisch breit gefächerten Reflexionen. Es lag daher nahe, Dürrenmatts Bildproduktion nach deren Themen zu befragen und die Bezüge zum literarischen Schaffen herauszuarbeiten.
Als Ergebnis solcher Befragungen liegt jetzt die dreibändige Ausgabe «Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt – Das bildnerische und literarische Werk im Dialog» vor. Madeleine Betschart, Direktorin des Centre Dürrenmatt, und Pierre Bühler, emeritierter Theologieprofessor und profunder Dürrenmatt-Kenner, haben die Edition betreut.
Zehn Autorinnen und Autoren legen 17 thematische Schneisen durch Dürrenmatts Kosmos. Sie behandeln unter anderem das Motiv des Kreuzes, die astronomischen Ausblicke, die mythische Gestalt des Minotaurus, das grosse Festmahl, das Auftreten von Rebellenfiguren, Engel und Teufel als Figurationen des Guten und des Bösen.
Die knapp gehaltenen Essays sind jeweils in Deutsch und Französisch präsentiert. Sie stellen die besprochenen Bilder in biographische und werkgeschichtliche Kontexte und erzeugen dadurch – erstmals in dieser systematischen Weise – eine Sicht auf das integrale Werk des malenden Schriftstellers.
Die in ausgezeichneter Qualität in der Regel ganzseitig abgebildeten Malereien und Zeichnungen machen «Wege und Umwege» nicht zu einem Dürrenmatt-Katalog. Die Auswahl will nicht das Œuvre repräsentieren, sondern ist konsequent auf die einzelnen Essays bezogen – so konsequent sogar, dass die Bildtafeln sich in den drei Bänden zum Teil wiederholen. Dennoch hat man auch ein Bilderbuch vor sich, das einem die Imaginationen Dürrenmatts eindrücklich vor Augen führt.
Bei allen Qualitäten der «Wege und Umwege» ist es nicht ganz leicht zu sagen, worauf der Fokus des aufwendigen Projekts gerichtet ist und wer dessen Adressaten sind. Weder handelt es sich um eine literatur- noch um eine kunstwissenschaftliche Publikation. Für ein breiteres Publikum wiederum dürfte sie, auch wenn die Texte sich um allgemeine Verständlichkeit bemühen, vermutlich zu speziell und – allein schon wegen des Umfangs – zu ambitioniert sein.
Hinzu kommt, dass Dürrenmatts Werk trotz seines unbestrittenen Ranges doch ziemlich an öffentlichem Interesse verloren hat. Seine Stücke werden kaum noch gespielt, der schwere Tritt seiner Diktion ist in der Literaturhistorie verhallt. Wer ihn liest, stösst zwar auf Substanz mit Ecken und Kanten, zählt aber zum kleiner werdenden Kreis der Eingeweihten, die mit Friedrich Dürrenmatt mehr verbinden als den Namenspatron eines SBB-Zuges auf der Jura-Südfuss-Strecke.
Vielleicht darf man den intellektuellen Aufwand, der in die drei Bände gesteckt wurde, als Investition in eine irgendwann zu gewärtigende Wiederentdeckung Dürrenmatts betrachten. Gerade die Zusammenschau von Bildthemen und literarischen Motiven gibt den Blick frei auf die unverbrauchte Kraft dieses Werks.
Madeleine Betschart & Pierre Bühler (Hg.): Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt. Das bildnerische und literarische Werk im Dialog, Steidl / Diogenes / Centre Dürrenmatt Neuchâtel, 2021/2022, 3 Bde., deutsch/französisch