Die US-Historikerin Jill Lepore wird für ihre kritische Interpretation der amerikanischen Geschichte mit dem diesjährigen «Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken» ausgezeichnet.
Man kann es natürlich so machen wie der Schweizer Historiker Daniele Ganser, der sein Bild der USA schon im Titel seines Buches «Imperium – Die skrupellose Weltmacht» zeichnet. Natürlich gibt es Gründe für diese negative Sicht: Hunderte von Militärstützpunkten rund um den Globus und dazu ein Central und ein Southern Command in Florida, ein European- und ein Africa Command nahe Stuttgart, ein Northern Command in Colorado und ein Pacific Command auf Hawaii umspannen den Erdball mit einem Netz militärischer Beobachtungs- und Einsatzposten, wie es, bis jetzt wenigstens, keine andere Weltmacht besitzt.
Man kann auch eine «Geschichte und Kultur» der USA «von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart» schreiben wie der Potsdamer Historiker Bernd Stöver. Das ausgezeichnete, 2018 in zweiter Auflage erschienene Werk folgt im Grunde einem klassischen, an einem an der historischen Abfolge orientierten Kapitelaufbau, verschweigt dabei allerdings nichts. So erwähnt Professor Stöver etwa, dass die USA bereits kurz nach dem Ende des spanisch-amerikanischen Krieges (1898–1902) «mit dem Aufbau eines weltweiten Stützpunktsystems aus annektierten Gebieten» begonnen hätten. Allein siebeneinhalb Seiten nimmt bei Bernd Stöver die Liste der «wichtigen aussenpolitischen Interventionen der USA» ein. Allerdings sind bei Stöver die USA ein «Imperium wider Willen», wie eines seiner Kapitel lautet – mithin wären die USA durch zwangsläufige Kollisionen mit anderen Weltmächten – seinerzeit etwa Spanien – in ihre imperiale Rolle sozusagen hineingestolpert.
Und dann plötzlich tritt die amerikanische, vielfach preisgekrönte Harvard-Historikerin und Kolumnistin des «New Yorker», Jill Lepore, mit ihrem monumentalen, etwa 1100 Seiten umfassenden Werk unter dem Titel «Diese Wahrheiten» auf die Bühne der internationalen Historikerzunft und entzückt die meisten Rezensenten.
Wer wurde 1776 unabhängig?
Welche Wahrheiten haben sich durchgesetzt und welche sind auf der Strecke geblieben? Waren wirklich alle Menschen (so hat man es lange in Amerikanistik-Vorlesungen gehört) gemeint, wenn es in der vielzitierten Unabhängigkeitserklärung von 1776 heisst, es seien «alle Menschen gleich geschaffen», alle mit «gewissen unveräusserlichen Rechten begabt», wie etwa «Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit». Oder waren damals nur die weissen männlichen Siedler, viele von ihnen Sklavenhalter, gemeint, die ihre politische und gesellschaftliche Zukunft ohne britische Vorherrschaft zementieren wollten?
Waren damals nur die weissen männlichen Siedler, viele von ihnen Sklavenhalter, gemeint?
Und in welche gesellschaftliche Umgebung fiel etwa die Diskussion über die amerikanische Verfassung (1787), in der diese Prinzipien in ein Grundgesetz des neuen Staates gegossen wurden? Wie sah der amerikanische Alltag aus, in dem das territorial noch begrenzte und überaus unfertige Amerika lebte, als «diese Wahrheiten» diskutiert wurden? Jill Lepore zitiert die Zeitung «New York Packet» vom 30. Oktober 1787, in der etwa ein Lehrer «Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen und Handelsbuchhaltung» anbietet, in der ein Händler «Stockfisch, eine gewisse Menge an Sirup, gemahlenen Ingwer in Fässern (…) gepökelten Kabeljau, Schreibpapier und Männerschuhe» zum Verkauf annonciert. Und in einer Beilage derselben Zeitung findet sich eine Anzeige mit folgendem Wortlaut: «Zu verkaufen. Ein ansehnliches junges Negermädchen, 20 Jahre alt, sie ist gesund und hatte die Pocken, sie hat ein kleines männliches Kind.»
In derselben Ausgabe der «New York Packet» schreibt der Rechtsanwalt Alexander Hamilton, einer der so genannten Gründerväter der USA, folgende Sätze: «Sie sind nun dazu aufgerufen, über eine neue Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu beraten.» Aber Vorsicht sei geboten, denn eine falsche Entscheidung würde «ein Unglück für die gesamte Menschheit» bedeuten. Die USA seien ein Experiment in Sachen Politik und stünden für ein neues Zeitalter in der Geschichte der politischen Ordnung.
