Rechtzeitig im Jahr des hundertsten Geburtstags von Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) haben der Diogenes Verlag und das Schweizerische Literaturarchiv SLA das monumentale «Stoffe»-Werk Dürrenmatts publiziert, von dem bislang wie Spitzen eines Eisbergs nur zwei Bände veröffentlicht waren: Stoffe (1981, revidiert als Labyrinth. Stoffe I–III, 1990) und Turmbau. Stoffe IV–IX (1990, alle bei Diogenes).
Was nur wenige wussten: Dürrenmatt hat am Stoffe-Projekt ab 1970 zwanzig Jahre bis ans Lebensende gearbeitet und allein hiervon ein Konvolut von 30’000 Seiten zurückgelassen. Die «Stoffe» haben als Schlüsselwerk des späten Dürrenmatt zu gelten. Deren Material ist in den letzten Jahren gründlich erforscht worden. Eine Auswahl davon liegt jetzt bei Diogenes als mustergültig edierte fünfbändige Ausgabe vor, begleitet von einer frei zugänglichen und perfekt aufgearbeiteten Online-Ausgabe des SLA, die mit zusätzlichen Materialien aufwartet.
Die Dramaturgie der Phantasie
Die «Stoffe», Autobiographie und Poetik in einem, sind eine ausufernde Selbsterforschung. Anlass dazu war eine persönliche Krise. Durch die Erfolge als Schriftsteller sowie als gesellschaftskritischer Autor war Dürrenmatt zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen geworden, doch als Dramatiker geriet er bereits in den späten Sechzigerjahren zusehends aus der Mode. 1969 erlitt er zudem seinen ersten Herzinfarkt. In der Rekonvaleszenz nahm er den Versuch auf, sich selber zu ergründen: Was waren seine lebensgeschichtlichen Prägungen? Wie war er zu seinen schriftstellerischen Motiven gekommen? Wie hing beides zusammen?
Dürrenmatt wandte sich dieser Introspektion mit grösster Skepsis zu. Im sogenannten Urmanuskript der «Stoffe» von 1970 schrieb er: «Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestalten will, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen.»
Und weiter: «Wenn ich trotzdem über mich schreibe, so nicht über die Geschichte meines Lebens, sondern über die Geschichte meiner Gedanken; genauer: über die Geschichte meiner Stoffe; denn in meinen Stoffen spiegeln sich, da ich Schriftsteller bin, meine Gedanken wider.»
Mit der beharrlich in immer neuen Anläufen betriebenen Erkundung, Rekonstruktion und Neubearbeitung seiner Stoffe wollte Dürrenmatt der Dramaturgie seiner schriftstellerischen Phantasie auf die Schliche kommen. Aus welchen Sedimenten seiner Lebenserfahrung und aus welchen Impulsen seiner geistigen Tätigkeit sind ihm beispielsweise die Ideen für den Entwurf der Erzählung «Mondfinsternis» zugeflogen? Er hat das Stück in zahlreichen Durchgängen zur rabenschwarzen Novelle geformt, dabei sukzessive Motive und Personen verändert, bis schliesslich nach vielen Metamorphosen daraus das Stück «Der Besuch der alten Dame» wurde. Mit der ursprünglichen Form des Stoffs hat es nur noch das Motiv des Hereinbrechens einer mächtigen Figur in die verlogene Welt der Profiteure und Duckmäuser gemeinsam.
Schwerfällige Schreibarbeit
Eine mögliche Erklärung für die Stoffe seiner Dramen und Erzählungen sah Dürrenmatt in seiner Herkunft: «… die Welt in der ich lebte, war eine Kafka-Welt.» Er nahm die Stadt Bern, als er als Jugendlicher dort lebte, als eine Art Gefängnis wahr. Das Philosophiestudium gab er auf, um Künstler zu werden, wobei noch nicht klar war, ob es in Richtung Malerei oder Schriftstellerei gehen solle. Den Weg zur letzteren schlug er mit einem brüsken Entschluss ein, der ihn offenbar selber überraschte.
Dürrenmatt sagte von sich: «Schreiben ist mir stets schwer gefallen. Ich war stets von Einfällen eingekreist, die mich mehr hemmten als förderten.» Dazu passt seine in den Faksimiles dokumentierte ungelenke Handschrift, welche die Anstrengung des Schreibens förmlich sichtbar macht (sie rührt von einer leichten Kinderlähmung her).
Als er zum Studium nach Zürich ging, heftete er an die Tür seiner Studentenbude einen Zettel: nihilistischer Schriftsteller. Er begann immer wieder ausufernde Romane zu schreiben, die er umgehend aus Langeweile wieder abbrach; er las und studierte ohne Plan und rechtes Verstehen; daneben malte und zeichnete er wilde apokalyptische Bilder. «Ich befand mich in Wirklichkeit weniger in einer geistigen als in einer künstlerischen Krise (…).»
Allmählich begann er aber jetzt Szenen zu erfinden, in denen, wie sich zeigen sollte, starke Dramen schlummerten. Mit den ersten Stücken, an denen er sich versuchte, scheiterte er zwar nicht anders als mit den Romanen, aber es entstanden doch, wie der Rückblick auf die Stoffe zeigt, die Kristallisationskerne späterer Theaterstücke.
