Die offiziell angegebene Zahl der Toten ist am Mittwochabend auf 149 gestiegen. Die Behörden meldeten auch, sie hätten 543 Demonstranten verhaftet, "manche waren bewaffnet", erklärten sie. Der Ausnahmezustand wurde für einen Monat ausgerufen, und ein nächtliches Ausgehverbot folgte sogleich in allen grossen Städten und in 21 Provinzen. Zuwiderhandelnde hätten mit Gefängnisstrafen zu rechnen, verlautete.
Vizepräsident Baradei zurückgetreten
Der Vizepräsident Baradei ist zurückgetreten. Er hatte sich in den letzten Tagen gegen ein gewaltsames Vorgehen ausgesprochen.
Schon vor der Verhängung des Ausnahmezustandes war erklärt worden, die Armee komme der Polizei zu Hilfe. Das kleinere der beiden Protestlager in Kairo, das bei der Universität, war bis am Nachmittag gestürmt und von den Sicherheitskräften besetzt. Ob es im grösseren, dem bei der Rabaa Moschee im Nasseria Viertel gelegenen, noch Widerstand gebe, war am Abend unklar geblieben.
Die Dunkelheiten des Notstandes
Die Muslimbrüder sprachen von mehreren hundert Toten. Genaue Zahlen konnten sie aber nicht nennen. Die Journalisten berichteten, zahlreiche scharfe Schüsse seien gefallen, und auch viele der Todesopfer seien auf Einschüsse mit Kriegsmunition zurückzuführen. Gepanzerte Bulldozer waren frühmorgens zum Einsatz gekommen, um die von den Brüdern improvisierten Schutzwälle und Barrikaden zur Seite zu schieben.
Der Ausnahmezustand wird auch bewirken, dass die Berichterstattung über das, was wirklich geschieht, noch weiter als bisher, eingeschränkt wird. Er wird bewirken, dass die Stimme der Muslimbrüder nur noch ganz leise und episodisch in die Aussenwelt dringen kann. Was sich auf die offiziellen Sprachrohre dahingehend auswirken wird, dass sie unwidersprochen ihre Version vorlegen können, egal ob sie den Tatsachen nahekommt oder nicht.
Die Bruderschaft wird nicht verschwinden
Doch die Bruderschaft wird nicht aus der Welt geschafft werden. Sie hat schon viele Jahrzehnte der Illegalität überlebt und wird in den Untergrund zurückkehren, wo sie gewissermassen zuhause ist und sich auskennt. Vielleicht wird es den nun herrschenden Militärs gelingen, eine Zeitlang Ruhe zu schaffen. Schwieriger wird es für sie sein, einen glaubwürdigen Übergang zu Wahlen zu bewerkstelligen, wie sie ihn versprochen hatten.
Und wenn es zu Wahlen kommt, wird es besonders schwer werden, sie soweit glaubwürdig durchzuführen, dass sie von den beiden Hälften des gespaltenen Landes als ehrliche Wahlen akzeptiert werden.
Die Spaltung ist mit der Niederschlagung der Muslimbrüder natürlich nicht überwunden. Vielmehr muss man befürchten, sie werde sich nun weiter vertiefen. Das kommende Regime wird aller Wahrscheinlichkeit nach fast unvermeidlich ein nur notdürftig durch zivile Ministerien verkleidetes Militärregime werden. Je brüchiger die erzwungene Ruhe ausfallen wird, desto weniger werden die Militärs in der Lage sein, das Ruder aus der Hand zu geben, sogar wenn sie dies wollten.
Der Druck der Wirtschaftsnot
Wer immer regiert, wird im Verlauf des kommenden Jahres sehr unpopuläre Wirtschaftsmassnahmen zu treffen haben, weil der Abbau der staatlichen Subventionen für Brot und für Treibstoff immer unumgänglicher wird. Er könnte jedoch leicht zu Hungerrevolten führen. Das sind keine guten Voraussetzungen für Stabilität auf mittlere Frist und damit auch keine gute Grundlage für den künftigen Abbau der nun einsetzenden Periode der "eisernen Hand".
Noch vor der Verhängung des Notstandes wurde bekannt gegeben, dass Adel Mansour, der Übergangspräsident, 18 von Morsi eingesetzte Provinzgouverneure entlassen hat und sie durch neue Gouverneure ersetzte, die Hälfte von ihnen seien frühere Generäle. Die Provinzgouverneure sind die lokalen Vertreter des ägyptischen Innenministeriums. Das heisst, sie werden nun die Niederhaltung der Muslimbrüder, ein jeder in seiner Provinz, zu beaufsichtigen haben.
Vor inneren Diskussionen unter den Muslimbrüdern
Was die Muslimbrüder angeht, so muss man erwarten, dass in ihren Rängen Diskussionen darüber ausbrechen werden, ob die Führung der Brüder Fehler begangen habe oder nicht. Es wird zwei Versionen über die Fehler geben: Manche werden finden, der Fehler sei gewesen, ein demokratisches Regime einführen zu wollen, obwohl man hätte wissen sollen, dass die herrschenden Kreise die Macht nie auf Grund von Wahlen freiwillig aus der Hand geben würden.
Eine Gegenmeinung wird auftreten, die fragt, ob denn die Muslimbrüder, in dem Jahr ihrer Machtausübung, richtig gehandelt hätten, oder ob sie mit mehr Konzessionsbereitschaft "demokratischer" hätten regieren können. Die zweite Gruppe wird wahrscheinlich die kleinere sein, weil ihre Auffassung mehr Selbstkritik voraussetzt. Selbstkritik jedoch ist ein knappes Gut, wenn man in einem Überlebenskampf steht.
Gewinne für die Salafisten?
Wie die zu erwartende Auseinandersetzung im einzelnen ablaufen wird, kann man nicht voraussagen. Sie könnte leicht dazu führen, dass Teile der Bruderschaft die Doktrin der Salafisten übernehmen, nach welcher "Islam" und "Demokratie" unvereinbar seien. Doch ob dies eine Mehrheit oder eine Minderheit der Bruderschaft sein wird, ist noch unklar. Wenn viele ihrer gegenwärtigen Führer verhaftet bleiben, dürfte dies mitbewirken, dass ihre bisherige Gefolgschaft die Orientierung verliert und auch dadurch in das Fahrwasser der Salafiya geraten könnte.