Im Sudan haben sich Zivilgesellschaft und Militär auf einen Transitionsprozess geeinigt, der von beiden Seiten gleichermassen kontrolliert und gesteuert wird; in Tunesien haben die Präsidentschaftswahlen gezeigt, dass der Übergang zu einer demokratischen, repräsentativen Ordnung auch in der arabischen Welt möglich ist und nachhaltig gestaltet werden kann. In Algerien werden unter völlig anderen Umständen die Rahmenbedingungen für eine Transition debattiert. Im Jemen hat sich der Krieg totgelaufen: Die Sezession des Südens und der schrittweise Machtverlust der im Norden herrschenden Anṣār Allāh (Ḥūṯī) werden neue Spielräume für die Etablierung einer postnationalen Ordnung schaffen. Die Kriege in Syrien und Libyen scheinen entschieden, doch ist zu erwarten, dass es dann zu einer tiefen Regimekrise kommen wird. Saudi-Arabien als Patron der alten Ordnung hat viel an Macht und Einfluss verloren. Eine Eskalation des Konflikts mit seinem Rivalen Iran ist riskant und könnte die seit 2012 wirksame Allianz mit arabischen Regimen brüchig werden lassen.
Ägypten befindet sich so inmitten einer Welt der Transition, einer Welt, in der der soziale Wandel einen Systemwechsel möglich werden lässt. Nun hat vor wenigen Wochen der ägyptische Schauspieler und Unternehmer Muḥammad ʿAlī (Mohamed Ali), der zunächst als Insider des Regimes galt und später nach Spanien ausgewandert ist, über das Internet eine Videokampagne eröffnet, die von Millionen Menschen vor allem in Ägypten aufmerksam verfolgt wird. Mohamed Ali ist es gelungen, das Gefühl zum Sprechen zu bringen, das Menschen hegen, wenn ihnen eine Welt vorgegaukelt wird, von der sie wissen, dass es nicht die ihre ist. Ali prangert den Gigantismus des Regimes von as-Sīsī an, der mit seinen Prestigeprojekten sein Land in eine enorme Verschuldung treibt, deren Zeche, so Ali, letzten Endes die Bevölkerung wird zahlen müssen. Die neue Hauptstadt, die ägyptische Version des saudischen Neom in der Wüste von El Alamain, die weitere Vertiefung des Suez-Kanals, die Hotels und Paläste werden die Entfremdung zwischen Regime und Bevölkerung noch weiter verstärken. An den Abenden des 20. und 21. September protestierten vor allem in den Provinzstädten Hunderte gegen das Regime. Selbst in der oberägyptischen Provinzstadt Nagʿ Ḥammādī gab es Strassenproteste. Auffällig war, dass anders als 2011, vor allem Menschen aus prekären sozialen Verhältnissen auf die Strasse gingen. In Suez kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese verhaftete wohl an die 300 Menschen, darunter auch einmal mehr die streitbare Anwältin Māhīnūr al-Maṣrī, Mitglied der Revolutionären Sozialistischen Bewegung, die schon 2014 eine zweijährige Haftstrafe hatte verbüssen müssen.
Vorbild Sudan?
Prominent meldete sich nun die «ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten» zu Wort, eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Kairo, die 2013 gegründet worden war und seitdem vom Regime immer wieder drangsaliert wurde. Anspornung mögen die Prozesse im Sudan sein, wo es den vielfältigen sozialen und ökonomischen Interessengruppen gelungen war, sich als Zivilgesellschaft zu formieren und verschiedenen Dachverbänden, vor allem dem Oppositionsbündnis Deklaration für Freiheit und Wandel zu unterstellen. Diese informelle politische Öffentlichkeit war schliesslich so stark geworden, dass sich das Militärregime gezwungen sah, die Opposition in die Gouvernanz eines Transitionsprozesses zu integrieren. Im Sudan waren sich die zivilen Eliten darüber im Klaren, dass sich das Land in einem Transitionsprozess befindet und dass dieser Jahre dauern wird. Ähnliche Erfahrungen haben auch die zivilen Eliten in Algerien gemacht. Sie konnten verhindern, dass das Militär in einer eilends durchgeführten Wahl einen Präsidenten aus eigenen Reihen küren liess. Wahlen sollten erst dann erfolgen, wenn der Transitionsprozess nachhaltige Strukturen einer politischen Partizipation und Öffentlichkeit geschaffen hat und wenn er den Raum für eine Vergangenheitsbewältigung eröffnet, der auch eine Transitional Justice ermöglicht. Sowohl in Algerien wie im Sudan werden hierfür drei Jahre veranschlagt.
Und Ägypten? Das Land hat die Erfahrung machen müssen, was es bedeutet, wenn die Eliten keinen Transitionsprozess anerkennen und gestalten wollen. Nach dem Sturz von Präsident Mubārak am 11. Februar 2011 hatte der Oberste Militärrat unter dem Oberkommandierenden Muḥammad Ḥusayn Ṭanṭāwī einen Demokratisierungsprozess initiiert, der die Akteure der Revolution aussen vorliess. Schon am 19. März 2011 gab es eine Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung, um in einigen Monaten demokratische Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abhalten zu können. Im November 2011 begannen tatsächlich die Wahlen zum Parlament. Die Opposition blieb auf der Strasse und wurde nicht in den institutionellen Prozess integriert. Die Folge war eine Drift zwischen Strassenprotesten und politischer Repräsentation. Da die politische Repräsentation massgeblich durch jene bestimmt wurde, die nicht an den Strassenprotesten teilgenommen hatten, führten die Wahlen nicht zu einer Repräsentation der sich neuformierenden Zivilgesellschaft, sondern zur Repräsentation der etablierten sozialmoralischen Milieus, vor allem das der Muslimbrüder.
Zuviel Dreck am Stecken
Dasselbe Spiel wiederholte sich 2013, als Präsident Mursī gestürzt wurde. As-Sīsīs versäumte es, die Protestierenden der Tamarrud-Bewegung («Rebellion») in die Verantwortung zu nehmen und an der dringend nötigen Reform des politischen Repräsentationssystems mitwirken zu lassen. Auch diesmal weigerte sich das Militär, eine Transition der ägyptischen Gesellschaft und der politischen Ordnung anzuerkennen und ihre Gouvernanz durch eine breite Repräsentation der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Sicher war ein Grund, dass das Militär jede Transitional Justice zu fürchten hat. Es hat einfach zuviel Dreck am Stecken und zuviel zu verlieren. Schliesslich hat sich das Militär, deutlicher als im Sudan, seit den 1950er Jahren zu einem weitgehend autonomen sozialmoralischen Milieu verdichtet, das sich jeder gesellschaftlichen Transition verweigert.
Wie lange sich das ägyptische Regime jedoch noch der Tatsache verschliessen kann, dass auch Ägypten zu einem arabischen Transitionsland werden wird, steht in den Sternen. Die Beharrlichkeit, mit der sich das Regime der Realität verweigert, ist für viele Beobachter befremdend. Immerhin mehren sich in der ägyptischen Regierung die Stimmen, die Proteste auf der Strasse ernst zu nehmen und rechtzeitig Gegensteuer zu geben. Die harsche Reaktion der Polizei und der Truppen des Innenministeriums aber zeigt, dass das Regime offenbar lieber die Gefängnisse weiter auffüllt als wie im Sudan mit der Zivilgesellschaft an einer nachhaltigen Ordnung der gesellschaftlichen und politischen Transition zu arbeiten.
Dieser Text erschien im „Forum Islam und Naher Osten“ (FINO)