Vor einhundert Jahren begann das Osmanische Reich, etwa eine Million Armenier zu vertreiben und zu töten. Wie in Serbien, Belgien und auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entwickelte sich der erste Weltkrieg auch in Kleinasien zu einem Krieg gegen Zivilisten.
Kühl geplanter Völkermord
„Die Lage der Armenier in der Türkei gilt als verzweifelt. Es handelt sich tatsächlich kaum mehr um eine Ausweisung von Elementen, die man mit der revolutionären Bewegung in Van in Zusammenhang bringen will, sondern um einen vernichtenden Schritt gegen die Rasse im allgemeinen.“
So lauten die ersten Sätze eines Konfidenten-Berichtes, den der k.u.k Botschafter Janos von Pallavicini am 12.September 1915 aus Konstantinopel nach Wien schickte. Durch diese wie durch viele andere Depeschen, die westliche Botschafter, etwa der US-Gesandte Henry Morgenthau, und Konsuln aus dem Osmanischen Reich nach Wien und Berlin und Washington übermittelten, wurde schnell klar, dass die Verfolgung der Armenier keine friedliche Umsiedlungsmassnahme - wie von den Osmanen behauptet - war, sondern ein kühl geplanter Völkermord.
Der deutsche Krieg gegen die Hereros
Lange galten die osmanischen Massaker an den Armeniern als erster Völkermord des an Genoziden, Vertreibungen, ethnischen Säuberungen reichen 20.Jahrhunderts. Inzwischen aber wird auch der deutsche Krieg gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) als Völkermord eingestuft, so etwa durch die Uno-Generalversammlung von 1948.
Im Jahre 1904 hatten sich die Völker der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft erhoben, der Aufstand wurde durch Generalleutnant Lothar von Trotha niedergeschlagen. Danach begann der Völkermord. Lothar von Trotha erliess einen „Vernichtungsbefehl“, in welchem es hiess, jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh müsse erschossen werden. „Ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schiessen.“ 1904 gab es etwa 80´000 bis 100´000 Hereros, 1911 waren es nur noch etwas mehr als 15´000.
Musa Dagh
Freilich hatte der zweite Genozid des 20.Jahrhunderts, jener der Osmanen an den Armeniern, ein weitaus grösseres Ausmass. Franz Werfel hat der Verfolgung und Ermordung von Armeniern in seinem erstmals 1933 erschienenen Roman, „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, ein unvergessenes literarisches Denkmal gesetzt. Unter den Juden des Warschauer Ghettos zirkulierte Werfels Roman als Geheimlektüre. Viele Armenier des Musa Dagh wurden schliesslich von französischen Kriegsschiffen gerettet, die meisten der Warschauer Juden wurden deportiert und verbrannt.
Das Berliner Maxim Gorki Theater hat das Massaker an den Armeniern jetzt zum Anlass genommen, ein eindrucksvolles Dokumentarstück auf die Bühne zu bringen, das sich auf Originalakten und auf den Roman Franz Werfels stützt. In der Aufführung wird auch ein Satz Adolf Hitlers zitiert. Dieser hatte sich den Mord an den Armeniern quasi als Vorbild genommen und Einwände, die Öffentlichkeit würde einen Vernichtungszug gegen die Juden nicht hinnehmen, mit den Worten abgetan: „Wer denkt heute noch an die Armeniermorde ?“
Das Osmanische Reich 1915
An der Seite des deutschen Kaiserreiches und Österreich-Ungarns kämpft der Vielvölkerstaat ums Überleben. An der Macht sind die - so genannten - Jungtürken, die im Jahre 1908 eine konstitutionelle Revolution eingeleitet und ursprünglich allen Völkern im Osmanischen Reich Gleichberechtigung und Freiheit versprochen hatten. Doch die im „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (Itihad ve Tarakki) organisierten neuen Machthaber wandelten sich schnell zu Nationalisten, welche den Vielvölkerstaat, besonders das türkische Stammland in Kleinasien zur Heimat nur eines Volkes machen wollte, zur Heimat der Türken.
Ursache für diese Metamorphose von Befürwortern eines demokratischen Vielvölkerstaates in einen vom Nationalismus geprägten Staat der Türken waren wohl die osmanischen Verluste in den Balkankriegen 1912/13, in denen die Osmanen praktisch ganz aus Europa vertrieben worden waren, sowie die Übernahme des bis dahin osmanischen Libyens 1911 durch Italien.Die führenden Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ wurden durch die für den osmanischen Vielvölkerstaat verheerenden Balkankriege geprägt. Der frühere Postbeamte Mehmet Talaat wurde Innenminister, der Offizier Ismail Enver Verteidigungsminister. Beide entwickelten sich zu den Hauptschuldigen an der Vertreibung und Ermordung der Armenier.
