„In Sabac töteten die österreichisch-ungarischen Truppen über sechzig Zivilisten vor der Kirche. Diese waren vorher darin gefangen gehalten worden. Sie wurden von acht ungarischen Soldaten mit dem Bajonett abgeschlachtet, um, so hieß es, Munition zu sparen.“
Dieses Massaker vom 17. August 1914 an Zivilisten in der serbischen Stadt Sabac bezeugt ein gefangener Soldat des 32. k.und k.-Landwehrregiments. Der erste Weltkrieg war an diesem 17.August 1914 gerade einmal drei Wochen alt. Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.Juni 1914 durch den bosnischen Serben Gavrilo Princip hatte Österreich-Ungarn Serbien am 22.Juli ein Ultimatum mit zehn Punkten gestellt.
Serbien hatte alle Punkte am 25.Juli angenommen – bis auf jenen, der Österreich-Ungarn Mitsprache bei der Untersuchung des Attentates von Sarajewo garantiert hätte. Österreich-Ungarn vermutete die Hintermänner des Attentates von Sarajewo - zu Recht - in Belgrad.
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte nach der versöhnlichen serbischen Antwort geäußert, nun gebe es keinen Kriegsgrund mehr. Doch Österreich hatte schon lange geplant, Serbien in die Knie zu zwingen. Es lehnte die entgegenkommende Antwort der serbischen Regierung ab und erklärte am 28.Juli 2014 Serbien den Krieg. Wilhelm II. hatte schon lange vorher bekundet, er werde der habsburgischen Monarchie im Kriegsfalle „mit schimmernder Wehr“ beistehen.
Polizei-Experte Archibald Reiss
Gleich am Anfang dieser Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts kam es zu dem oben zitierten Massaker in der serbischen Stadt Sabac. Aufgezeichnet hat dieses Kriegsverbrechen Rodolphe Archibald Reiss.
Archibald Reiss wurde 1875 im Großherzogtum Baden geboren, studierte später in der Schweiz und promovierte 1898 in Lausanne. Er war Photographie-Experte und gründete 1898 das Journal suisse des photographes. 1901 wurde er in Lausanne eingebürgert. Von 1906 bis 1919 war er Professor für Polizeiphotographie an der Universität Lausanne.
Sein Ruf als Polizei-Experte und die Tatsache, daß er Bürger der neutralen Schweiz war, brachten Archibald Reiss von der Königlich Serbischen Regierung in Belgrad den Auftrag ein, die von Serbien behaupteten Kriegsverbrechen der k.u.k-Truppen zu untersuchen. Nach intensiven Recherchen legte Reiss eine 192 Seiten umfassende Dokumentation vor. Sie trägt den Titel:
"The Kingdom of Serbia – Report upon the Atrocities Committed by the Austro-Hungarian Armee during the first Invasion of Serbia – Submitted to the Serbian Government by R.A. Reiss, D.Sc. Professor at the University of Lausanne.“
"Fanatischer Hass gegen uns"
Nach einer detaillierten, peniblen Recherche hat Professor Reiss die Behauptungen der serbischen Regierung bestätigt, daß die k.u.k.-Armee während ihrer ersten Invasion Serbiens im Sommer 1914 tatsächlich Kriegsverbrechen begangen hat. Sie gehörten zu den ersten in diesem ersten verheerenden Krieg des 20.Jahrhunderts – und sie waren, im Nachhinein betrachtet, dunkle Vorboten dessen, was kurze Zeit später deutsche Truppen in Belgien anrichteten - und Vorboten des Grauens, das die Soldaten aller Seiten etwa in der Marneschlacht und vor Verdun erwartete.
Wesentliche Ursache dieser Barbarei war die Verteufelung des Kriegsgegners. So heißt es etwa in einer „Direktion für das Verhalten gegenüber der Bevölkerung in Serbien“, die vom 9. k.u.k.-Corpskommando herausgegeben wurde: „Der Krieg führt uns in Feindesland, das von einer mit fanatischem Hass gegen uns erfüllten Bevölkerung bewohnt wird, in ein Land, wo der Meuchelmord, wie auch die Katastrophe von Sarajewo zeigt, selbst den höher stehenden Klassen als erlaubt gilt, wo er gerade als Heldentum gefeiert wird. Einer solchen Bevölkerung gegenüber ist jede Humanität und Weichheit höchst unangebracht, ja geradezu verderblich, weil diese, sonst im Krieg ab und zu möglichen Rücksichten, die Sicherheit der eigenen Truppen schwer gefährden würde.“ (Zitat aus „Veliki Rat- Der Große Krieg“, ausführliche Quellenangabe am Schluß).
