Farbe ist das primäre Element in Katharina Grosses Werk. Sie zeigt in Bern Studio-Arbeiten aus über drei Jahrzehnten. Ihre Malereien setzen in exemplarischer Weise auf aktives Betrachten und eine Offenheit für noch nicht Gesehenes, die auch über die Kunst hinaus gelten soll.
Der erste Eindruck ist überwältigend. Ungestüme Farbigkeit, weit ausgreifende Gesten und mächtige Formate bestimmen das generöse Ambiente, das die Kunstinteressierten im Berner Museum erwartet. Eine Haltung des kraftvollen Zugreifens und der beherzten Entschlüsse wird da zelebriert, eine Kunst der Experimente und Wagnisse.
«Studio Paintings 1988–2022» heisst die Werkschau, mit der das Berner Kunstmuseum die deutsche Malerin Katharina Grosse (*1961) vorstellt. Es geht hier also um «klassische» Tafelbilder, transportable Grossobjekte und Bilder mit skulpturalen Elementen, aber nicht um die für Katharina Grosse ebenfalls wichtigen In-Situ-Arbeiten wie Kunst am Bau oder Land-Art-Projekte.
Gemeinsam ist den Studio Paintings bei aller Verschiedenartigkeit die Vorrangigkeit des Elements Farbe. Die reinen ungemischten Farben sind mit grossen Gesten gepinselt, gebürstet, gesprüht, gedrippt. Sie überdecken und verschlingen sich und erzeugen weiträumige Bildlandschaften, mal in elementar einfachen Ordnungen, mal in komplexen Texturen. Auf einem der Bilder stehen sich, in groben vertikalen Bürstenstrichen aufgetragen, die Komplementärfarben Rot und Grün gegenüber. Sie überlagern und durchdringen sich in der mittigen Grenz- oder Begegnungszone.
Fast alles, was man von einem Bild meint erwarten zu können, ist da ganz einfach weggelassen. Mit diesem gestalterischen Prinzip stellt sich Katharina Grosse in eine Reihe, die bis an den Anfang der modernen Kunst zurückreicht. Die Suche nach neuen Ausdrucksformen der Malerei hat seit dem frühen 20. Jahrhundert mehrfach an solche Nullpunkte geführt, zu Versuchen, ohne jeden Inhalt die reine, leere Form der Bildkunst zu erfassen und so die Malerei quasi neu zu eichen. Kasimir Malewitschs berühmtes Schwarzes Quadrat von 1915 ist in diesem Sinn der Big Bang der Moderne.
Es war 1998 in Bern, als Katharina Grosse mit einer Aktion in der Kunsthalle ziemlich unverhohlen an Malewitsch anknüpfte. Dessen zum Skandal- und Offenbarungsbild gewordenes Gemälde war in der Petersburger Ausstellung 0,10 auffällig oben in die Ecke des Raums gehängt – ein Platz, den damals in russischen Häusern oft eine Ikone einnahm und der somit den programmatischen Charakter des Bildes in Szene setzte.
Genau eine solche obere Ecke wählte vor 25 Jahren auch Katharina Grosse für ihre programmatische Kunsthallen-Arbeit: Sie sprayte dort eine monochrome formlos-grüne Fläche direkt auf die Wand (abgebildet im Katalog zur Grosse-Ausstellung). Es war ein provokatives Statement ihrer Kunstauffassung, die bestrebt war, von so gut wie allen Konventionen des Bildermachens und -betrachtens Abstand zu gewinnen: weg vom konventionell definierten Format, weg von der gewohnten Museumspräsentation, weg vom Kanon des Kunstschönen, weg von klassischen Maltechniken (das Sprayen war in der Kunst noch keineswegs gängig), weg von interpretierbaren Inhalten und Formen – kurz: ein Nullpunkt von kaum geringerer Radikalität als der 1915 von Malewitsch gesetzte.
Katharina Grosse hat sich in eine Position begeben, von der aus alles, was Kunst ausmacht, neu gedacht und erprobt werden kann.
Bei ihrer Reduktion auf Null ging es Katharina Grosse genauso wenig wie ihrem kunsthistorischen Vorläufer um blossen Skandal. Mit der Substraktion aller Konventionen des Bildermachens hat sie sich vielmehr in eine Position begeben, von der aus alles, was Kunst ausmacht, neu gedacht und erprobt werden kann. Rüstzeug und Inspiration für diesen radikalen Ansatz hat sie von der berühmten Düsseldorfer Kunstakademie mitgenommen, in der Joseph Beuys und Gerhard Richter lang nachwirkende Spuren gelegt hatten.
Bei den damaligen «Düsseldorfern» herrschte eine tiefe Skepsis gegenüber den Institutionen des Kunstbetriebs und dem Medium Malerei. Richter, einer von Katharina Grosses Lehrern, behalf sich malend mit dem Umweg über die Fotografie. Es ging ihm darum, den Konventionen des Figurativen zu entkommen und sich trotzdem der zur Abstraktion driftenden Zeitströmung widersetzen zu können. Andere im Düsseldorfer Kunstreaktor herangereifte Protagonisten rieben sich heftig an der Einbettung der Kunstwelt in bildungsbürgerliche Milieus und insistierten auf «dem Politischen» ihrer Arbeiten.
