Der 4. Juli, das weiss in Amerika jedes Kind, ist der Geburtstag der Vereinigten Staaten. Denn am Fourth of July 1776 erklärten die damals 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit und bezeichneten sich als Vereinigte Staaten von Amerika. Der Tag markiert seither den Beginn der Landesgeschichte und prägt darüber hinaus das amerikanische Selbstverständnis eines von Anfang an auf Freiheit und Gerechtigkeit gebauten Staates.
Ganz anders die Vision Amerikas im 1619 Project. Im August 2019 bezeichnete das „New York Times Magazine“ den ersten dokumentierten Verkauf afrikanischer Sklaven an amerikanische Kolonisten im August 1619 als den wahren Beginn der Landesgeschichte (true founding). Anlässlich des 400. Jahrestages dieses Ereignisses vor der Küste Virginias veröffentlichte das Magazin zwölf Aufsätze zur zentralen Bedeutung der Sklaverei für die Entwicklung der Vereinigten Staaten und ihren prägenden Einfluss bis in die Gegenwart: auf Wirtschaft und Justizsystem, Musik, Raumplanung, das Gesundheitswesen und andere Bereiche.
Verhöhnte Ideale
Insgesamt zeichnet die Aufsatzserie eine von Sklaverei und weisser Dominanz geprägte amerikanische Geschichte, welche die „selbstverständlichen Wahrheiten“ der Gleichheit aller Menschen und ihrer „unveräusserlichen Rechte“ nicht nur zum Zeitpunkt von deren Proklamation in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776, sondern auch weit über hundert Jahre danach verhöhnte.
Im einleitenden Essay zur „Idee Amerikas“ unterstrich Nikole Hannah-Jones, Initiatorin des Projekts und feste Mitarbeiterin des Magazins, die schiere Leistung der nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren: Nicht nur verhalfen sie dem Land durch ihre Feldarbeit – in „Zwangsarbeitslagern“, nicht Plantagen, wie der Text klarstellte – zu materiellem Reichtum und bauten der vielbewunderten amerikanischen Demokratie ihre Symbole, wie das Kapitol und das Weisse Haus. Vielmehr, so die These Hannah-Jones’, war es auch erst der Kampf der Sklaven und ihrer Nachkommen für ihre Gleichstellung, welche die von den Gründervätern proklamierten Ideale annähernd wahr gemacht hätten.
„Durch Jahrhunderte des schwarzen Widerstands und Protests haben wir dem Land geholfen, seinen Idealen gerecht zu werden. […] Wir sind es, die diese Demokratie vollendet haben.“ Wir, damit meint die Autorin die von den afrikanischen Sklaven abstammende Bevölkerung der USA, zu der sich die aus gemischter Ehe stammende Hannah-Jones selber zählt. Weiter sei der Erhalt der Sklaverei für die amerikanischen Kolonisten „einer der Hauptgründe“ dafür gewesen, sich von der englischen Krone abzuspalten.
Widerstand von links aussen
Gegen diese letzte These regte sich der Widerstand zuerst. Im Herbst 2019 fühlte sich die eher obskure „World Socialist Website“ berufen, mit einer Serie von fundierten Interviews mit prominenten Historikern von renommierten amerikanischen Universitäten zu intervenieren. Das Organ der „globalen trotzkistischen Bewegung und des Internationalen Komitees der Vierten Internationalen“ stiess sich vor allem an der Idee einer auf Rassenkonflikt und nicht auf dem Klassenkampf basierenden Geschichte. Den befragten Professoren ging es freilich mehr um die Richtigkeit historischer Fakten und deren Gewichtung. Trotz ausdrücklicher Sympathie für das Bestreben des 1619 Projekts, forderten Ende 2019 fünf Historiker in einem Brief die „New York Times“ auf, „prominente Korrekturen aller Fehler und Verzerrungen“ des 1619 Project zu publizieren. Die Redaktion nahm ausführlich Stellung, lehnte Korrekturen aber ab.
Unter den Akademikern tat sich Sean Wilentz, Geschichtsprofessor an der Princeton University, hervor als federführender Autor des Briefes an die Times. Andere, darunter James McPherson (ebenfalls Princeton) und Gordon S. Wood (Brown), sprachen in Interviews von ihrer Überraschung, gar nie für das 1619 Projekt konsultiert worden zu sein. Leslie Harris, Professorin für Geschichte an der Northwestern University, beschrieb ihre Beteiligung am Projekt unter dem Titel „I Helped Fact-Check the 1619 Project. The Times Ignored Me“.
