Nur fünf Jahre dauerte die Eruption des Fauvismus, doch sie beeinflusst die Malerei bis heute. Reine Farben, archaische Formen und impulsive Pinselführung haben viele Künstler übernommen. Das Kunstmuseum Basel zeigt den wohl folgenreichsten Aufbruch der Moderne.
Es malt nicht nur die Hand, sondern der ganze Körper, wenn «Matisse, Derain und ihre Freunde» – so der Titel der Basler Ausstellung – den Pinsel auf die Leinwand setzen. In der neuen Malweise entstehen Bilder von radikaler Subjektivität. Die Leinwand ist nicht mehr Träger einer Abbildung, sondern konkretes flaches Objekt, auf dem die gestischen Farbaufträge gleichwertig nebeneinanderstehen.
Die Fauves sind eine lose Gruppierung von Künstlern. Einige von ihnen haben sich in Akademien kennengelernt und arbeiten in Ateliergemeinschaften zusammen. Sie sind freundschaftlich verbunden und unterstützen sich gegenseitig, aber sie bilden keine Schule, die Gefolgschaft fordern würde.
Man muss sich bewusst machen, dass der Fauvismus, der 1904 bis 1908 in Paris Furore macht, andere Stilrichtungen nicht ablöst, sondern sich in einer ungeheuer vitalen Kunstszene neben zahlreichen anderen Malweisen entwickelt. Der in den 1870er-Jahren entstandene Impressionismus lebt weiter (Claude Monet stirbt erst 1926), der Postimpressionismus ebenso (Cezanne lebt bis 1906). Die vielfältigen Strömungen des Symbolismus und die bedeutende Gruppierung der Nabis existieren parallel. Aus Deutschland kommen starke Impulse des Expressionismus, und ab 1906 entsteht bereits der Kubismus, in welchem Georges Braque, der zuvor fauvistische Bilder gemalt hat, eine führende Rolle einnehmen wird.
Matisse, der «König der Fauves», kommt vom Postimpressionismus her; sein 1904 entstandenes Werk «Luxe, calme et volupté» zeigt den starken Einfluss Signacs und ist noch ganz im pointillistischen Stil gemalt.
Signac hat Matisse eben noch dafür kritisiert, zu sehr die Natur zu kopieren. Im Juli 1904 schreibt er von seinem Aufenthalt in St. Tropez an Henri-Edmond Cross: «Mein Freund Matisse ist hier, ein sehr netter Junge, intelligent und Maler – aber noch ein Opfer der Imitation.»
Das wird sich bald ändern. Im Dezember 1904 malen Henri Matisse, Albert Marquet und Jean Puy in dem von Henri Manguin in Paris gemieteten Atelier. Es entsteht eine Reihe von Aktdarstellungen, die den Fauvismus ankündigen. Der erste Raum der Basler Ausstellung ist diesem eindrucksvollen Anfang gewidmet. Noch sind die Übergänge von der postimpressionistischen Sichtweise zum neuen Stil fliessend, die Kennzeichen des Fauvismus schlummern gewissermassen.
Im Mai 1905 reist Matisse ins Fischerdorf Collioure am Mittelmeer nahe der spanischen Grenze. Begeistert von Gemälden und Holzschnitten Gauguins, die er bei einem befreundeten Sammler kennenlernt, beginnt er mit kontrastierenden Farbflächen zu experimentieren. Auf Matisses Einladung reist Derain ebenfalls nach Collioure. Sie malen gemeinsam, wobei Derain der Radikalere von beiden ist: Stärker als Matisse verwendet er reine ungemischte Farben (Bild ganz oben).
Aus dieser südfranzösischen Sommerwerkstatt entspringt die Exposition dessen, was später Fauvismus heissen wird (das von einem Kritiker in Umlauf gebrachte Wort ist abschätzig gemeint; die anvisierten Künstler machen es sich dann zu eigen).
L’art vivant
Wendungen in der Kunstgeschichte setzen sich jeweils dann durch, wenn sie in Korrespondenz zu kulturellen und geistesgeschichtlichen Umbrüchen stehen. Im Fauvismus sind philosophisch-naturwissenschaftliche Paradigmen aufgenommen, die den Rationalismus und Materialismus als lebensfremd kritisieren. Die Philosophen Nietzsche und Bergson sowie der Biologe und Evolutionstheoretiker Lamarck stehen für Bezugspunkte der Lebensphilosophie, die Intuition, Kreativität, und Entwicklungsfähigkeit von Natur und Geist hervorhebt.
