Um Dürrenmatt zu verstehen, ist zweierlei vonnöten: zum einen die Bereitschaft, das Denken zu lernen, zum anderen ein gewisser Humor. Das gilt namentlich für seinen letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman „Durcheinandertal“. Dürrenmatt starb, „vorerkrankt“ zwar, dann aber doch plötzlich und unerwartet, am 14. Dezember 1990. Wenige Tage vor seinem Tod forderte er in einem Gespräch mit Michael Haller „sinnschaffendes Denken“. Dürrenmatt war der Ansicht, dass das Denken und damit zugleich eine Antenne für die eigentlichen Probleme unserer Zeit im allgegenwärtigen Durcheinander von Wissen, Aberglauben und Politik verloren gegangen sei. Er beklagte, dass die Menschen heute Mühe hätten, ureigenen Sinnvorstellungen zu vertrauen, und stattdessen lieber diversen Spekulationen Glauben schenken würden.
Dreissig Jahre später hat sich diese Diagnose mehr denn je als zutreffend erwiesen. Dem dürfte in dieser Abstraktheit auch kaum jemand widersprechen. Nur drängen sich Fragen auf. Was ist denn nun das Sinnvolle, das sich im „Durcheinandertal“ ereignet? Inwiefern kann dem Zusammenleben ausgerechnet dadurch geholfen werden, dass der Pfarrerssohn, Denker und grosse Erzähler Dürrenmatt eines der wichtigsten christlichen Feste förmlich explodieren lässt?
Explodierende Weihnachten
Am Ende von „Durcheinandertal“ bleibt nämlich von „Weihnachten“ wie überhaupt von der westlichen Welt nicht mehr viel übrig. Alles scheint die schlimmstmögliche Wendung genommen zu haben. Die folgende Zusammenfassung der letzten Seiten des Romans, die einer apokalyptischen Heiligen Nacht gewidmet sind, lehnt sich an die unverwechselbare Sprache Dürrenmatts zum Teil wörtlich an:
In der trostlosen Kirchenruine des Schweizer Dorfes wird die Heiligabend-Andacht gehalten. Auf der wurmstichigen Kanzel gibt sich Marihuana-Joe als Sohn des verstorbenen Pfarrers Emanuel Pretánder zu erkennen. Jener habe der Gemeinde vierzig Jahre lang vergeblich das Weihnachtsevangelium gepredigt. Heute aber wolle er, Pretánders Sepp, zu ihnen sprechen. Von der Kanzel aus gelingt es ihm, an die Ehre der sonst so stumpfen Gemeinde zu appellieren. Er wirft ihr vor, dass sich im Kurhaus Schwerverbrecher, eben seine ehemaligen Kollegen, von denen er sich losgesagt habe, versteckt hielten und von ihnen, nämlich den korrumpierten Dorfbewohnern, unterstützt würden.
Neben dem Fussvolk jeder anständigen Gangsterbande, wie zum Beispiel Einbrechern und Rauschgifthändlern, überwinterten dort auch viele berühmte Nummern. Neben ihm selbst sei das beispielsweise Big-Jimmy. Deren Teufelsfratzen würden in der Waschküche des Kurhauses zu Engelsgesichtern ummontiert. Danach bricht die morsche Kanzel zusammen. Sepp, alias Marihuana-Joe, wird von einer ekstatischen Menschenmenge wie ein König zum Depot der Dorffeuerwehr getragen. Leere Schnaps- und Weinfässer werden mit Benzin gefüllt und in das bereits brennende Kurhaus hineingerollt. In deren Halle steht ein Weihnachtsbaum mit Christbaumschmuck aus Revolvern und Maschinenpistolen. Die Feuerwehrmänner spritzen zwar mit Wasser, treiben dadurch aber lediglich Gestalten vor sich her, die wie Pakete ins Feuer zurückgeworfen werden.
Geistiges Vakuum
Das infernalische Feuer frisst sich immer weiter. Es führt zu einem tosenden Prasseln, Knacken und Bersten, zu einem Geheul verbrennender Bauern und Verbrecher. Auch der Wald wird von der um sich greifenden Feuerglut erfasst. Der Himmel nimmt die Farbe der Hölle an. Nur Elsi, die fünfzehnjährige Tochter des Gemeindepräsidenten, betrachtet das Geschehen lächelnd aus der Ferne. Neben ihr liegt der riesige Hund Mani. Weihnachten, flüstert Elsi. Das Kind in ihrem Bauch hüpft vor Freude. – Im Dunkeln bleibt, ob bei der Zeugung Gewalt im Spiele war. Big-Jimmy jedenfalls hatte sich gegenüber Elsi mehrfach nicht im Zaum gehalten.