„Endlich wahrheitsgetreu“
Im Frühjahr 2020 gewann Hannah-Jones einen Pulitzer Preis für ihre Arbeit am 1619 Project, allerdings in der Kategorie Kommentar, nicht Geschichte, wie Kritiker gerne bemerkten. Tatsächlich handelt es sich bei ihrem Essay weder um klassischen Journalismus noch um Geschichtsschreibung. Hannah-Jones’ Text ist persönlich, über weite Strecken in der ersten Person verfasst, und sie illustriert ihre Thesen durch die Geschichte ihrer eigenen Familie.
Obwohl das Projekt den Anspruch erhebt, „endlich wahrheitsgetreu unsere Geschichte zu erzählen“, bietet es weder Quellennachweise noch eine Bibliographie. Zudem erarbeitete das „New York Times Magazine“ neben einem sechsteiligen Podcast auch noch ein Curriculum für den Schulunterricht. Und fast alle am Projekt beteiligten Autoren, Photographen und Künstler seien Schwarze, erklärte Hannah-Jones und sprach von einem „nicht-verhandelbaren Aspekt“, um die These des Projekts hervorzuheben.
Nur der späte Zeitpunkt erstaunte, als Donald Trump im Wahlherbst 2020 eine Chance witterte, aus der immer heisser geführten Debatte politisches Kapital zu schlagen. Er drohte Schulbezirken, die das 1619 Curriculum übernahmen, die Finanzierung zu untersagen und berief eine „1776 Kommission“. Ohne einen einzigen auf amerikanische Geschichte spezialisierten Historiker verfolgte die Kommission das Ziel, die am 4. Juli 1776 postulierten Ideale zu verteidigen. „Wir werden – wir müssen – diese Wahrheiten immer wahren“, so die Kommission in ihrem Bericht, von dem der Princeton-Historiker Wilentz wiederum meinte, er sei von der historischen Wahrheit „etwa gleich weit entfernt“ wie das 1619 Project.
Der Bogen des moralischen Universums
Die hybride Form und die Ambition des gesamten Projekts, die amerikanische Geschichte neu zu schreiben, waren die Hauptpunkte der Kritik der im Wahljahr 2020 praktisch permanenten Debatte um das 1619 Project, nicht zuletzt in der „New York Times“ selber. Deren Kolumnist Bret Stephens erklärte das Projekt für journalistisch gescheitert, und warf den Autoren monokausales Denken vor. „Aus der Sklaverei – und dem Anti-Schwarzen Rassismus, den sie voraussetzt – entstand fast alles, was Amerika wirklich aussergewöhnlich macht“, hatte das „New York Times Magazine“ in seiner Einleitung damals behauptet. Fast alles? So fragte Stephens zu Recht und erinnerte an historische Leistungen, von der amerikanischen Verfassung über den Marshall Plan bis zur Mondlandung.
Neben historischen Fakten wurde gerade in liberalen Medien regelmässig auch der Tonfall des Projektes und seiner Vision von Amerika kritisiert. Conor Reinsdorf vom „Atlantic“ beispielsweise schrieb, das Jahr 1776 sei der passendere Beginn für Amerika als 1619, denn die in der Unabhängigkeitserklärung „erhobenen Ideale als unseren Ursprung zu verstehen, erhöht den Druck, ihnen auch gerecht zu werden“.
Derartige mehrheitlich auf Wunschdenken beruhende Vorstellungen vom Beginn der Vereinigten Staaten erinnern an ein aus der amerikanischen Politik bekanntes Bild vom Ziel ihrer Geschichte: Der „Bogen des moralischen Universums“, hatte Martin Luther King gesagt, sei zwar lang, neige sich schlussendlich aber zur Gerechtigkeit. Barack Obama verwendete das King-Zitat regelmässig, liess es in den Teppich seines Oval Office weben und fügte manchmal noch an: Fortschritt werde nicht auf einer geraden Linie erreicht, sondern im Zickzack. „Aber was Amerika aussergewöhnlich macht, ist, dass wir es letztendlich hinkriegen.“ (Eventually, America gets it right.)
Wie das vom „New York Times Magazine“ in Frage gestellte traditionelle Narrativ eines von Beginn an freien und gerechten Staates, basiert auch die Vorstellung eines gerechten Ausgangs der Geschichte auf dem Glauben an eine bessere Zukunft und die Einzigartigkeit Amerikas. Im Kern signalisiert der breite Anklang des 1619 Project, dass viele Amerikaner nicht mehr uneingeschränkt bereit sind, ihrem Land den erforderlichen Vertrauensvorschuss zu geben.