Bei Lamarck spielt der Begriff des Transformismus eine wichtige Rolle. Die Fauves beziehen ihre Vorstellung von «L’art vivant» auf die Lamarcksche Theorie der Plastizität und der Anpassungsfähigkeit des Lebens an wechselnde Umweltbedingungen. 1904/05 schreibt eine kurzlebige Zeitschrift mit dem Titel «Les arts de la vie» der Kunst eine Schlüsselfunktion in der als dringend nötig empfundenen kulturell-gesellschaftlichen Erneuerung zu. Der herrschende Pessimismus und die Entfremdung durch Industrialisierung sollen überwunden, ein als zersetzend betrachteter Intellekt verabschiedet und stattdessen die hedonistische Entfaltung der Lebensenergien zugelassen werden.
Die Vorstellung einer lebendigen Materie, die sich selbst ständig transformiert, hat ein deutliches Echo in der Malweise der Fauves: Alles wirkt aufeinander ein, die Körper und Dinge sind nicht streng voneinander geschieden, die Kraft der Farbe belebt alle Formen. Die fünf Sinne sind synästhetisch miteinander verbunden. So malt etwa Derain den Lärm von Stadtszenen in stark kontrastierenden Farben, und bei Matisses «Plage rouge» (1905) taucht die Hitze des Tages eine Hafenszene in brennendes Rot.
Ebenfalls von 1905 stammt Matisses berühmtes Porträt seiner Frau Amélie, «La femme au chapeau». Es zeigt die Modistin, die übrigens mit ihrem kleinen Geschäft die Künstlerfamilie über Wasser hält, mit einem von ihr kreierten riesigen Hut in blühenden Farben und einem ebensolchen Kleid. Das Bild ist im Salon de l’automne eine Lachnummer. Der Grund: Hut und Kleid einer Dame sind zu der Zeit selbstverständlich schwarz. Das von Matisse frei gewählte Kolorit bleibt unverständlich.
Mit dem Transformismus hat auch die Hinwendung der Fauves zu alltäglichen Erscheinungen der Gegenwart zu tun. Technik und Reklame sind für sie Insignien der modernen Welt, die evolutionär auf das Leben einwirken und dieses verändern. Albert Marquet und Raoul Dufy thematisieren dies in ihrer gemeinsamen Serie «Affiches à Trouville» (1906).
Die Fauves reflektieren mit solchen Bildern die in Werbung und Konsumwelt entwickelten Strategien zur Erzeugung von Aufmerksamkeit, indem sie deren Techniken der visuellen Reize adaptieren. Sie tun dies nicht in denunziatorischer Absicht, sondern durchaus affirmativ, weil sie darin die Evolution der lebendigen Materie erkennen, die den Menschen und seine Art des Sehens einbezieht.
Vlamincks Fang-Maske: kulturelle Aneignung?
Neben der Lebensphilosophie und der damit einhergehenden naturwissenschaftlichen Zeitströmungen sind es auch Artefakte aussereuropäischer Kunst, die auf die Kunstszene einwirken. Das ist bei den Fauves nicht anders als etwa beim zu den Nabis zählenden Vuillard und vielen weiteren Zeitgenossen. Vlaminck ist 1905 der Erste, der eine Fang-Maske aus Gabun kauft und sich von ihr inspirieren lässt. Heute wird solchen Praktiken der Übernahme afrikanischer, asiatischer und ozeanischer Stile und Formen reflexhaft «kulturelle Aneignung» und kolonialistisches Verhalten unterstellt.
Vlaminck ist selbstverständlich ein Stück weit geprägt vom Kontext des Kolonialismus. Er und seine Freunde kennen die fremden Artefakte etwa aus dem Musée d’ethnographie du Trocadéro in Paris. Sie sind dort als exotische Kuriositäten inszeniert, wobei der ideologische Hintergrund stets drin besteht, die koloniale Unterwerfung als zivilisatorische Mission zu legitimieren.