Für die Entwicklung Dürrenmatts spielte die Auseinandersetzung mit der geistigen Welt des Pfarrer-Vaters eine entscheidende Rolle. Es gelang eine Distanzierung ohne Feindseligkeit. Ein Widerhall davon findet sich im ersten vollendeten Theaterstück, der Wiedertäufer-Komödie «Es steht geschrieben» (1947 uraufgeführt im Schauspielhaus Zürich). Dürrenmatts Karriere als Dramatiker war lanciert.
Brachiale Rhetorik und barocke Masslosigkeit
Die Edition «Stoffe Projekt» erlaubt einen neuen Blick auf Dürrenmatts Arbeitsprozesse. Er tat sich, wie er mehrfach sagte, schwer mit dem Schreiben – genauso wie übrigens auch mit dem Malen, das er immer autodidaktisch betrieben hat. Da fehlt alles Virtuose, er ringt sich die Bilder ab, man hat fast das Gefühl, er zwinge den bildlichen Ausdruck mit grosser Kraftanstrengung herbei. Nicht anders die Texte. Sie sind nie elegant, geschliffen schon gar nicht, vielmehr kommen sie langsam mit schwerem Tritt voran. Setzt er Pointen, so funkeln sie nicht, sondern dröhnen. Dürrenmatts allgegenwärtige Ironie hat nichts Feines, sie kleidet sich ins grobe Gewand des Sarkasmus. Bevorzugte Methode der Behandlung seines Materials ist der Prankenhieb.
In der 1989 erstellten Rekonstruktion der verlorenen Erzählung «Vinter» (damals noch unter dem Titel «Ein alltäglicher Mensch») steht dieser überladene Satz: «Im Hintergrund sass an einem alten, morschen Tisch ein verschwitzter Polizist mit einem derben Bauerngesicht und tippte mit zwei Fingern auf einer alten Schreibmaschine herum.»
Dürrenmatt tat sich schwer mit der Ökonomie der stilistischen Mittel und verfiel oft auf eine brachiale Rhetorik der voll aufgedrehten Lautstärke. Er, der nüchterne Berner Protestant, konterkarierte seine Herkunft mit barocker Masslosigkeit, nicht nur im sprachlichen Ausdruck. Dürrenmatt suchte und liebte den Exzess auch deshalb, weil er der Überzeugung war, erst in der grotesken Übertreibung zeige die gesellschaftliche Wirklichkeit, ja die Realität der Welt überhaupt, ihr wahres Wesen. Doch neben homerischem Gelächter gibt es bei ihm auch den biederen Witz und den gutmütigen Humor.
Ein Hang zum Schrägen
Dürrenmatt war sich nicht zu schade, dem schriftstellerischen Nachlass den geläufigen Kalauer beizufügen vom Stossseufzer des Gipsers «Gott gebe, dass es klebe» – nur um ihn zu quittieren mit «Gott gab, dass es klab».
Ganz nach seinem Geschmack auch die zauberhafte Erzählung von der alten Yvonne Châtenay-de Wattenwyl, die im Café Strauss zu Neuchâtel an ihrem Stammtisch Hof zu halten pflegte. Dürrenmatt stiess regelmässig zu diesem etwas schrägen Kreis und war selbstverständlich mit von der Partie, als Yvonne nach der Pleite des Lokals mit ihrer auserlesenen Runde für die gründliche Leerung von Küche und Keller sorgte. Dürrenmatt malte das Bacchanal, das erst mit dem Auftritt der Abriss-Arbeiter sein Ende findet, genüsslich aus.
Nicht mit Worten, sondern mit Pinsel und Farbe hat er ein WC seines Wohnhauses und heutigen Museums Centre Dürrenmatt hoch über der Stadt Neuchâtel ausgemalt. Die vollständig mit phantastischem Bildwerk überwucherten Wände, Decke und Tür-Innenseite des Örtchens bilden das vielleicht ideale Habitat für seine Malerei.
Dürrenmatt hat sein wohlerworbenes Image eines Monstre sacré bewusst gepflegt. Es beruht auf seiner durchgehenden Dramaturgie des Kraftakts, und diese wiederum ist genährt von den in langen Entwicklungs- und Schreibprozessen in den Stoffen akkumulierten Energien. Weltgeltung hat Dürrenmatt zwar als Dramatiker und Autor erlangt, doch man darf sein malerisches Werk nicht unterschätzen. Es ist Teil ein und desselben Schaffensprozesses, in welchem sich der Künstler an der Welt und an sich selbst abgearbeitet hat. Sein Gesamtwerk mag etwas aus dem Fokus des Kulturbetriebs geraten sein, doch es ist von ungebrochener Vitalität.
Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe Projekt. Textgenetische Edition in fünf Bänden, verbunden mit einer erweiterten Online-Version aus dem Nachlass herausgegeben von Ulrich Weber und Rudolf Probst
Centre Dürrenmatt Neuchâtel: Das Museum am Wohn- und Arbeitsort zeigt eine neue Dauerausstellung von Gemälden, Graphiken und Zeichnungen Dürrenmatts im Kontext seiner Schriftstellerei sowie eine Reihe von Sonderausstellungen im Verlauf des Dürrenmatt-Jahrs.