Frauen sitzen Malern Modell. Was die Maler sehen, bleibt nicht privat. Es wird öffentlich. Wer sind diese Frauen? Die Schweizer Autorin Martina Clavadetscher lässt sie in ihrem neuen Buch zu Wort kommen.
Der Grossteil des Museumspublikums wird kaum wissen (und auch kaum danach fragen), wer die Frauen sind, die den Malern Modell sitzen – nackt als Akt oder bekleidet, zum Beispiel Hendrickje Stoffels als «Badende Frau» (Rembrandt, 1654), Victorine-Louis Meurent als «Olympia» (Manet, 1863), Madeleine als «Negresse» (Marie-Guillemine Benoist, 1800), Walburga Neuzil als «Auf dem Rücken liegende Frau» (Egon Schiele, 1914), Lina Franziska Fehrmann als «Artistin» (Ernst Ludwig Kirchner, 1910) oder Alice Childress (Alice Neel, 1950).
Die Reihe liesse sich fortsetzen, denn die Modelle sind Legion, und nur ganz selten nennen die Bildtitel ihren wirklichen Namen. Martina Clavadetscher (*1979), vergangenes Jahr für «Die Erfindung des Ungehorsams» mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, gibt in ihrem neuen Buch 19 dieser Frauen eine Stimme. Sie treten uns im Bild gegenüber, «das nach Belieben um- und weggehängt werden kann» (Clavadetscher). Ihre Geschichten dieser Modelle, die «hinter ihrer Körperlichkeit» vergessen gegangen seien, und «deren Gesichter und Körper vor aller Augen ausgestellt sind, deren Leben aber stets hinter der Historie des Künstlers oder der Künstlerin anstehen mussten», möchte die Autorin den Frauen zurückgeben. Ihr Buchtitel: «Vor aller Augen».
Die erwähnten Frauen – und auch die Protagonistinnen der meisten anderen Kapitel ihres Buches – sind weder namenlos noch unbekannt, und wer will, findet leicht zu Informationen über ihr Dasein. Ihre Biographien wurden aber fast ausschliesslich im Zusammenhang mit jener der Maler öffentlich, die oft gerade wegen dieser Bilder berühmt wurden. Es geht in Clavadetschers Buch um die Schwerpunkte, welche die Autorin setzt, und es geht um die Art der literarischen Aufmerksamkeit, welche sie den Frauen zukommen lässt. Es geht auch und wohl vor allem um das Ausweiten der oft dürren historischen Fakten mit aus der Phantasie der Autorin genährter und einfühlend gestalteter Fiktion.
Gespräch zwischen Olympia und Laure
Zum Beispiel Victorine-Louise Meurent, Manets «Olympia» (und überdies die nackte Frau inmitten der bekleideten Männer im «Déjeuner sur l‘herbe»), eines der berühmtesten Skandalbilder jener Zeit: Clavadetscher hört zu, wie die beiden Frauen auf dem Bild mit einander reden – die nackte Olympia und die bekleidete schwarze Dienerin, der sie den Namen Laure gibt. Über diese Laure weiss «die Welt» nichts, wie sie sagt.
Über Victorine, die nach ihrer Modell-Karriere selber Malerin wird (und bei einem der Salons sogar Manet ausgestochen haben soll), weiss «die Welt» alles; und das ist meistens falsch. Laure: «Du bist Victorine-Louise Meurent, ganz Paris wusste, was du warst – und doch erzählen sie sich lieber ihre Version: Ein Strassenmädchen. Eine Prostituierte, aber das stimmt nicht. Manets Geliebte, erfunden. Alkoholikerin und jung gestorben, alles gar nicht wahr.»
Ein weiteres Beispiel: Augstine Roulin, Modell für Van Goghs «La Berceuse» (1889). Clavadetscher lässt sie von der Krise Van Goghs im Dezember 1888 und den Auseinandersetzungen mit Paul Gauguin erzählen und gibt ihr eine eigene, schlichte, aber zugleich Einfühlung bezeugende Sprache. Ganz anders die Norwegerin Dagny Juel, Musikerin, Schriftstellerin, aus gutem Haus stammend, «Muse» Edvard Munchs und Modell für dessen «Madonna» (1894/95). Sie rapportiert ihr kurzes Bohème-Dasein – die «Femme fatale» wurde mit 34 Jahren Opfer eines Eifersuchtsdramas – weltgewandt und in gewählt-kultivierter Sprache.
