Seit der Machtübernahme General as-Sissis herrschen im Nilland Willkür und politische Lähmung. Wie ist es dazu gekommen? Und weshalb arrangiert sich alle Welt, die Schweiz eingeschlossen, mit dem Diktator?
In den letzten Tagen ihrer Regierungszeit finalisierte die abgetretene deutsche Regierung einen problematischen Deal: Sie bewilligte neue Rüstungsexporte nach Ägypten – und erhöhte damit den Jahreswert der Lieferung von Militärgütern an das Regime des Diktators as-Sissi auf rund 740 Millionen Euro. NGOs kommentierten das mit Empörung. Fast gleichzeitig wurde publik, dass der humanitär engagierte Alaa Abdel Fattah und dessen Anwalt erneut zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.
Ein Fall von unglaublich vielen. Die Zahl der aus politischen oder weltanschaulichen Gründen in ägyptischen Gefängnissen dahinvegetierenden Menschen wird auf rund 65’000 geschätzt. Und die Zahl der seit 2013, also seit der Machtergreifung durch das Sissi-Regime verhängten Todesurteile übersteigt die Zahl 3’000. Mehr als einhundert Menschen wurden hingerichtet.
Wohlwollen für den Garanten von Stabilität
Die sogenannte internationale Gemeinschaft kümmert das wenig. Frankreich unterzeichnete seit 2015 mit dem Sissi-Regime Rüstungsverträge in der Höhe von sechs Milliarden Euro, Russland etwa im gleichen Zeitraum für drei Milliarden. Saudi-Arabien hilft as-Sissi jährlich mit mehreren Milliarden (2013 wurden 13 Milliarden versprochen, aber für welchen Zeitraum das gelten sollte, blieb unklar). Die USA stützen Ägyptens Herrscher mit jährlichen Auslandhilfen von rund 1,3 Milliarden Dollar. Kürzlich blockierte Washington zwar die Zahlung von 130 Millionen, aber das war nicht mehr als eine Symbolhandlung, um zu zeigen, dass die Biden-Administration Protest einlegte gegen die massiven Verletzungen der Menschenrechte in Ägypten.
Warum das alles? Weshalb sehen Regierungen in Europa und die Weltmacht USA so salopp über die Tatsache hinweg, dass Ägypten eine Diktatur geworden ist? Die Antwort ist einfach: weil das Land als Garant für Stabilität in der nahöstlichen Region gilt. Der sogenannt politische Islam (Moslembrüder und ideologisch mit den «ihwan» verwandte Bewegungen) wird von as-Sissi konsequent bekämpft. «Kollateralschäden» wie die Inhaftierung irgendwelcher Frauen und Männer nimmt das angeblich so klar für die Menschenrechte engagierte Ausland in Kauf.
Doch wie kam das alles? Vielleicht hilft eine kompakte Rückblende in die Zeitgeschichte, das zu verstehen.
Von der «Arabellion» zur Moslembrüder-Regierung
Vor zehn Jahren, kurz vor und kurz nach dem Jahreswechsel 2011/2012, wählten Ägypterinnen und Ägypter ihr Parlament. Im Frühjahr davor hatte das Land den sogenannten arabischen Frühling, die «Arabellion» erlebt – jetzt war Winter. Viele Illusionen waren bereits verflogen, vor allem, weil sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass der Aufstands-Slogan «Der Herrscher muss weg» nicht genügte, um neue gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Realitäten zu schaffen.
Aber im Land am Nil mit seinen rund 85 Millionen Menschen herrschte trotz allem Aufbruchstimmung: Zum ersten Mal gab es freie Wahlen und die Möglichkeit, ohne Bevormundung durch das Regime eine Volksvertretung zu bestimmen.
Die internationalen Medien entsandten ihre Special Correspondents, und die stellten sich am Vorabend der Publikation der Endresultate vor die Kameras und kommentierten praktisch unisono: Die liberalen Kräfte, die Aktivisten und Unterstützer der Millionen von Tahrir-Platz-Demonstranten vom Frühjahr 2011, sie werden die Geschicke Ägyptens ab morgen bestimmen.
Am Morgen des 22. Januar dann die grosse Überraschung: 47 Prozent für die Moslembrüder, 24 Prozent für die Salafisten. Das heisst, jene Kräfte, die einer konservativen Linie des Islam zur Dominanz verhelfen wollten, hatten bei der Volksbefragung eine überwältigende Mehrheit erhalten. Suchte man dagegen nach erfolgreichen Liberalen oder Demokratie-Begeisterten, in übertragenem Sinn also nach den «Tahrir-Aktivisten» und deren Anhängern, konnte man im Wahlresultat nicht mehr als drei bis vier Prozent Erfolg ausfindig machen.
