Zu entdecken ist ein Alberto Giacometti (1901–1966) vor jenem Alberto Giacometti, wie ihn die Mehrheit kennt: Das Kunstmuseum in Chur zeigt erstmals das Frühwerk des später weltbekannten Plastikers.
Der Ausstellungstitel «Alberto Giacometti – Porträt des Künstlers als junger Mann» nimmt offensichtlich und auch etwas kokettierend Bezug auf den 1916 erstmals erschienenen Roman «A Portrait of the Artist as a Young Man» von James Joyce. Nun ist Giacometti nicht Joyce und der Vergleich über die Gattungsgrenzen hinweg vielleicht hübsch, aber spekulativ. Es mag hier wie dort um Ablösungsprozesse und Selbstfindung gehen.
Um ein Vergleichen allerdings geht es den Kuratoren Stephan Kunz, Direktor des Museums in Chur, und Paul Müller vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaften, eigentlich nicht. Im Brennpunkt ihrer Arbeit steht schlicht das Entstehen von Alberto Giacomettis Frühwerk bis zum 24. Altersjahr des Künstlers. Resultat ihrer Bemühungen: Dieses Frühwerk ist der Beleg für die erstaunlich reife und breit aufgefächerte Kreativität des heranwachsenden Künstlers. Es hat Bestand für sich selbst und nicht nur als Vorstufe dessen, was Giacometti später zu einem der bedeutendsten Plastiker der europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts werden lässt.
Biotop der Kunst
Ganz aus sich selbst heraus schuf Alberto dieses Frühwerk allerdings nicht. Sein Vater Giovanni Giacometti (1868–1933), selber schweizweit erfolgreicher Vertreter postimpressionistischer Malerei und Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission, fördert ihn nach Kräften, lässt ihm viel Freiheit und geizt nicht mit Ratschlägen für eine gewinnbringende Ausbildung in Genf und später in Paris. Förderung erfährt er auch im Gymnasium in Schiers, das er besucht und kurz vor der Matura wieder verlässt. Er malt mit dem Vater draussen in der Bergeller Landschaft, in Öl oder Aquarell, teils mit gleichem Sujet, was spannende Vergleiche über die Generationen hinweg gestattet, im Kolorit intensiv und expressiv ausbrechend.
Der junge Alberto wächst trotz der Abgeschiedenheit des Bergtals hinein in prominente Kreise des Schweizer Kunstmilieus, in ein eigentliches Kunstbiotop: Giovanni wählt den über die Landesgrenzen hinaus bekannten Cuno Amiet zu Albertos Götti. Später wird Ferdinand Hodler Taufpate des jüngeren Bruders Bruno, des künftigen Architekten. Auch die Mutter Annetta Stampa, aufgewachsen in einem Lehrerhaushalt, ist belesen, gebildet und sprachgewandt. Augusto Giacometti, Cousin zweiten Grades des Vaters, ist ein bedeutender Maler, «Erfinder» eigenständiger Abstraktionsvorgänge und Schöpfer wichtiger Wand- und Glasmalereien, aktiv ausserhalb seiner Bergeller Heimat in Florenz und Zürich.
In seinem intellektuell und künstlerisch geprägten Vaterhaus hat der junge Alberto Zugang zu Kunstbüchern, deren Abbildungen dem Buben die Möglichkeit bieten, sich zeichnend in wichtige Kunstwerke (Dürer, Rembrandt, Joos van Cleve, Mantegna, aber auch Hodler) hineinzudenken. Auch in den Folgejahren verschafft er – in Museums- und Kirchenbesuchen in Italien und später in Paris – seiner Kreativität und seinem kunsthistorischen Wissen ein solides Fundament.
Selbstporträt als Bekenntnis
Die umfangreiche Churer Ausstellung zeigt anhand vieler bisher kaum je gesehener Beispiele – darunter manche Leihgaben aus Privatsammlungen – die Entwicklung des jungen Alberto auf. Am Anfang stehen die erwähnten Kopien und Landschaftsaquarelle von Capolago am Silsersee des 13- und 14-Jährigen. Bald folgen Porträts seiner Brüder Diego und Bruno, seiner Mutter, seiner Mitschüler in Schiers – und immer wieder Selbstporträts.