"Du serbisches Schwein"
Professor Reiss gibt in seinem Bericht eine ausführliche Darstellung seiner Untersuchungsmethoden. Er habe die Zeugen, meistens serbische Bauern, intensiv befragt, diese hätten ihn zugleich an die Orte der von ihnen behaupteten Massaker geführt, so daß er die Berichte an Ort und Stelle habe verifizieren können. Auch hätten die Massaker meistens schon ein paar Tage zurück gelegen, so daß die ersten Emotionen der Zeugen abgeklungen seien. Reiss schreibt: „Die Gefahr der Übertreibung durch pesönliche Erregung, welche anfangs so natürlich ist, war weitgehend ausgeräumt. Ich stellte auch fest, daß die serbischen Bauern dazu neigen, eher zu wenig als zu viel zu sagen. Schließlich hat das Unglück sie in einem solchen Maße deprimiert, daß sie dahin gekommen sind, das Übel, das sie befallen hat, als natürlich und unvermeidbar zu betrachten. Dies ist ein Gemütszustand, der nicht zu Übertreibung prädisponiert.“
So ist zum Beispiel folgender Bericht über eine Exekution ohne Gerichtsverhandlung durchaus glaubhaft. Im serbischen Dorf Velika Reka habe ein Zeuge gesehen, wie Leutnant Joseph Berticz von der österreichisch-ungarischen Armee zwei alte Männer von etwa 70 Jahren und fünf Jungen von etwa 14 und 15 Jahren erschossen habe. Reiss faßt den Bericht des serbischen Zeugen so zusammen: „Lieutenant Berticz ging zum ersten Mann, einen Taubstummen, schlug ihn zuerst und dann einen anderen mit der Faust und sagte: „Du serbisches Schwein, dies ist für Dich“. Dann ließ er den ersten Mann vorführen und erschießen. Der zweite wurde zu Tode bayonettiert. Die fünf Jungen wurden in einem Kugelhagel erschossen.“
"Man mache diese Leute nieder"
Diese Barbarei war von der Armeeführung mehr als geduldet, sie war Mittel der Kriegführung. In dem oben zitieren Corpsbefehl heißt es denn auch: „Ich befehle daher, daß während der ganzen kriegerischen Aktion die größte Strenge, die größte Härte und das größte Mißtrauen gegen jedermann zu walten hat. Beim Durchmarsch nehme man sie (die Bewohner, Anm.d. Autors) möglichst bis zum Passieren der Queue mit und mache sie unbedingt nieder, wenn auch nur ein Schuß in der Ortschaft auf die Truppe fällt. ... In jedem Einwohner, den man außerhalb der Ortschaft, besonders aber in Waldungen trifft, sehe man nichts als Bandenmitglieder, welche Waffen irgendwo versteckt haben. Diese zu suchen haben wir keine Zeit. Man mache diese Leute, wenn sie halbwegs verdächtig erscheinen, nieder.“ (Aus: „Veliki Rat, Der Große Krieg“).
Man kann diese Anweisungen, wie Archibald Reiss es getan hat, getrost als eine Aufforderung zum Massaker verstehen. Professor Reiss sieht die Schuld für diese Barbarei in den ersten Tagen des Weltkrieges durchaus nicht oder nicht nur bei den einfachen Soldaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. In einer längeren Analyse, wie es zu den Massakern kommen konnte, schreibt Professor Reiss:
„Beides, die Beweise und die Dokumente bestätigen zudem die Tatsache des Vorsatzes und einer langen Vorbereitung. ... Die österreichisch-ungarischen Soldaten, die sich auf serbischem Territorium plötzlich jenen Menschen gegenüber sahen, die ihnen stets als Barbaren geschildert worden waren, waren verängstigt und verschreckt. Aus Angst, selbst massakriert zu werden, verübten sie vermutlich ihre ersten Grausamkeiten.“
"In ein blutrünstiges Biest verwandelt"
Professor Reiss fährt fort: „Aber angesichts des Blutes entwickelte sich ein Phänomen, das ich oft Gelegenheit hatte zu beobachten: der Mensch wurde in ein blutrünstiges Biest verwandelt. ... In dem Augenblick, da das blutrünstige und sadistische Biest von seinen Ketten befreit und von seinen Vorgesetzten losgelassen war, wurde das Werk der Zerstörung konsequent ausgeführt - von Männern, die Väter von Familien und vermutlich in ihrem Privatleben freundliche Leute waren.“
Professor Reiss kommt zu dem Schluß, daß die eigentlichen Verantwortlichen dafür, daß die niedrigen Instinkte des Menschen losgelassen wurden, die Vorgesetzten der einfaschen Soldaten gewesen seien. Mehr noch, diese Menschen hätten die niedrigen Instinkte erst erweckt.
