Das Ende des Weströmischen Reiches 476 n.Ch. war nicht Zusammenbruch, sondern Erschöpfung. Erschöpfung von all den Kriegen, Intrigen, Ehrgeiz und Verrat, der in einem langen, müden Seufzer enden musste. Dem Seufzer des letzten weströmischen Kaisers Romulus, seines Zeichens Hobby-Hühnerzüchter und Philosoph. So jedenfalls sah es der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt vor rund 70 Jahren.
Wenn dann die Germanen da sind ...
Geradezu prophetisch beschwor Dürrenmatt in seinem „Romulus der Grosse“ die Folgen von jahrhundertelangem Machtmissbrauch und Gleichgültigkeit der Mächtigen gegenüber dem Volk und der warnenden Intelligenzia des angeschwollenen Riesenreiches. Diese Folgen kumulieren bei Dürrenmatt am römischen Hofe, im Landsitz des Kaisers nahe Roms, den er seit seiner Ernennung nie mehr verlassen hat. Der von dort, quasi aus der Idylle heraus, das Reich regiert oder auch nicht regiert, seine geliebten Hühner züchtet, sich an deren Eiern delektiert und kampflos auf die Ankunft der Germanenhorden wartet. „Wenn dann die Germanen da sind, sollen sie hereinkommen.“
Gegenüber allen Vorhaltungen seiner ihm noch verbliebenen engeren Umgebung, Frau, Tochter, Minister und Diener, bleibt er standhaft bei seinem Entschluss, kampflos aufzugeben. Auch die Ankunft von Zenon, des geflüchteten oströmischen Kaisers, vermag ihn nicht umzustimmen: „Man setzt eine Welt nicht in Brand, die schon verloren ist.“
Warnung im Narrenkleide
Befragt, was denn nun sein eigentliches Ziel sei, antwortet Romulus: „Ich möchte die Weltgeschichte nicht stören.“
Was für ein Satz! Dass ein solcher Plot, wie wir es neudeutsch nennen, an heutige Zustände denken lässt und deren Aktualisierung geradezu aufdrängt, liegt auf der Hand. Unser Wissen um die heutigen Riesenreiche Amerika, Russland oder China und andere lässt den Hohn in den Dürrenmatt’schen Sätzen noch deutlicher hervortreten. Gnadenlos nahm der damals noch junge Autor aber auch das hierzulande so gern praktizierte Pathos von Authentizität und Verteidigung der kulturellen Werte aufs Korn: Ironie und Gelächter, aber vor allem auch Warnung, die im Narrenkleide daherkommt. Wie sagte er vor 70 Jahren schon wieder? „Kultur ist keine Ausrede.“
Dürrenmatt und Basel
Das inzwischen wohl in ganz Europa berühmte Stück wurde 1949 nicht etwa in Zürich oder Bern, sondern im liberalen Basel am Stadttheater uraufgeführt. Hier hatte Dürrenmatt einige Zeit mit seiner ersten Frau Lotti Geissler gewohnt. Viele Jahre später sollte er, 1967, unter der Leitung von Werner Düggelin, wieder nach Basel zurückkehren, diesmal als Co-Direktor. In Basel wurden in den nächsten zwei Jahren Dürrenmatts Bearbeitung von Shakespeares „König Johann“ und später das noch heute international erfolgreiche Stück „Play Strindberg“ uraufgeführt.
Dürrenmatt nahm sich schon 1948 viele dichterische Freiheiten gegenüber der echten Historie heraus, was er ja auch im Untertitel des Werks antönt: „Eine ungeschichtliche historische Komödie“. So herrschte 475/76 eigentlich der römische Feldherr Orestes durch seinen von ihm auf den Thron gesetzten, erst 15-jährigen Sohn Romulus, der dann auch als „Augustulus“ verhöhnt wurde. Und Odoaker, Anführer der Germanen, war nicht, wie bei Dürrenmatt, nur nach Rom gekommen, um sich dort zu unterwerfen und in Pension zu gehen – ganz im Gegenteil, wie wir wissen. Wie jedoch Dürrenmatt die Begegnung der beiden machtmüden und pensionsgeilen Herrscher zeichnet, ist ein Kabinettstück besonderer Art.
Panoptikum menschlichen Verhaltens
Die Basler Inszenierung durch den österreichischen erfolgreichen Nachwuchsregisseur Franz-Xaver Mayr nimmt sich solcher Szenen natürlich genussvoll und zur grossen Freude des Publikums an. Aber die Inszenierung angelt sich nicht nur von Höhepunkt zu Höhepunkt – wie den zentralen Monolog des Kaisers durch den grossartigen, differenziert und mit Ironie alle Schattierungen der Figur herausarbeitenden Steffen Höld –, sondern ist stringent und wirksam als Panoptikum menschlichen Verhaltens vor dem drohenden Untergang angelegt und vom ganzen neunköpfigen Ensemble engagiert mitgetragen. Dazu trägt auch die Klang-/Geräuschkulisse des Elektronikers und Performers Matija Schellander bei, welcher zum Schluss den Zusammenbruch fast körperlich erleben lässt, wenn das Schauspielhaus in allen Fugen zu ächzen und mit anschwellendem Getöse zu krachen beginnt – Klänge, wie man sie ansonsten nur aus dem Kino kennt.
Der Schallpegel des Premierenapplauses in Basel war auch nicht zu verachten – Dank für einen wunderbaren, in jeder Hinsicht genussvollen Theaterabend.
„Romulus der Grosse“ Theater Basel.
Nächste Vorstellungen: 8., 9., 24., 25., 29. Mai.
Fotos: © Kim Culetto