Pia Fries (*1955) ist eine der profiliertesten Schweizer Malerinnen ihrer Generation. Ihr Werk lebt von Schichtungen, Durchlässigkeiten und Verästelungen. Mit ihrem Blick in die Geschichte der Kunst lässt sie uns fruchtbare Spannungen erleben.
Hendrick Goltzius (1558–1616), niederländischer Künstler und virtuoser Kupferstecher, schuf um 1592 ein berühmtes Blatt, die Rückseite des Herkules Farnese darstellend. Die um die drei Meter hohe Marmorskulptur, eine römische Kopie eines Originals des um 400 geborenen Griechen Lysipp, befand sich, als Goltzius in Rom war, im Hof des Palazzo Farnese und steht heute im Museo Nazionale in Neapel. Goltzius zeigt die muskulöse Hinterseite des Halbgottes, der in der Rechten die Äpfel der Hesperiden hält und die Linke auf seine gigantische Keule stützt.
Am untern rechten Bildrand befinden sich nahe am Sockel zwei winzige Männer, die zum Riesen aufblicken. Sie dienen dem Betrachter als Massstab und machen die Dimension des muskulösen Kraftprotzes deutlich. Ihr Blickwinkel auf Herkules entspricht jenem des Künstlers Goltzius und damit auch jenem von uns: Waden, Gesäss, Rückenmuskeln sind monumental, der muskulöse Nacken verdeckt den leicht nach vorn geneigten Kopf weitgehend, was besagt: Bei Herkules geht es nicht um den Kopf, sondern um die Muskelkraft.
Nicht nur die beiden Winzlinge am unteren Bildrand lassen uns vermuten, Goltzius habe Ironie mitspielen lassen. In diese Richtung weist auch der Umstand, dass der Künstler die ohnehin schon hypertrophe Muskulatur der Herkules-Skulptur bis ins Lächerliche steigert: Das wird kaum Goltzius‘ ganzer Ernst sein.
Bedroht oder erheitert
Die 1955 geborene, seit langem in Düsseldorf lebende Luzernerin Pia Fries nimmt sich in ihrer neuen grossen Arbeit «durch sieben siebe» dieses Kupferstichs von Goltzius an. Das Werk ist der Schlusspunkt ihrer mit Malereien der beginnenden 1990er-Jahre einsetzenden Retrospektive im Kunsthaus Baselland. Auch Pia Fries bringt Ironie ins Spiel. Es ist durchaus möglich, dass sie den Herkules Farnese als Karikatur eines ins Masslose gesteigerten Männlichkeitskultes sieht.
Die Künstlerin versieht grosse weisse Papierbahnen in freien Abständen, in verschiedenen Ausrichtungen und Kombinationen mit Fragmenten von Goltzius‘ Herkules-Stich. Sie sind im Siebdruck-Verfahren auf das Papier übertragen. Pias Fries übermalt diese Fragmente in leuchtenden Tönen mit flächig aufgetragener Acrylfarbe und stattet drei Wände eines Ausstellungsraumes mit diesen Papierbahnen aus. Als Betrachterin und Betrachter sieht man sich von der geballten Kraft dieser Farben und der mächtigen Präsenz des Helden Herkules umgeben – bedroht von der Macht dieser Bilder oder erheitert über das Pathos des Goltzius-Stiches, je nach eigener Befindlichkeit.
Malern und Plastikerin
Pia Fries ist Malerin, doch sie besucht 1977–1980 an der damaligen Kunstgewerbeschule Luzern die Klasse des Plastikers Anton Egloff – was heisst: Die Domäne der Meisterschülerin Gerhard Richters ist zwar seit langem die intensive Auseinandersetzung mit Grundfragen des Malerischen, doch sie verbindet diese Auseinandersetzung mit einem Befragen des Materials Farbe auf seine räumlich-plastische Dimension.
In den meisten ihrer Arbeiten steht nicht das Flächige im Vordergrund, sondern die Tiefe und damit das Überlagern der Schichten. Sie trägt grosse Volumen an Ölfarbe auf weiss grundierte Holzplatten auf, knetet die Farbwülste, verformt sie und bearbeitet sie mit verschiedenen Utensilien wie Bürsten oder Spachteln und Messern. Ihr Umgang mit der Farbmaterie, die sie aufträgt, wieder abschabt und erneut voluminös aufträgt, führt zu höchst komplexen Ergebnissen, zu Verästelungen, zum Fliessen der Farbe, zu Verwerfungen und zu teils ausgeprägten Spannungen zwischen dem hölzernen weissen Malgrund und der aufgetragenen Farbe. Ihre Malerei ist ein stetes und mit Energie vorangetriebenes Erproben der ihr fast unbegrenzt zur Verfügung stehenden malerischen Möglichkeiten.
«durch sieben siebe»
In «durch sieben siebe» geht es aber nicht nur um das einzelne Malerei-Objekt. Der ganze Ausstellungsraum wird zum Arbeitsfeld. Das Ergebnis nimmt uns als Betrachterinnen und Betrachter von überall her so in Beschlag, dass wir uns der Emotionalität dieser Bildsprache kaum entziehen können. Der Raum lässt sich erleben als ein Tanzraum der Farben und Skulpturfragmente.
Der Titel «durch sieben siebe» nimmt in freier Assoziation und mit der poetisch klingenden Wortwiederholung Bezug auf die Technik des Siebdrucks, den die Künstlerin als ein die Dimension der Malerei ausweitendes Element einsetzt. Dieses Ausweiten meint die Kontraste zwischen den malerisch eingesetzten Farben und den Linien, mit denen Goltzius im Kupferstich dem Herkules-Körper pralles Volumen gibt.