Nicht die ganze Geschichte erzählt
Die hier zitierten Passagen zeigen bereits zu Beginn von Jill Lepores Buch die Methodik der Autorin: Eine riesige Menge von Zeitzeugen kommt zu Wort, die man in anderen Darstellungen der amerikanischen Geschichte so kaum findet. Und: Einer der roten Fäden, welche die Autorin spinnt, ist die Sklaverei, ist die andauernde Diskriminierung der Afroamerikaner. Daraus folgt, dass die Autorin, wie sie selber schreibt, nicht die ganze Geschichte der USA erzählt. «Niemand könnte das», schreibt sie, «auf diesen Seiten fehlt vieles.» In der Tat, eine detaillierte Schilderung der Ausdehnung der Kolonien nach Westen bis an den Pazifik (bei Bernd Stöver nimmt die Liste der «Indianerkriege» drei Seiten ein) fehlt ebenso wie die beginnende Expansion über den Globus, die viele «US-Imperialismus» nennen. Aber wie gesagt: Lepores Geschichte der USA verfolgt ein anderes Ziel.
Was daher nicht fehlt, was dagegen dominiert, sind Zustandsberichte der jeweiligen Epochen der USA, zusammengefasst in Titeln wie «Die Idee», «Das Volk», «Der Staat», «Die Maschine» (das technische Zeitalter). Es wird ein Bogen gespannt von Christoph Kolumbus bis Donald Trump.
Was in der öffentlichen Wahrnehmung der USA bis heute oft zu kurz kommt, ist das Ausmass der Sklaverei und der andauernden Diskriminierung der Afroamerikaner. Denn auch viele Gründerväter der USA waren Sklavenhalter – etwa der erste Präsident George Washington. Er hielt auf seiner Farm bis zu 390 Sklaven, die aber, so verfügte er in seinem Testament, nach seinem Tode freigelassen werden sollten. Einer von ihnen hatte den Namen Harry Washington. Harry Washington konnte fliehen und geriet über Nova Scotia schliesslich ins westafrikanische Liberia, wo sich viele ehemalige Sklaven aus den USA ansiedelten.
Sklaven wurden bei der Volkszählung als Dreifünftelmenschen gezählt.
Manchmal scheint der Autorin nichts als Ironie übrig zu bleiben, um die deprimierende Situation der Afroamerikaner zu beschreiben. Als es um die Volkszählung in den einzelnen Bundessatten ging, kam die Frage auf, ob denn die Schwarzen auch als Bürger zahlenmässig zu erfassen seien. Man einigte sich auf die Formel, jeder Schwarze sei als ein Dreifünftelmensch zu betrachten. Als daraufhin ein Sklave vor seinem Besitzer flüchtete, schreibt die Autorin, er habe sich auf den Weg gemacht, um ein «Fünffünftelmensch» zu werden.
Frauen wie Sklaven im Naturzustand verhaftet
Auch Frauen waren zunächst nicht gefragt in der neuen Gesellschaft der neuen Welt. Im März 1776 schrieb eine Frau namens Abigail Adams an ihren Mann: «Ich wünsche, dass du dich der Frauen erinnerst und ihnen mehr Grosszügigkeit und Wohlwollen erweist als deine Vorfahren.» Und eine andere Forderung lautete: «Lege nicht zu viel unbegrenzte Macht in die Hände der Ehemänner (…) Denke daran, dass alle Männer Tyrannen wären, wenn sie nur könnten.» Ihr Ehemann dagegen blieb stur: «Verlasse Dich darauf, wir kennen etwas Besseres als die Zurücknahme unserer männlichen Ordnung.»
Professorin Lepore zeigt, wie die männliche Überlegenheitsphantasien, wonach «Frauen wie Sklaven im Naturzustand verhaftet» seien, immense negative Konsequenzen zur Folge hatten, «welche der politischen Ordnung des Landes noch jahrhundertelang Probleme bereiteten».
Doch die grössten Probleme zeitigte weiterhin die Sklaverei. Zwar gab es immer wieder Versuche, diese abzuschaffen. So etwa die Quäker, als sie beschlossen, jeden aus ihrer Gemeinschaft auszuschliessen, «der für sich in Anspruch nahm, einen anderen Menschen als Eigentum zu besitzen». Doch die Widerstände waren immens. Jill Lepore schreibt:
«Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es nicht nur eine, sondern zwei amerikanische Revolutionen: den Kampf um die Unabhängigkeit von Grossbritannien und den Kampf um die Beendigung der Sklaverei. Nur eine der beiden war erfolgreich.»
Einzigartige Grausamkeit im Bürgerkrieg
Und dann der Bürgerkrieg, der von 1861 bis 1865 tobte. Lepore schreibt: «Bei Feldzügen von einzigartiger Grausamkeit kämpften 2,1 Millionen Nordstaatler gegen 800’000 Südstaatler in über 200 Schlachten, Krankheiten forderten doppelt so viele Todesopfer wie im Kampf erlittene Verletzungen. Die Menschen starben in Scharen, sie wurden in Massengräbern verscharrt.» Etwa 600’000 Menschen liessen ihr Leben – eine für die Epoche immense Zahl.