Ein erstes aquarelliert er mit dreizehn, ein weiteres mit fünfzehn. Da zeigt er sich als selbstbewusster Künstler mit blauer Baskenmütze, mit scharfen Gesichtszügen und direkt und offen den Betrachter fixierenden Augen, als sei er der ägyptische Pharao Echnaton, dessen Bild er in der Bibliothek des Vaters findet. Ein wieder anderes, entstanden 1923 nach manch gezeichneten und gemalten Selbstbildnissen (unter anderen des malenden 20-Jährigen an der Staffelei) wirkt streng symmetrisch und bis auf Hemdkragen und seine linke Gesichtshälfte dunkel, als wolle der 22-Jährige die glühenden Farben der Palette seines Vaters hinter sich lassen und, fast zu streng oder gar altklug, die eigenständige Ernsthaftigkeit seines Künstlertums unterstreichen.
Zeichnend denken
Die Ausstellung unterstreicht die Bedeutung der Zeichnung in Alberto Giacomettis Schaffen schon in dieser Frühzeit. Manifest wird diese Bedeutung in einem Blatt des 16-Jährigen. Es zeigt einen mit Zirkel und Stift hantierenden Buben, der zeichnend denkt. Das Blatt ist darüber hinaus aufschlussreich, was die räumliche Vorstellungskraft des angehenden Künstlers, aber ebenso, was den Einfluss Hodlerscher Ornamentik betrifft – zum Beispiel in der skizzierten Arabeske am unteren Bildrand. Dass Alberto neben all den Kunstwerken der Vergangenheit auch Holders Schaffen rezipiert, zeigt sich in Landschaftsmalereien (Ansichten von Bergen etwa, die mitunter wie Paraphrasen von Hodlers Werken anmuten) oder in Baumstudien. In ornamental wirkenden Zeichnungen zu diesem Sujet zeigt sich die Sensibilität des 17- bis 20-Jährigen im Formulieren seines Raumempfindens.
Manche fein und fast nervös gestrichelten Porträtzeichnungen wiederum deuten schon jene skulpturalen Eigenarten der fluktuierend und porös scheinenden Oberflächen an, mit denen Giacometti im Existenzialismus der Nachkriegszeit berühmt wird. Vielleicht lassen sich hier bereits jene existenziellen Selbstzweifel erahnen, die später das Vollenden seiner Werke – der Figuren wie der Malereien – zum aufreibenden Kampf werden lassen.
Am Ende stehen sichtlich vom Kubismus beeinflusste Selbstbildnisse und Porträtzeichnungen von 1924, entstanden in Paris, sowie Porträtmalereien und blockhafte, wie kleine Monumente wirkende Kopfplastiken des Vaters von 1927 und 1932. Damit wird einerseits die Zeitspanne des «Künstlers als junger Mann» überschritten. Andererseits aber findet hier die Alberto Giacometti mehrfach prägende Beziehung zu seinem Vater einen berührenden Niederschlag – ein Hauptthema der Churer Frühwerk-Ausstellung überhaupt.
Umfangreiche Publikation
Zur Ausstellung erschien eine umfangreiche Publikation mit zahlreichen Abbildungen und Texten zu Alberto Giacomettis Frühwerk bis 1925. Paul Müller zeichnet detailreich und unter Beizug zahlreicher Dokumente und Briefe ein Bild der 25 ersten Lebensjahre des 1901 geborenen Künstlers. Weitere Texte stammen von Christian Klemm, Casimiro Di Crescenzo und Philipp Büttner. Sie beleuchten verschiedene Aspekte von Alberto Giacomettis Frühwerk, so die Beziehung zum Vater Giovanni, die Selbstbildnisse, die frühen Bildhauerarbeiten und die Methode des Sehens. Der Künstler Vaclav Pozarek gestaltete ein Insert «Giovanni Giacometti porträtiert Alberto Giacometti».
«In Erinnerung an Eberhard W. Kornfeld (1923–2023)» notiert Stephan Kunz über seiner Einleitung zum Katalog. Der Berner Galerist, Kunsthändler, Auktionator, Sammler und Kunstvermittler war mit Alberto Giacometti freundschaftlich verbunden, und er bekundete kurz vor seinem Tod am 13. April dieses Jahres sein lebhaftes Interesse am Churer Ausstellungsprojekt.
Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 19. November
Katalog 320 Seiten, 292 Abbildungen, Verlag Scheidegger & Spiess Zürich, 49 Franken