Skandalträchtiges Beziehungsgeflecht
Zum Beispiel Constance Quéniaux: Ob die Tänzerin wirklich Gustave Courbet ihr Geschlecht präsentierte für «L’Origine du monde» (1866)? Einerlei. Clavadetscher jedenfalls geht davon aus und entwickelt, stets aus dem Blickwinkel der Modelle und fast subversiv und entlarvend, ein skandalträchtiges Beziehungsgeflecht zwischen Künstlern und Modellen: Da ist keine Frage, wer wen an die Öffentlichkeit zerrt – «vor aller Augen».
Clavadetscher lässt Constance aus ihrem Leben erzählen – von der Provinz bis zur Pariser Opéra, deren Bühne «das gnadenlose Jagdgebiet der Galanten, der Reichen und Einflussreichen» ist. Sie posiert den Fotografen Nadar, Disdéri und Paul Emile Pesme. Sie ist, im Auftrag des osmanischen Diplomaten und Sammlers erotischer Bilder Khalil Sherif Pascha, Modell für Courbets «L‘Origine du monde» und ebenso für «Le Sommeil» des gleichen Künstlers, wiederum ein Skandalbild, auf dem auch die Irin Joanna Hiffernan zu sehen ist – beide nackt und sich innig umarmend.
Damit nicht genug: Hiffernan ist in Clavadetschers Buch Thema einer weiteren Bildgeschichte: Da zeigt James Abbott McNeill Whistler seine «Muse» und Geliebte aber ganz anders als Courbet – als kühle und steife Schönheit in «Symphony in White» (1862), aber immerhin mit wallender roter Mähne.
Kirchner und «Fränzi»
Zum Beispiel Lina Franziska Fehrmann, Kindermodell Ernst Ludwig Kirchners und anderer «Brücke»-Maler. Martina Clavadetscher lässt «Fränzi», wie die Künstler sie nannten, Jahre später erzählen, wie sie und die ein paar Jahre ältere Marzella (die Identitäten beider sind unklar) die in den Malereien so paradiesisch geschilderten und von der «Brücke»-Literatur lange Zeit verklärten und sicher verharmlosten Sommertage an den Seen um Moritzburg bei Dresden erlebten. Es sind Horrorerinnerungen: «Die Künstler der Brücke taten alles für die freie Kunst. Wollten wie Wilde sein, die Zwänge ablegen, freier malen, besser malen. Ausreden, dreckige, rohe Tiere!»
Ein letztes Beispiel ist Alice Childress: Alice Neel porträtiert die afroamerikanische Dramatikerin und Schauspielerin als stolze Autorin. Clavadetscher gibt Childress einen Monolog, in dem sie ihr politisches Engagement, ihr feministisches Selbstverständnis und ihre Kampfbereitschaft bezeugt: «Lange Wege werden nur bewältigt, indem wir immer weiter gehen», lautet ihr letzter Satz. Auch Alice Childress ist kein namenloses Modell. «Vor aller Augen» ist sie nicht, weil sie einem Künstler zum Erfolg verhilft, der ihren schönen Körper abbildet und öffentlich ausstellt.
Martina Clavadetschers «Vor aller Augen» ist ein undoktrinäres, facettenreiches Buch. Die Autorin schreibt es nicht als Kunsthistorikerin. Sie bringt freimütig ihre Emotionen ins Spiel und gibt den 19 Frauen mit Einfühlung ihre je eigene und ihrem Charakter adäquate Sprache. Es sind zumeist Frauen, die die Entwicklung der Kunst wesentlich beeinflussten, ohne aber in die offizielle Kunstgeschichte Eingang gefunden zu haben. Womit sie sich auch, wohltuend unprätentiös, in aktuelle Debatten über Frauen und Kunst einbringt.
Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. 224 Seiten. Unionsverlag Zürich. 32 Franken