In Dürrenmatts Zuspitzung nimmt der Untergang einer verbrauchten Welt in der Weihnacht Gestalt an. Gelingt es nicht, dem totalen Verlust etwas Gültiges entgegenzusetzen oder zumindest etwas, über dessen Gültigkeit konstruktiv gestritten werden kann, so bleiben nur noch deutungslose Ruinen, ausgediente Kulissen und zerstörte Platzhalter übrig, also nichts, um das zu kämpfen sich noch lohnt. Löst sich alles oder fast alles gleichsam in nichts auf, entsteht zwangsläufig ein geistiges Vakuum, das sich eine an ihrem Überleben zwar interessierte, aber von Krankheit und Vernichtung gezeichnete Menschheit nicht leisten kann.
Ein solcher Niedergang macht nämlich gebotene Differenzierungen unmöglich, ohne die aber jeder Rettungsversuch fehlschlüge. Eine Kontroverse über Gut und Böse oder Wahr und Unwahr oder Echt und Gefälscht erschiene von vornherein sinnlos, weil ihr der notwendige Gegenstand fehlen würde. Mangels einer gehaltvollen begrifflichen Grundlage und eines entsprechenden Urteilsvermögens wäre sie zwangsläufig ein blosses Scheingefecht. Lüge würde zur Wahrheit, Wahrheit zur Lüge, Bosheit zur Menschenfreundlichkeit, Menschenfreundlichkeit zur Bosheit, Kunst zur Fälschung und Fälschung zur Kunst – sowie ein plumpes Plagiat zu einer anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistung. Verkehrt sich alles ins Gegenteil und vice versa, so muss auch jede dialektische Entwicklung auf der Strecke bleiben.
Die Umwidmung des Kurhauses
Nur auf Geld und Ehrgeiz ist dann noch Verlass und auf die Frage, wer wen für wieviel gekauft und auf Linie gebracht hat. In einer extrem korrupten Scheinwelt kann zwischen Willkür und Gerechtigkeit nicht mehr unterschieden werden. Ein Präsident, der Gründe hat, sich an sein Amt zu klammern, kann wochenlang zugleich seine Wiederwahl und seine Abwahl verkünden – ohne dass er abgeholt wird. Es ist, als ob solche Verhältnisse Dürrenmatts „Durcheinandertal“ nach nur dreissig Jahren weit übertroffen hätten. Jemanden wie den schwitzenden Trump-Anwalt Rudy Giuliani, dem die schwarze Haarfarbe aus den Schläfen ins Gesicht rinnt, während er sich einer Weltöffentlichkeit aufdrängt, hätte wohl nicht einmal ein Dürrenmatt erfinden können.
Es würde den Rahmen sprengen, die gleichsam transzendenten Strukturen, die Dürrenmatt in das Romangeschehen einzieht, an dieser Stelle näher zu erläutern. Wer jedoch wenigstens ungefähr wissen will, was es mit der Boston Society for Morality, mit dem weitverzweigten Verbrechersyndikat, dem Grossen Alten ohne Bart, dem abgründigen Theologen Moses Melker und anderen Strippenziehern des Bösen auf sich hat, möge bitte selbst nachlesen. Ohne die mit diesen Namen nur angedeuteten Dimensionen lässt sich übrigens kaum begreifbar machen, wie es zur Umwidmung des Kurhauses in ein Winterquartier für internationale Kriminelle hat kommen können. Hier aber muss es genügen, die Bedeutungsverluste, die Dürrenmatt auf den Schlussseiten von „Durcheinandertal“ geradezu genüsslich zelebriert, ins Bewusstsein zu heben.
Das Schweizer Dorf steht für die Welt schlechthin
Mit seiner dramatischen Schilderung eines in Gewalt versinkenden Heiligabends scheint Dürrenmatt Weihnachten in ein exemplarisches Sinnbild der Sinnlosigkeit zu verwandeln. Aber wie soll ein Autor anders verfahren, wenn er eine aus den Fugen geratene Welt in einem Vokabular entlarven will, ja muss, das einerseits selbst jener ver-rückten Welt angehört und dem wir doch andererseits alle Tag für Tag zumindest bruchstückhaft vertrauen müssen, wenn wir uns verständigen wollen? Ohne provokante Paradoxien à la Dürrenmatt wäre Aufklärung heutzutage unmöglich.
