Totale Reduktion der künstlerischen Mittel auf der einen Seite, unbegrenzte Freiheit des gestischen Ausdrucks auf der anderen: In diesen grundverschiedenen Welten bewegt sich Brice Marden, der jetzt in Basel zu erleben ist.
Der 83-jährige Amerikaner Brice Marden zählt zu den Grossen der heutigen Malerei. Basel und sein Kunstmuseum stehen mit ihm in einer besonderen Verbindung. Die neu eröffnete ist die dritte Brice-Marden-Ausstellung des Hauses; sie wurden jeweils im Abstand von 15 Jahren ausgerichtet.
Noch vor der ersten Basler Werkschau liegt Mardens Ausarbeitung von Entwürfen neuer Farbglasfenster für den Chor des Basler Münsters. Der erste Versuch, für die 1950 entfernten Chorfenster aus dem 19. Jahrhundert modernen Ersatz zu schaffen, hatte 1952 im Krach geendet. 25 Jahre später wollten Private neue Fenster stiften. Brice Marden gewann 1978 den dafür ausgeschriebenen Wettbewerb. In der Folge beschäftigte sich Marden mehrere Jahre mit der Ausarbeitung des Bildprogramms für die Chorfenster.
Die Lösungen, die er schliesslich präsentierte, waren für die Basler Kirchenleute schockierend. Nach langen Auseinandersetzungen kam durch einen ablehnenden Synodenbeschluss der basel-städtischen evangelisch-reformierten Kirche das endgültige Aus.
Das Kunstmuseum Basel zeigt Entwürfe für die Basler Chorfenster als Zeugnisse von Mardens Arbeiten im Zeichen von Minimal Art und Konstruktiver Kunst. Mag das «Second Window Painting» (ganz oben) vielleicht den an kirchliche Glasfensterkunst gerichteten Erwartungen noch einigermassen entsprechen, so zeigt die «Window Study II» eine Radikalität in der Reduktion von Form und Farbe, die das Zurückschrecken der Beschenkten nicht allzu verwunderlich erscheinen lässt.
Marden hat nicht einzelne Fenster gestaltet, sondern den Raum als Ganzen. Durch die Fensterreihe zieht sich eine symmetrische Sequenz von Farbflächen, die sich in der Mitte vereinen. Es ist das Thema der Vereinigung des Inkompatiblen – Mensch und Gott, Sünde und Gnade, Vernunft und Offenbarung, Schöpfung und Erlösung –, das hier in elementarer Form reflektiert wird.
Den gleichen konstruktiven Ansatz hat Marden in der Serie «Post and Lintel» (Pfosten und Türsturz) befolgt. Jedes der zehn Blätter baut auf dem gleichen Raster auf, der auch durchgehend sichtbar ist: Zwei gleiche «Pfosten» bilden mit ihrem Zwischenraum drei kongruente schmale hohe Rechtecke, die mit einem «Türsturz» bedeckt sind. Diese Struktur steht dreimal dicht zusammengerückt nebeneinander, und so erhält Marden das Spielfeld für eine in ihrer strengen Logik verblüffende graphische Variation: Die Sequenz führt von der ganz schwarzen zur ganz weissen Fläche, indem die einzelnen Rechtecke von Bild zu Bild in der Weise von schwarz zu weiss wechseln, dass immer symmetrische Gebilde entstehen. Auch diese Reihe repräsentiert wie das Chorfenster-Konzept eine Gegenströmung zweier Prinzipien.
Das Faszinierende bei Marden ist, dass er neben seiner konstruktiv-minimalistischen Bildsprache, die selbstgewählte Regeln durchspielt, auch deren Gegenpol pflegt: die freie gestisch-abstrakte Malerei. Hier bewegt er sich in der gestalterischen Welt des abstrakten Expressionismus etwa eines Jackson Pollock. Marden experimentiert mit überlangen Pinseln, um seine Linienführung zwischen Zufall und Kontrolle schwanken zu lassen und vermehrt den ganzen Körper statt nur die Hand am Malvorgang zu beteiligen.
Die in Basel gezeigten Arbeiten mit gestisch verschlungenen Lineaturen bewegen sich zwischen Zeichnung und Malerei. Durch Überlagerungen von Farbebenen erzeugen sie oft den Eindruck des Räumlichen. Marden schenkt der Materialität seiner Bilder grosse Aufmerksamkeit. Bildträger, Papiere, Grundierungen und Farbauftrag bringen Objekte hervor mit einer Aura, in der das Beiläufig-Skizzenhafte und das lange zur Kostbarkeit Gereifte eine paradoxe Einheit bilden.
Mit seinem Monumentalformat beansprucht das Gemälde «The Muses» aus der Daros Collection (1991–1993) den Platz eines Schlüsselwerks. Es formuliert mit grosser Geste, was in den kleineren Formaten oft nur knapp wahrnehmbar ist: Die verschlungenen Linien sind in sich lebendige Flächen, Körper von gallertiger Halbtransparenz. Auf grünlichem Grund wimmelt ein Fliessen von gelben, blauen, grauen, grünen Linien, als bewegten sich träge Schlingpflanzen im moorigen Wasser – ein Bild aus den ersten Tagen der Schöpfung. Die Musen, die es mit seinem Titel anspricht, sind die Genien des Werdens.
Es wundert nicht, dass Brice Marden mit fernöstlicher Kalligraphie und der Kultur des Zen eine innere Verwandtschaft empfindet. In seinen Tuschezeichnungen lehnt er sich auch technisch an kalligraphische Verfahren an. Mitte der 80er-Jahre setzt seine Cold-Mountain-Serie ein: getuschte Blätter, die sich an Gedichte des Chinesen Han-Shan anlehnen, der während der Tang-Dynastie (619–907) tätig war. In Basel ist eine stattliche Reihe dieser Zeichnungen zu bewundern. Sie alle folgen dem Bau der Gedichtvorlagen und weisen einen Raster von acht vertikalen und fünf horizontalen Reihen auf. In diese Gitterstruktur zeichnet Marden seine an Schriftzeichen gemahnenden Tuschefiguren ein, mal separiert, dann wieder verbunden in einem organischen Geschlinge von Ligaturen, sodass die vorgegebene Ordnung kaum mehr zu erkennen ist.
Diese Cold-Mountain-Serie («Kalter Berg» ist die Übersetzung des Namens Han-Shan) ist der Höhepunkt der Ausstellung. Die kleinformatigen Blätter sind voller Geheimnisse und von überwältigender Schönheit.
Kunstmuseum Basel, Neubau: Brice Marden – Inner Space, kuratiert von Josef Helfenstein, bis 28.8.2022