Ein Freund Serbiens
Archibald Reiss blieb Serbien verbunden. Nach der Niederlage des Landes gegen Österreich-Ungaren im Jahre 1915 schloß er sich der fliehenden Armee an und teilte ihre Strapazen beim Überschreiten der albanischen Gebirge. Nach dem Krieg blieb er in Serbien, war sogar Mitglied der serbischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris. Danach versuchte er sich an der Reorganisation der serbischen Polizei. Er blieb bis zu seinem Tod in Serbien und wurde auf dem Belgrader Friedhof Topcider begraben. Neuerdings werden in Serbien alljährlich die Archibald-Reiss-Tage veranstaltet, organisiert von der Akademie für Kriminalistik und Polizeistudien.
Ob sich Professor Archibald Reiss stets in Serbien wohl gefühlt hat und warum er nicht in die Schweiz zurückgelehrt ist, bleibt unklar. Einigkeit aber besteht darüber, daß er seine Forschungen zu den Kriegsverbrechen Österreich-Ungarns vorurteilsfrei geführt hat. Ob aber die Soldaten Österreich-Ungarns, die in serbische Kriegsgefangenschaft kamen, von Serbien so gut behandelt wurden, wie Reiss es in seinem Schlußkapitel beschreibt, kann bezweifelt werden.
"Ein Volk an der Spitze der Zivilisation"
Manche dieser Gefangenen hätten sich, schreibt Reiss, teilweise mit Serbien solidarisiert. Im Übrigen seien sie jederzeit gut behandelt worden. Möglicherweise ist dieses Kapitel ein Kotau vor den serbischen Auftraggebern von Archibald Reiss. Unbestritten aber sind die Ergebnisse seiner Forschungen zu den Massakern in Sabac und anderen Orten geblieben. Von Österreich-Ungarn wurden diese Greueltaten kaum je bestritten.
Archibald Reiss beklagt, daß diese Massaker auf das Konto eines Staates gegangen seien, dessen Volk sich an der Spitze der Zivilisation gesehen habe und das seine „Kultur“ anderen bringen wollte, welche diese Kultur gar nicht akzeptiert hätten.
Diese tragischen Ereignisse liegen, auf den ersten Blick wenigstens, in einer fernen Vergangenheit, sie wecken, allenfalls, historisches Interesse – oder?
Die Welt hat sich nicht wesentlich geändert
Ein Jahrhundert später bezeugen die Kriege der Gegenwart, daß sich die Welt nicht wesentlich geändert hat – auch nicht nach der zweiten großen Katastrophe mit ihren Völkermorden, Vertreibungen und Massakern. Die Bestrebungen der USA etwa, den Irakern Demokratie zu bringen, endeten mit im Gefängnis von Abu Graib bei Bagdad. Heute sterben auf den Straßen Bagdads und anderer irakischer Städte fast täglich Zivilisten bei Bombenanschlägen von Al-Qaida-Fanatikern.
In Afghanistan werden Hunderte von Zivilisten bei amerikanischen Drohnenangriffen – versehentlich natürlich – getötet. Und im Vergleich mit den Leiden der syrischen Bevölkerung sind die Qualen, welche österreichisch-ungarische Offiziere vor einhundert Jahren den Serben in Sabac zugefügt haben, fast eine Randerscheinung. Und Serben selbst haben im bosnischen Srebrenica skrupellos wehrlose Muslime getötet – zu Tausenden.
Der Krieg gegen die Zivilbevölkerung ist auch einhundert Jahre nach Sabac nicht zu Ende.
Quellen: Rodolphe Archibald Reiss „Report upon the Atrocities Committed by the Austro-Hungarian Army during the first Invasion of Serbia.“ (Zu erhalten bei Amazon) – Gordana Ilic Markovic (Hrsg): „Veliki Rat – Der Große Krieg. Der erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse.“ Promedia Verlag Wien 2014. - Wikipedia-Artikel über Archibald Reiss.