Was also ist ein „Kurhaus“, wo Teufelsfratzen zu Engelsgesichtern geformt werden, was eine „Feuerwehr“, die in Brand setzt und mordet, anstatt zu löschen, zu helfen und das zu retten, was noch zu retten ist? Offensichtlich trägt eine solche „Feuerwehr“ nur den Namen, füllt ihn aber nicht aus. Und können Revolver und Maschinenpistolen dadurch zu „Christbaumschmuck“ werden, dass sie in einen „Weihnachtsbaum“ gehängt werden? Dass sich das dörfliche Gotteshaus in eine erbärmliche Ruine verwandelt hat, passt ebenso ins Bild wie die Entwicklung einer normalkorrupten Gemeinde zu einem hemmungslosen Mob. Im Übrigen ist Durcheinandertal selbstverständlich kein Schweizer Dorf. Es steht für die westliche Freiheit schlechthin und für das, was von ihr übrig geblieben ist oder zumindest allein übrig zu bleiben droht.
Elsi und das Göttliche
Aber es gibt Hoffnung, sogar bei Dürrenmatt. Eine völlige Niederlage dürfte sich abwenden lassen. Da ist ja schliesslich noch Elsi, obwohl es, gelinde gesagt, auf den ersten Blick überrascht, wenn uns die Jungfrau Maria in der Person Elsis als „mannstolle Donnersgöre“ vorgeführt wird. Die Geschenke, die allgemein zu Weihnachten verteilt werden, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das entscheidende Geschenk fehlen könnte. Es ist in El-sis Namen verborgen und zeigt sich, wenn wir die erste Silbe „El“ auf das Hebräische zurückführen und als das Göttliche interpretieren. Das Göttliche ist auch gar kein Geschenk unter anderen Geschenken. Dem Göttlichen kann, wenn überhaupt, nur durch subtilen persönlichen Einsatz zur Geburt verholfen werden. Dabei geht es nicht zuletzt um den – paradoxerweise – sowohl notwendigen als auch aussichtslosen Kampf um Integrität und Unschuld.
Mit der lächelnden Elsi, die dem Kind in ihrem Bauch „Weihnachten“ zuflüstert und dadurch offensichtlich grosse Freude auslöst, trägt Dürrenmatt – in Anlehnung an Lukas 1, 41, 44 – „unseren Ahnungen“ Rechnung, „die wir von der Welt erreicht haben“. Die Ahnungen führen uns heute zwar nicht zu einem personalen Gott, eröffnen uns aber, wenn wir nur versuchen, die Existenz dieser Kleinfamilie (mit Mani und ohne Mann) nachzuempfinden, geistige Dimensionen und eine tiefe Menschlichkeit, die in Dürrenmatts spätem Roman immer wieder durchscheinen. Von den Ahnungen, die wir in der Spätmoderne von der Welt immerhin erreicht haben, schrieb Dürrenmatt übrigens in einem Text des Jahres 1988, der in der Biographie von Peter Rüedi leicht zugänglich ist. In Dürrenmatts Verständnis kann die Qualität dieser Ahnungen von den Erkenntnisfortschritten der Naturwissenschaften nicht substanziell getrennt werden.
Was Dürrenmatt vom denkwilligen Publikum erhofft
Über das geheimnisvolle Ganze der menschlichen Existenz sollte man nicht viele Worte verlieren, wenn man sich nicht in jenem bedeutungslosen Durcheinander verirren will, auf das der Denker Dürrenmatt nicht hereinfallen wollte. Vielleicht ist Weihnachten das Fest, wo die Menschen die Chance haben, ihre vielen Ersatzkonstruktionen aufzugeben und das Kinderherz einmal richtig und trotz allem auch aufrichtig hüpfen zu lassen.
Ich verstehe Dürrenmatt so, dass er den Leser genau dazu ermutigen will. Sein Humanismus dürfte nicht zuletzt deshalb so deutlich spürbar sein, weil er in dem bereits erwähnten Gespräch mit Michael Haller bekennen kann, alle seine Durcheinandertaler Figuren zu lieben. Denn diese vom Künstler ausgehende Liebe hat sich in der Romanerzählung, so schockierend die Schilderungen im Einzelnen manchmal erscheinen mögen, unmissverständlich niedergeschlagen. Sie möge bei einem denkwilligen und lernfähigen Publikum ihre Wirkung entfalten. Dürrenmatt wollte sich und uns nichts vormachen. Für ihn war unbedingte Ehrlichkeit im Denken wie im Sprechen und Schreiben das Mindeste, das von Dichtern und Philosophen erwartet werden darf. Daran dürfen wir uns in diesen Zeiten wieder erinnern.
*Heiner Alwart, geboren in Hamburg, ist emeritierter Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Jena. Er lebt in Jena und publiziert über aktuelle gesellschaftspolitische Themen.