Wieder stellten sich die Special Correspondents vor die Kameras – diesmal grossmehrheitlich ratlos.
Verzerrte Wahrnehmung durch Medienberichte
Diese Wahlen in Ägypten wurden zum Lehrstück nicht nur für Medienleute, sondern auch für Medienkonsumenten und -konsumentinnen. Die mehrere Wochen dauernden Massenproteste vom Frühjahr 2011, medial breitflächig kommuniziert, hatten weit über die nahöstliche Region hinaus, eigentlich im ganzen Westen, die Überzeugung geschaffen, bei den Protesten gegen die korrupten und verknöcherten Regime in «Arabien» handle es sich um einen Volksaufstand.
Allerdings konnte man nüchtern immer auch anders argumentieren und rechnen: Schätzungsweise zweieinhalb Millionen beteiligten sich in Ägypten an den Demonstrationen. Vielleicht hatten sie eine weitere Million Sympathisanten. Das ist, klar, sehr viel – aber gemessen an der ganzen Bevölkerung des Landes dann eben doch nur ungefähr vier Prozent. Und, das ist auch rückblickend interessant, die Liberalen respektive die wahrscheinlichen «Tahrir-Anhänger» erhielten bei den Parlamentswahlen nur ziemlich genau diese bescheidenen rund vier Prozent.
Im Sommer danach gab es in Ägypten Präsidentschaftswahlen, Mohammed Mursi, Kandidat der Moslembrüder, wurde im zweiten Wahlgang mit 51,7 Prozent gewählt.
Dann begannen die Probleme: Mursi und dessen Regierung versagten beim Aufbau einer neuen Ordnung, in der auch Minderheiten berücksichtigt worden wären. Sie waren nicht imstande, für die Wirtschaft konstruktive Impulse zu liefern. Allerdings muss man auch die Frage stellen: Wäre irgendein anderer Staatschef fähig gewesen, die tiefgreifende Wirtschaftskrise des Landes im Verlauf nur eines Jahrs zu bewältigen? Vorwürfe gegen Mursi gab es aber auch, weil die Polizei unter seiner obersten Verantwortung Kundgebungen von Oppositionellen oft mit Gewalt unterdrückte und weil es auf der Sinai-Halbinsel immer mehr Terrorakte (durch Al-Qaida-Sympathisanten) gab.
Hörbare Erleichterung im Westen
Im August 2012 ernannte Mursi General Abd al-Fattah-as-Sissi zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte und zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Mursis Hoffnung, dadurch die immer stärker werdenden Gegenkräfte zu besänftigen, zerschlugen sich. Die Stimmung in der Bevölkerung wurde immer Mursi-kritischer, und schliesslich konnten wohlhabende Geschäftsleute per Internet eine Art Referendum organisieren – ein Referendum, das allerdings keine rechtlichen Grundlagen hatte. Dann trat die Armee in Aktion, setzte Mursi gefangen und erklärte die Muslim-Bruderschaft zur Terror-Organisation.
Bei der Mehrheit der Regierungen in Westeuropa, noch deutlicher bei jener der USA und nochmals intensiver in Saudi-Arabien wurde die Machtübernahme as-Sissis mit fast hörbarer Erleichterung zur Kenntnis genommen. Nun war das Experiment der Herrschaft der Moslembrüder zu Ende, nun schien das Schicksal der Islamisten besiegelt.
Nur: wie sollte man fortan die Machtübernahme durch das Militär und durch as-Sissi beschreiben? Alle westlichen Regierungen mieden, wenn auch verkrampft, das Wort «Putsch». Klare Sprache hätte zu Schwierigkeiten bei künftigen Kontakten geführt. Man liess die Zeit arbeiten, und siehe da, bald schon konnte man zum Courant normal zurückkehren, das heisst, die Regierung in Kairo als unverdächtigen Partner betrachten und behandeln. Im Verlauf schon weniger Monate wurde diese eigenartige Normalisierung auch in der Öffentlichkeit akzeptiert – oder nur noch von NGOs angeprangert.
Ich meine, dass man die Frage weiterhin dringlich stellen sollte: Muss das wirklich sein, dass die USA und Westeuropa, auch die Schweiz, as-Sissis Diktatur unkritisch anerkennen, ja mehr noch, dass alle diesem Regime mit Finanz- und Waffenhilfe die Mittel verschaffen, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken, ins Gefängnis zu werfen und willkürlich Todesurteile zu verhängen?