"Streng vertraulich"
Am 16.März 1915 berichtete der deutsche Konsul Paul Schwarz von einer Unterredung mit dem türkischen Vali Sabit Bey. Dieser hatte ihm erklärt, dass die Armenier ausgerottet werden müssten, weil sie eine Bedrohung für die türkische Rasse geworden seien. Sieben Monate später ist dieser Plan grausame Wirklichkeit geworden. Am 24.Oktober 1915 berichtet Heinrich von Albertall, Vertreter des „Kaiserlich-Königlichen Korrespondenzbüros in Konstantinopel“ an das habsburgische Aussenministerium in Wien unter dem Vermerk „Streng vertraulich“ über die Massaker an den Armeniern:
„Soeben habe ich mit dem durchreisenden Pater Dunkel, Direktor des Katholischen Kirchenwesens in Kleinasien, gesprochen. Er sagte mir, dass man in Europa keine Ahnung von den Massacren der Armenier und der sich auf die Katholiken erstreckenden Vernichtungsmassnahmen hat. Auch er schaetzt die Gesamtzahl der vernichteten Armenier auf eine Million. Von Aleppo bis hier begegnete er Armenischen Transporten, die er auf 50.000 Seelen schätzte. Anfänglich sehen die Transporte ziemlich gut aus., bis sie aber Aleppo erreichen, müssen Wagen, Bespannung, Vieh etc. wegen Futtermangels zurückgelassen werden und kommen die Leute dort ahlb verhungert und krank an. und sterben - täglich nach Hunderten. Dass sich die Vernichtung auch auf katholische Armenier, Syrier und Chalddaer ausdehnt, bestaetigte mein Gewaehrsmann. Ueber Ermordungen von Bischöfen, Priestern, Schwestern, Frauen, Kindern erzaehlt mein Gewaehrsmann unglaubliche Schauderdinge.“
Vernichtung der armenischen Rasse
Wie später der Zweite Weltkrieg Hitler zur Vernichtung von sechs Millionen Juden sowie Polen, Ukrainern, Kriegsgefangenen, politischen Gegnern sowohl Vorwand als auch eine Art Schutzschirm bot, so nutzten die Jungtürken die Wirren des ersten Weltkrieges zur Vernichtung der Armenier. Innenminister Mehmet Talaat erklärte im Juli 2015, sein Reich nutze den Krieg, um mit „inneren Feinden - den einheimischen Christen aller Konfessionen - gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslands gestört zu werden“. Der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim berichtete nach Berlin, „dass die türkische Regierung tatsächlich den Zweck“ verfolge, „die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten“.
Wie schon die deutsche Kolonialmacht in Deutsch-Südwestafrika die Hereros in die Wüste getrieben und dort hatte verdursten und verhungern lassen, so trieben auch die Osmanen Zehntausende von Armeniern in die syrische Wüste, wo sie auf erbärmliche Weise umkamen.
Keine legitime Abwehrmassnahme
Der laufende Völkermord an den Armeniern war den deutschen Politikern bekannt. Sie förderten diesen wohl nicht, aber sie duldeten ihn. Reichskanzler Bethmann-Hollweg erklärte im Jahre 1915: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.“
Diese Haltung war keineswegs unumstritten - auch nicht bei deutschen Diplomaten. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Wulff-Metternich (Nachfolger von Botschafter Wangenheim) kabelte 1915 nach Berlin, man solle die Greuel an den Armeniern in der deutschen Öffentlichkeit verbreiten und mit den Türken nicht so milde umgehen. Den türkischen Behörden gegenüber erklärte er, dass „die Verfolgung und Misshandlung von Hunderttausenden unschuldiger Personen keine legitime Abwehrmassnahme eines Staates“ sei.
„Der Todgesang des armenischen Volkes“
Zum grossen Mentor der Armenier wurde der Pfarrer Johannes Lepsius. Dieser hatte schon nach den Massakern an den Armeniern in den Jahren 1894 bis 1896 unter dem Sultan Abdulhamid II. ein grosses Armenier-Hilfswerk gegründet. 1916 schliesslich veröffentlichte er ein Buch - an der deutschen Zensur vorbei. Dieser „Bericht über die „Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ wurde unter der Hand an etwa 20´000 Empfänger verteilt und schilderte präzise den bis dahin erkennbaren Verlauf des Völkermordes an den Armeniern.
Kurz darauf traf Lepsius den osmanischen Kriegsminister Enver Pascha. In einem langen Gespräch, das auf der Bühne des Berliner Gorki Theaters eindrucksvoll nachgestellt wird, forderte er Enver Pascha auf, den Völkermord einzustellen. Nach dem Gespräch mit dem osmanischen Kriegsminister erweiterte Johannes Lepsius seinen Bericht über den Genozid an den Armeniern mit dem Inhalt der Unterredung. Der Titel der Neuauflage lautet „Der Todgesang des armenischen Volkes“. Insgesamt geht die Forschung heute davon aus, dass dem Völkermord 1 - 1,4 Millionen Armenier zum Opfer gefallen sind.
Die Rache
Dei Hauptschuldigen am armenischen Genozid fanden in Deutschland Unterschlupf. Enver Pascha wohnte zunächst in Potsdam, suchte von dort aus Kontakt zur neuen Sowjetmacht, um diese gegen die Briten zu einem Krieg in Mittelasien zu gewinnen. 1920 ging Enver Pascha nach Buchara. Dort beteiligte es sich am Unabhängigkeitskampf gegen die Sowjetunion. Er fiel in der Nähe der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. 1996 wurden seine Überreste nach Istanbul übergeführt und dort am Denkmal der jungtürkischen Revolution noch einmal beigesetzt.
Wie Enver Pascha wurde auch Talaat Pascha von einem deutschen U-Boot aus der Türkei evakuiert. Er lebte dann in der Hardenbergstrasse in Berlin. Am 19.März 1921 wurde er dort von Soghomon Tehlirian erschossen. Der Attentäter war Mitglied eines geheimen armenischen Kommandos, das den Genozid an den Armeniern rächen wollte. Im folgenden Mordprozess wurde Tehlirian freigesprochen. Der Richter glaubte ihm seine Aussage, dass er von der Schuld Talaat Paschas am Völkermord überzeugt war.
Quellen: The Armenian Genocide. Vol. 2. Institut für Armenische Fragen, München 1988 - Hans-Lukas Kieser: „Krieg, das heisst Leben für die Türkei. Ein historischer Überblick über den Völkermord an den Armeniern.“ In: Zenith, Zeitschrift für den Orient, ,Heft März/April, Berlin 2015 - Rolf Hosfeld: Eine „Ära der Säuberungen“: der Völkermord an den Armeniern“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft April, Berlin 2015.