Im Ersten Weltkrieg hat nicht allein die österreichisch-ungarische Armee auf dem Balkan und in der Ukraine schwerste Kriegsverbrechen verübt. Auch in Belgien wurden Tausende Zivilisten hingerichtet – von den deutschen Invasoren.
Schöne Worte, falsche Hoffnung
Als die deutsche Armee im August 1914 in Belgien einmarschierte, hoffte sie auf einen schnellen Sieg über die vermeintlich schwachen Verteidiger. Um die Zivilbevölkerung gefügig zu machen, erklärte General von Emmerich am 4.August 1914, die Deutschen wollten durch Belgien lediglich hindurchmarschieren, die einheimische Bevölkerung werde nicht als Feind betrachtet.
Schöne Worte, falsche Hoffnung. Die belgische Gegenwehr erwies sich als überraschend stark; vor Lüttich regte sich Widerstand, den die Befehlshaber der deutschen Invasionsarmee von einer Million Mann nicht erwartet hatten. Schon in dem Ort Vise trafen deutsche Soldaten auf Widerstand, sie „schossen wahllos auf Einwohner und erschossen zwei Personen“ auf den blossen Verdacht hin, dass diese eine Brücke gesprengt hätten. Das schreiben die britischen Autoren John Horne und Alan Kramer in ihrem Buch „Deutsche Kriegsgreuel 1914“.(1)
Wachsender Groll
Weil die Deutschen die Schuld an dem Widerstand auch belgischen Zivilisten zuschoben, erschossen sie am folgenden Tag zehn Belgier, darunter eine Familie mit fünf Kindern. Dieser Vorfall, schreiben die Autoren, sei allerdings nur ein Vorspiel jener Greuel, die noch kommen sollten. Vom 5. bis zum 8. August habe die deutsche Invasionsarmee 850 Zivilisten erschossen und 1300 Gebäude in Brand gesteckt.
Nicht viel später, am 8. August, steckten die Invasoren bei dem Ort Herve 300 Wohnhäuser und Bauernhöfe in Brand und töteten 38 Einwohner – die meisten von ihnen, als diese aus ihren brennenden Häusern flohen.
Vor den Forts von Lüttich trafen die deutschen Befehlshaber auf erheblichen Widerstand nicht nur der regulären belgischen Verteidiger, sondern auch der Zivilbevölkerung. Die Autoren berichten: „Viele hielten eine nationale Selbstverteidigung durch die belgische Armee für ungerechtfertigt. Der Groll über den unerwartet bitteren Widerstand der Forts und die Vorstellung, hinter jedem Fenster lauere ein Heckenschütze, hatten eine Verteufelung des belgischen Volkes zur Folge. Geprägt von der Erinnerung an die französische Kriegführung mit Freischärlern 1870/71 gingen die deutschen Soldaten einfach davon aus, dass sie sich im Krieg mit irregulären belgischen Einheiten, das heisst Francs-tireurs, befänden ...“
Panik und Massaker
Am 20. August erreichten deutsche Truppen bei ihrem Marsch auf Namur die Maas und bauten dort eine Pontonbrücke, über die sie die Maas zu überqueren begannen. Plötzlich, schreiben die Autoren, hätten die Deutschen bei dem Ort Seilles „wie wild geschossen“, die Auseinandersetzung sei auf Andenne übergesprungen und „hielt die ganze Nacht an; sie endete schliesslich in einer Massenexekution, die Andenne-Seilles zu einem der bekanntesten Zwischenfälle deutscher Gewalt gegen Zivilisten während der Invasion machte.“
Im Laufe der Kämpfe sei es, nach glaubwürdigen belgischen Augenzeugen, zu einer Panik unter den deutschen Truppen gekommen. „Während der ganzen Nacht des 20./21.August streiften Soldaten durch die Strassen auf beiden Seiten des Flusses, drangen in Häuser ein und töteten Zivilisten. In Seilles wurden 41 Einwohner getötet und 150 Häuser niedergebrannt. In Andenne wurde Bürgermeister Camus in seinem Haus aufgespürt und mit einem Beil erschlagen. Bald nach der ersten Schiesserei nahmen die Deutschen eine Gruppe von 17 Zivilisten fest und brachten 13 von ihnen (darunter Frauen, junge Mädchen und ein Baby) mit Schüssen und Bajonetten um.“
Löwens trauriger Ruhm
Traurige Berühmtheit erlangte danach die Zerstörung Löwens, damals eine ruhige Stadt von „wohlhabenden Rentnern, Gelehrten, Priestern, Mönchen und Nonnen“, wie die Autoren sie charakterisieren. Löwen war eine offene Stadt, als die Deutschen am 19.August einmarschierten. Die belgischen Behörden hatten die Bewohner aufgefordert, keinerlei Widerstand zu leisten. „Die deutschen Soldaten marschierten mit klingendem Spiel ein, sangen ´Die Wacht am Rhein´ und fanden eine eingeschüchterte Bevölkerung vor.“ Die Deutschen warnten die Einwohner auf Plakaten davor, Widerstand zu leisten. Würde auch nur eine einzige Waffe gefunden, würde der Besitzer „ohne Pardon“ hingerichtet.