Nach dem Ende des Gemetzels, nach der für den Norden siegreichen Schlacht von Gettysburg am 3. Juli 1863, sagte Präsident Abraham Lincoln in seiner berühmt gewordenen «Gettiysburg Address», dass diese Nation unter Gottes Fügung zu neuer Freiheit geboren und dass die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk nicht von dieser Erde verschwinden dürfe.
Abraham Lincoln erwähnte in seiner «Gettysburg Address» die Sklaverei nicht.
Zwar bemerkt die Autorin Lepore kühl, dass Lincoln die Sklaverei nicht erwähnt habe. Sie zitiert aber gleich danach einen Soldaten des Nordens, für den – von der Konföderation des Südens aus gesehen – «dies ein Krieg der Sklavenhalter ist, der von Sklavenhaltern und für sie geführt wird». Tatsächlich hatten sich die gesellschaftlichen Fliehkräfte zwischen industrialisiertem Norden und agrarischem Süden vornehmlich an der im Süden systemimmanenten Sklaverei überdehnt.
Sklaverei abgelöst durch «Rassentrennung»
Die Sklaverei wurde abgeschafft, offiziell. Aber noch knapp einhundert Jahre später herrschte «Rassentrennung» in weiten Teilen der Südstaaten. So kam es, dass sich am 1. Dezember 1955 eine Frau namens Rosa Parks in Montgomery/Alabama weigerte, das für Schwarze bestimmte Abteil eines Busses zu betreten. Rosa Parks löste durch ihre Grosstat des zivilen Ungehorsams die Bürgerrechtsbewegung aus, welche die kommenden Jahrzehnte bestimmte – und bis heute ihre Ziele nicht ganz erreicht hat: Im Mai 2020 wurde der Afroamerikaner George Floyd von einem weissen Polizisten in Minneapolis/Minnesota getötet.
Eine unendliche Geschichte? Vielleicht. Auf fast jeder der 1’100 Seiten von Jill Lepores Buch wird der Leser fündig mit zeitgenössischen Zitaten, mit Personen der Epoche, die in anderen Darstellungen so nicht zu Wort kommen. So ist es kein Wunder, dass ihr Opus magnum auch im deutschen Sprachraum ein grosses Echo gefunden hat. Der Rezensent von Deutschlandradio/Kultur meinte, die Autorin habe die Darstellung der US-Geschichte «mit Bravour» gelöst, sie habe die Zerrissenheit des Landes klar dargestellt. Klaus Leggewie sprach in der Berliner TAZ von einem «grossen Wurf». In der NZZ schrieb Claudia Mäder, die Autorin wende sich Schwarzen, Schwulen, Indianern, Frauen und Staatslenkern gleichermassen zu» und füge sie «zu einer Geschichte zusammen».
Im deutschen Sprachraum begeistert aufgenommen
Rezensent Paul Ingendaay von der FAZ lernt aus Jill Lepores Geschichte der USA, wie weit die Ideale der amerikanischen Verfassung und die politische Realität des Landes auseinanderklaffen. In der «Süddeutschen Zeitung» fand Michael Hochgeschwender Adjektive wie lebendig, klug und nuancenreich. Er sah in Lepores Darstellung aber auch ein paar historische Fehler. Für Alexander Camman, den Rezensenten der «Zeit», ist Jill Lepores Werk schlicht ein «bahnbrechendes, ach was: revolutionäres Buch».
Und was sagen die Heinrich-Böll-Stiftung und die Stadt Bremen, welche am 3. Dezember den diesjährigen «Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken» an Jill Lepore vergeben? In der Begründung heisst es:
«Jill Lepore präsentiert die Geschichte der Vereinigten Staaten nicht einseitig als eine Geschichte mächtiger Regierungen, die zu jeweils verschiedenen Zeiten über die Bürger/innen herrschen, Kriege führen oder politische Ideen innehaben; sondern als eine Geschichte von Konflikten und Dynamiken zwischen diversen Gruppen und Fraktionen, z. B. den Engländern, anderen Kolonialmächten, den versklavten Menschen, Frauen, den verschiedenen ethnischen Gruppen der Siedler, politischen Eliten.»
Hoffnungsvolles Postscriptum: Die ARD meldete am 19. Oktober 2021, der New Yorker Stadtrat wolle die Statue von Thomas Jefferson, einer der Gründerväter, aus dem Sitzungssaal entfernen, denn Jefferson repräsentiere «einige der beschämendsten Seiten in der langen und facettenreichen Geschichte unseres Landes». Der dritte Präsident der Vereinigten Staaten und Hauptautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sei Besitzer von mehr als 600 Sklaven gewesen und habe zusammen mit einer Sklavin sechs Kinder gezeugt.