Diesen Spirit hat Katharina Grosse aus Düsseldorf mitgenommen. Doch für dogmatische Fixierungen war und ist sie nicht zu haben. Sie ist als Künstlerin eine Suchende, was bei ihr nichts Selbstquälerisches hat, sondern vielmehr einer wesenhaften Offenheit und nicht zu bändigenden Neugier und Experimentierlust entspringt. So hat sie als Absolventin der Düsseldorfer Akademie sich für die Barockmeister Gian Lorenzo Bernini und Peter Paul Rubens begeistert – genauso wie für Paul Cézanne, Henri Matisse, Lucio Fontana, John Cage und Nam June Paik.
Ein vielfach abgewandeltes Muster bei Katharina Grosse ist das der Schichtung. Auf gesprühte oder gepinselte Flächen kommen neue Farbschichten so zu liegen, dass der vorherige Auftrag sichtbar bleibt. Abdeckungen mit Schablonen und collagierte Bildelemente können hinzukommen und komplexe, mitunter rätselhafte Bildwirkungen hervorrufen.
Ihre oft sehr grossformatigen Bilder malt Katharina Grosse auf dem Boden des Ateliers. Und sie malt schnell, oft mehrere Bilder gleichzeitig und über die Bildränder hinweg. Zu ihren bevorzugten Werkzeugen gehört eine industrielle Spritzpistole. Wenn sie mit Pinseln oder Bürsten arbeitet, dann sind diese meist an langen Stangen befestigt. Ihre künstlerische Handschrift ist gewissermassen technisch vergrössert, Malen heisst bei ihr voller Körpereinsatz.
Malen heisst bei Katharina Grosse voller Körpereinsatz.
Auf das Mischen von Farben verzichtet sie bewusst. Seit Langem verwendet sie nur reine Industriefarben. Mischungen entstehen einzig optisch durch Schichtungen auf dem Malgrund. Bei einzelnen Stücken hat Katharina Grosse einen Teil der Bildfläche mit Erde abgedeckt und diese nach dem Malvorgang wieder entfernt. Andere Exponate waren nach der Fertigstellung ganz oder teilweise eine zeitlang im Erdboden eingegraben. Beide Verfahren hinterlassen Spuren auf den Artefakten, die somit gleichzeitig «Naturafakten» sind.
Das Material Erde ist für Katharina Grosse der natürliche Gegenpart zum technisch-industriellen Arsenal ihrer Malweise. Es bringt ein unkontrollierbares Element in die Produktion hinein. Einmal war der Wunsch nach dieser Kontingenz-Einwirkung so stark, dass Katharina Grosse die gesamte Bodenfläche ihrer Atelierhalle mit Erde bedecken wollte. Sie liess hiefür zwei Tonnen Erde anliefern und wunderte sich, wie sie lachend erzählt, wie schwer dieses Material ist und wie klein die damit erlangte erdige Fläche im Atelier blieb.
«Alles ist Bild. Alles ist Vorstellung. Meine Bilder sind Prototypen dieser Erkenntnis.»
Die Anekdote wirft ein Licht auf Katharina Grosses unerschrockenes Experimentieren. Da sie es darauf anlegt, mit ihren Arbeiten die Betrachter mit etwas zu konfrontieren, was sie noch nicht kennen, konfrontiert sie gern zuerst einmal sich selbst mit etwas, das sie noch nicht kennt. Da die Möglichkeiten des Bildermachens unabsehbar und nie ausgelotet sind, treibt die Malerin sich selbst zu immer neuen Erfahrungen. Ihre Bilder wollen die Betrachter mitnehmen in eine derartige Offenheit. Die Maxime ihrer Kunstproduktion beschreibt sie so: «Alles ist Bild. Alles ist Vorstellung. Meine Bilder sind Prototypen dieser Erkenntnis.»
Grosses Werke bilden nicht Reales ab; sie schaffen Realitäten. Doch diesen eignet kein festgelegter Objektcharakter; die von den Werken generierten Wirklichkeiten entstehen erst im Kontakt mit Betrachtenden. Diese machen, wenn sie sich mit einem Bild beschäftigen, eine nichthierarchische Erfahrung: Sie erleben sich als Mitproduzenten einer Wirklichkeit. Dieses exemplarische Moment des gleichberechtigten Austauschs zwischen Bild und Betrachterin ist in den Augen Katharina Grosses «das Politische» an ihrer Kunst.
Sie hat dies einmal so ausgedrückt: «Ich möchte, dass mein Werk Fragen aufwirft, inwiefern die Welt eine andere wäre, wenn Kategorien und Grenzen neu definiert würden, weil sich unsere Perspektiven verändern.» Der Satz verfolgt eine Kausalkette rückwärts, die sich folgendermassen aufschlüsseln lässt: Veränderte Perspektiven ergäben veränderte Kategorien und Grenzen, und dies würde die Welt verändern. Indem Kunst an den Perspektiven rüttelt, wirkt sie also indirekt auf die Welt ein. Diesen Zusammenhang möchte Katharina Grosse wenigstens als Frage formulieren.
Kunstmuseum Bern: Katharina Grosse – Studio Paintings 1988–2022, bis 25. Juni 2023, Kuratorin: Kathleen Bühler
Katalog (englisch und deutsch) erschienen bei Hatje Cantz, 45 Franken