Am 25. August hörte man plötzlich Schüsse und Alarmsirenen. „Das löste in der ganzen Stadt Schusswechsel aus, während derer die Soldaten in Häuser eindrangen und von dort aus auf die Strassen schossen. Männer wurden vor den Augen ihrer entsetzten Angehörigen aus ihren Häusern gezerrt, einige wurden misshandelt und auf der Stelle erschossen ...“ Insgesamt, schreiben die Autoren, wurden 248 Zivilisten getötet, ein Sechstel aller Gebäude zerstört, darunter die Universitätsbibliothek mit ihrer Sammlung „alter Bücher und mittelalterlicher Handschriften“.
Falsche Voraussetzung
Der deutsche Vormarsch durch Belgien erwies sich von Tag zu Tag als schwieriger, als es der Schlieffenplan vorgesehen hatte. Dieser hatte vorgesehen, über einen starken rechten Flügel die belgische Armee zu umfassen und dann durch Frankreich auf Paris vorzustossen. Eine Voraussetzung dafür war die Erwartung, dass Belgien kaum oder keinen Widerstand leisten würde. Diese Erwartung aber erfüllte sich nicht.
Die Autoren schreiben: „Als die Mängel des Schlieffenplanes immer deutlicher wurden und Frustration und Spannungen in der Truppe zunahmen, erwies sich der vermeintliche "belgische" (Anm. d. Verf.) Volkskrieg als nützlicher Südenbock. Der Schock und die Verwirrung über die demütigende Abfuhr vor den Lütticher Forts löste unter den Soldaten unmittelbar den Wahn von eigenem Francs-tireurs-Krieg aus.“
Die Klage des Generals
Vor allem konnte die deutsche Armee die im Schlieffenplan vorgesehene Schnelligkeit des Marsches durch Belgien nicht durchhalten. Das lag aber nicht an einem von den Deutschen vermuteten Krieg der Freischärler, sondern am, wie die Autoren schreiben, geschickten und wendigen Verhalten der regulären belgischen Armee. Über den Ort Aarschot schrieb der deutsche General Beseler am 20.August 1914: „Der Ort hier ist halb verbrannt und schrecklich zugerichtet; die Einwohner haben sich gestern sehr feindselig gezeigt und sind sehr streng bestraft worden. Viele arme Unschuldige müssen mit leiden! Diese Art Kriegführung, die uns durch verbrecherische Toren aufgezwungen wird, ist entsetzlich. Wenn die Menschen doch Vernunft annehmen wollten.“
Und wenn der Nachschub nicht klappte, was – auch im Gegensatz zu den Planungen Schlieffens – oft geschah, kam es zu ausgedehnten Plünderungen durch deutsche Truppen. Dieses Verhalten wiederum stand in krassem Gegensatz zu dem edlen Bild deutscher Disziplin, das in der Heimat von der Invasionsarmee gezeichnet wurde.
Kollektiver Wahn
Die Autoren sprechen von einem kollektiven Wahn, den die deutsche Truppe angesichts des überraschend langsamen Vormarsches und des belgischen Widerstandes befallen habe. Denn das Hauptziel des Feldzuges, so war es den Soldaten eingebleut worden, sei nicht Belgien, sondern Frankreich. Deshalb hätten die Deutschen jeden belgischen Widerstand als illegitim betrachtet, hätten daher um so härter jede Obstruktion – sei es durch die belgische Armee oder belgische Zivilisten – hart „bestraft“.