Doch Vlaminck und andere fauvistische Künstler folgen dieser Sichtweise nicht. Zu gross ist ihre Distanz zur bürgerlichen Welt, zu ausgeprägt ihre Nähe zu Anarchismus und Antimilitarismus. Ihre Sympathien gelten vielmehr der Sicht eines Alfred Jarry und seinem «Ubu colonial», einem satirischen Sittenbild, das den Kolonialismus anklagt (1901).
Vlaminck sieht in afrikanischen Masken nicht Exotik, sondern bewundernswerte Kunst von tiefer Menschlichkeit. Schon deshalb ist in seinem Fall der Vorwurf der kulturellen Aneignung nicht angebracht. Hinzu kommt ein Aspekt, von dem er noch gar keine Ahnung hat.
Wie man erst aus neueren Forschungen weiss, sind die Fang-Masken und viele weitere kurz nach 1900 nach Europa gelangte Exotica damals eigens in den Kolonien gefertigt worden. Die Kunstwerke wurden als historische Stücke verkauft, um ihren Wert nach oben zu treiben, waren aber aus genau für diesen Handel bestimmter Produktion.
Die heutzutage skandalisierte angebliche Asymmetrie zwischen raffgierigen Kolonisten und ausgeraubten oder übertölpelten Einheimischen ist zumindest in Fällen wie Vlamincks Fang-Maske ein Mythos. Hier fand vielmehr faktisch ein Austausch von geradezu exemplarischer Symmetrie statt: Kolonisierte Afrikaner entdecken einen Markt, dessen Nachfrage sie befriedigen in einem Handel, der zu beiderseitigem Nutzen vonstatten geht – und zwar mit Masken, die (das kapierten die Käufer nicht) weisse europäische Gesichter darstellen.
Ausgebeutete Frauen
Zahlreich sind in der Fauves-Ausstellung die Darstellungen nackter oder leichtbekleideter Frauen. Bei vielen handelt es sich um Prostituierte (das Museum beleuchtet mit Fotografien und Polizeiakten die soziale Situation der «Sexarbeiter:innen»), und es fehlt nicht der Hinweis, dass die Maler deren Dienste nicht bloss fürs Modellstehen beansprucht haben. Zumindest eine Prise Skandal liegt in der Luft. So wird in einer Kritik, die auf der vom Museum gespurten Linie liegt, Vlamincks «Nu rouge» von 1905 als Dokument des male gaze und Ausdruck übergriffiger Triebbefriedigung auf Kosten der als Sexobjekt ausgebeuteten Frau gelesen.
Sozialgeschichtliche Hintergründe der Sujets und biographische Bezüge der Maler zu ihren Werken zu kennen, ist für eine fundierte Deutung zweifellos wichtig. Doch soll sich daran der ästhetische Wert der Kunst entscheiden? Und unterwirft man die Künstler und ihre Arbeiten nicht einer vorschnellen Aburteilung, wenn bei Themen wie Prostitution feministische Einsprüche einen Deutungsvorrang erhalten, der kunsthistorische und ästhetische Aspekte übersteuert?
Die Basler Ausstellung gibt hinsichtlich der Geschlechterthematik im Katalog und in den Saaltexten Fingerzeige in Richtung auf Skandalisierung. Das Museum kommt so aktivistischen Störungen, die jederzeit drohen können, zuvor. Vielleicht ist diese Taktik des vorsorglichen Abfangens möglicher Skandale heute nötig. Etwas bemüht wirkt sie trotzdem.
Was man aber als unvoreingenommene Betrachterin in Basel zu sehen bekommt, ist jene «art vivant», die Matisse, Derain und ihre Freunde zwischen 1904 und 1908 aus der Verarbeitung starker Impulse, sich gegenseitig beflügelnden Intuitionen und dem Mut zu ganz neuen Bildfindungen geschaffen haben. Die Reise nach Basel lohnt sich unbedingt.
Kunstmuseum Basel | Neubau:
Matisse, Derain und ihre Freunde
Die Pariser Avantgarde 1904–1908
bis 21. Januar 2024
kuratiert von Arthur Fink, Claudine Grammont und Josef Helfenstein
Katalog bei Deutscher Kunstverlag, 58 Franken