Doch es geht nicht nur um technische und formale Aspekte, sondern auch um die Dimension der Zeit, um einen Rückgriff über Jahrhunderte in die Geschichte der Kunst: Da öffnet sich eine von der Künstlerin bewusst inszenierte Spannung zwischen der unmittelbaren Gegenwart ihrer künstlerischen Arbeit und der Zeit von Goltzius, einem der wichtigsten Vertreter des niederländischen Manierismus. Diese Stilrichtung transferierte er zusammen mit anderen Künstlern (z. B. Karel van Mander und Cornelis Cornelisz. van Haarlem) von Italien nach Norden, wo er sie zur Blüte brachte.
Und es geht sicher auch um Inhaltliches: Dass Pia Fries ausgerechnet den Herkules-Stich von Goltzius und damit ein Denk- oder Mahnmal hypertrophen Männlichkeitswahns zum Ausgangspunkt nahm, ist sicher kein Zufall.
Politische Implikationen
Schon seit geraumer Zeit hinterlegt Pia Fries ihre Malereien mit Fragmenten altmeisterlicher Druckgrafik, teils wiederum von Goltzius, zum Beispiel mit Ausschnitten der vier «Himmelsstürmer», die Cornelisz. van Haarlem entworfen und Goltzius virtuos gestochen hat, zum Teil aber mit Werken anderer Persönlichkeiten der Kunstgeschichte – Maria Sibylla Merians (1647–1717) zum Beispiel.
Die historischen Bezugspunkte sind mit Bedacht ausgewählt. Oft lässt die Wahl durchaus auf im weitesten Sinne politische Implikationen schliessen. Die Naturwissenschafterin und Zeichnerin Maria Sibylla Merian interessiert Pia Fries als Beispiel weiblicher Kreativität und wegen der Metamorphose: Die Übergänge von Eiern zu Raupen und zu Schmetterlingen sowie deren Darstellung waren das wichtigste Arbeitsfeld Merians.
Übergänge innerhalb des Farbauftrags, aber auch von einem Medium ins andere sind auch Thema der Arbeiten von Pia Fries. Wenn sie sich der naturwissenschaftlichen Zeichnungen Merians annimmt, gibt es keine Distanz und keinerlei Ironie, wohl aber Respekt oder gar Verehrung. Anders lässt sich ihre Auseinandersetzung mit den «Himmelsstürmern» und mit dem «Bannerträger» (wiederum von Goltzius) sehen: Da unterstreicht sie mit ihrer Malerei – ähnlich wie bei der Verwendung des Herkules Farnese – die menschliche oder eben männliche Vermessenheit, die den Himmel erstürmen will, aber kläglich scheitert, oder das Sich-Aufplustern des übertrieben selbstbewussten Soldaten. In den «Fahnenpapieren» (2012) widmet sie sich gar ausschliesslich dem wallenden Fahnentuch und klammert den eitlen Fahnenträger gänzlich aus. Wenn Pia Fries hier einen Blick frei gibt auf ihr eigenes politisches Bewusstsein, so geschieht das verhalten und ohne aufzutrumpfen: Darin unterscheidet sie sich von manchen feministisch geprägten aktuellen künstlerischen Äusserungen.
Pia Fries gibt im Kunsthaus Baselland den Besucherinnen und Besuchern Einblick in ihr kontinuierlich gewachsenes Werk, das sich entfaltet und weit verästelt zum rhizomartig dichten Geflecht des Denkens, der künstlerischen Praxis und der formalen wie inhaltlichen Elemente und Bezüge. Sie selber verband ihre künstlerischen Intentionen mit diesem aus der Botanik stammenden Begriff und betitelte 2011 ihre grosse Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe mit «Krapprhizom Luisenkupfer». Damit brachte sie die hochgebildete und europaweit vernetzte Markgräfin Karoline Luise von Baden (1723–1783) ins Spiel, die als botanisch interessierte Unternehmerin den Anbau der rhizomisiernden Krappwurzel als Quelle des roten Farbstoffes Alizarin zum wichtigen Industrie- und Exportzweig Badens machte.
Mit diesen Assoziationen suchte Pia Fries nicht nur die Anbindung an Karlsruhe als an den Ort der Ausstellung. Sie rückt überdies ihr eigenes Schaffen in die Nähe des kulturphilosophischen Begriffs des Rhizoms, wie ihn Gilles Deleuze und Félix Guattari prägten.
Pia Fries wurde 1955 in Beromünster geboren, besuchte die Klasse plastisches Gestalten von Anton Egloff an der damaligen Kunstgewerbeschule Luzern und anschliessend die Kunstakademie Düsseldorf, wo sie als Meisterschülerin Gerhard Richters abschloss. Zahlreiche Preise und Ausstellungen, u.a. Kunstmuseum Luzern, Kunstmuseum Winterthur, Kunsthaus Aarau, Kunstplattform akku Emmen, Kunstmuseum St. Gallen, CRG Gallery New York, Berlinische Galerie Berlin, Overbeck-Gesellschaft Lübeck, Kunstpalast Düsseldorf, Museum Kurhaus Kleve, Lindenaumuseum Altenburg, Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, Biennale Venedig. Pia Fries ist Professorin für Malerei an der Akademie für Bildende Künste München. Sie lebt in Düsseldorf.
Kunsthaus Baselland, St. Jakob-Strasse 170, Muttenz; bis 9. Juli 2023