Das Buch der beiden Autoren ist voll von weiteren Beispielen für deutsche Kriegsverbrechen. Über ihre Quellen schreiben die Autoren , es gebe eine Fülle unveröffentlichter Quellen – zum Beispiel jene, welche die von den Regierungen Belgiens und Frankreichs eingesetzte Untersuchungskommission über deutsche Kriegsverbrechen gesammelt hatten. „Dieses Material“, schreiben die beiden Historiker, „sowie die auf verschiedene deutsche Archive verstreuten Nachlässe deutscher Offiziere und Soldaten haben sich als unverzichtbare Quelle erwiesen.“
Prozesse
Die deutschen Kriegsverbrechen blieben nach Kriegsende nicht ohne Folgen. Das “unterstellte verbrecherische Verhalten Deutschlands“ (wie sich die Autoren ausdrücken) führte unter anderem zu Artikel 227 des Versailler Vertrages, in welchem gefordert wurde, Kaiser Wilhelm II. vor Gericht zu stellen. Artikel 228 bis 230 sahen vor, Kriegsverbrecher anzuklagen. Später forderte eine von den Siegermächten eingesetzte Kommission die Einberufung eines internationalen Strafgerichtshofes. Auch wurde die Auslieferung Wilhelms II., Hindenburgs und anderer Offiziere besonders von den Rechtsparteien der jungen Weimarer Republik strikt abgelehnt. Natürlich regte sich auch im deutschen Militär Widerstand. Es kam sogar zur Gründung einer Geheimorganisation von Militärs und rechter Gruppen, die etwa 8000 Verstecke vorbereitete, in denen sie Offiziere und Soldaten, die Kriegsverbrechen angeklagt werden könnten, verbergen wollte.
Schliesslich schlug der britische Premier Lloyd George vor, Personen, die der Kriegsverbrechen beschuldigt wurden, vor deutschen Gerichten abzuurteilen. Dies geschah vor dem Leipziger Reichsgericht 1921. (2) Zunächst, 1920, sollten 853 mutmassliche Kriegsverbrecher an die Siegermächte ausgeliefert werden. 1921 aber wurden nur noch 45 Personen vor dem Leipziger Reichsgericht angeklagt, darunter klagte Frankreich elf, Belgien fünfzehn, Gross-Britannien sieben mutmassliche Kriegsverbrecher an. Aus Italien, Polen, Rumänien und (dem gerade gegründeten) Jugoslawien kamen zwölf Anklagen, wie die Autoren auflisten.
Gegen einige der Angeklagten konnte wegen Abwesenheit nicht verhandelt werden, andere wurden verurteilt. Es gab auch Freisprüche – etwa den des Generals Stenger, der von Frankreich beschuldigt worden war, den Befehl gegeben zu haben, in Lothringen französische Gefangene zu erschiessen. Die Beweise, schreiben die Autoren, gegen Stenger wogen schwer, trotzdem gab es einen Freispruch – der in Frankreich naturgemäss auf Empörung stiess.
Im höchsten Masse unbefriedigend
Insgesamt sprechen die Autoren von einem Scheitern der Leipziger Prozesse. Gross-Britannien gab sich zwar zufrieden, Frankreich dagegen kritisierte den Ausgang. In London wollte die Regierung die ganze Sache „hinter sich lassen“, Frankreich unter Aristide Briand verwies die Angelegenheit einer „Interalliierten Kommission“. Die stellte schliesslich fest, die Prozesse in Leipzig seien „im höchsten Masse unbefriedigend“ gewesen.
Was nach dem ersten Weltkrieg nicht gelang, Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, hatte dann nach dem 2. Weltkrieg in den Nürnberger Prozessen Erfolg. Die Leipziger Prozesse bezeichnen die Autoren der umfangreichen und detailliert recherchierten Studie John Horne und Alan Kramer als Siegerjustiz zu den Bedingungen des Verlierers. Nach 1945 hatte der Verlierer keinerlei Bedingungen mehr zu stellen.
(1) John Horne und Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hamburger Edition, 741 S., Hamburg 2004. Englische Originalausgabe 2001.
(2) In der Wikipedia gibt es unter dem Titel „Leipziger Prozesse“ einen ausführlichen Beitrag mit vielen Quellenangaben. Hier werden auch Prozesse behandelt, die, etwa in Frankreich, in Abwesenheit der deutschen Angeklagten geführt wurden.